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Das Foto von Nicole Simon zeigt Goethes Handschrift (Gartenhaus in Weimar) im Rahmen ihres Goethe-Bildbandes. - Nicole Simon

„Goethe gibt Orientierung für eigenständiges Denken und Urteilen“

Dass dem so ist, hat vor allem historische Ursachen: So meint der britische Germanist Terence James Reed, mit keinem anderen Nationaldichter sei auch nur entfernt in solchem Ausmaß Unfug getrieben worden wie mit Goethe. Er ist besonders in Deutschland mit vielen negativen Klischees und Vorurteilen behaftet. Einer der Gründe ist sicherlich der jahrzehntelange Goethe-Kult, der dann auch noch Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in nationalistischer Weise ausgenutzt wurde. Aber auch seine Banalisierung – eine ganz andere und spätere Entwicklung – trug sehr dazu bei. Es ist also heute sehr schwierig, Goethe zu propagieren.

Nun, abgesehen davon, dass es Freude macht und sehr interessant, ja spannend ist, kann ich das im Grunde in einem Punkt zusammenfassen: Sich mit seinem Leben, seinen Ansichten und seinem Werk zu befassen, stärkt die innere Freiheit, also die Fähigkeit frei zu denken. Goethe führt insbesondere zu einer gewissen Ideologieresistenz. Und genau diese Fähigkeiten sind heute wichtiger denn je.

Im Zeitalter der Digitalität ist heute kaum noch der Mangel an Informationen das Problem, sondern deren Auswahl und Bewertung. Bildung wird allseits verlangt. Sie ist dabei nicht die reine Sammlung von Informationen, sondern eher die Präsenz relevanter Kenntnisse, verbunden mit der Fähigkeit zur Einordnung im Hinblick auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Es ist, wie Soeren Kierkegaard sagte, dass das Leben zwar nach vorne gelebt wird, aber nach hinten verstanden wird. Wenn dem so ist, betrifft das alle Bereiche aktueller Fragen, in den Naturwissenschaften wie in den Geisteswissenschaften, vor allem auch in den letzteren, weil diese die Erkenntnisse der Naturwissenschaften für das menschliche Leben einordnen.

Er meinte zum Beispiel, alles sei „jetzt ultra, alles transzendiert unaufhaltsam, im Denken wie im Tun. Niemand kennt sich mehr, niemand begreift das Element, worin er schwebt und wirkt, niemand den Stoff, den er bearbeitet. …

Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen; Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Fazilitäten der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren.“

Unsere Zeit hat diese Unsicherheit noch vervielfacht. Es stellen sich Grundfragen der Orientierung, die für die Gestaltung unserer Zukunft entscheidend sind, z. B. gegensätzliche Meinungen zu akzeptieren oder die tendenzielle Widersprüchlichkeit zwischen Freiheit und Gleichheit zu erkennen und damit umzugehen. Oder auch, wie man zu einer selbst gebildeten Meinung kommt, dass dafür die eigene sinnliche Wahrnehmung eine große Rolle spielt, oder wie die Natur und deren Schutz Teil unserer menschlichen und kulturellen Identität sein sollte.

Genau. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass es den beiden Diktaturen in Deutschland, insbesondere dem NS-Regime, kaum gelungen ist, Goethe für sich zu vereinnahmen. Hier zeigt sich besonders seine Ideologieresistenz. Und in Zeiten der moralischen Not kamen die Deutschen zweimal auf Goethe zurück, nämlich nach dem ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg.

Ich hatte in den Jahren davor recht viel über Goethe und ein paar seiner Werke gelesen. Ich stand dann vor der Frage: Was tun, wenn ich diese kulturelle Figur für so wichtig erachte? Ich habe dann erfahren, dass es lokale Goethe-Gesellschaften in Deutschland und in aller Welt gibt. Das fand ich bemerkenswert. Im Grunde ist das zwar eine rund hundert Jahre alte Idee, aber ein hochmoderner Ansatz, gleichsam Partizipation pur, denn in Weimar gibt es zwar eine nationale Goethe-Gesellschaft, aber Bürgerinnen und Bürger können unter deren ideellem Dach, einen davon unabhängigen nur lokal wirkenden Verein gründen, also eine örtliche Goethe-Gesellschaft. Das gibt es meines Wissens so bei keiner anderen kulturellen oder geschichtlichen Persönlichkeit.

Mir und den weiteren Mitgründerinnen und -gründern war dann wichtig, dass wir eine für alle offene Gesellschaft sind, bei uns muss keiner Goethe-Kenner oder -experte sein. Wir wollen gerade diejenigen erreichen, die dem zwar aufgeschlossen sind, aber – eben in Gesellschaft – mehr davon wissen und dies alles fördern wollen. Dafür gehen wir auch manchmal ungewöhnliche Wege, stellen uns auf Plätze, um öffentlich zu informieren und haben ein Programm für Schulklassen, welches seit Jahren von den Schulen sehr nachgefragt ist. Im Lockdown 2020 waren wir auf Instagram besonders aktiv.

Ich mache mir dabei keine Illusionen: Junge Menschen werden meist nicht Mitglied, generell ist es so, dass man die Bedeutung Goethes meist dann besser versteht, wenn man auch persönlich etwas gereifter ist, also so ab 35 Jahren.

Nicht anders, zwar wurde durch eine gute Deutsch-Lehrerin in der Oberstufe ein fruchtbarer Boden für Literatur gelegt, aber die „Entdeckung“ Goethes kam bei mir auch erst wesentlich später. Ich war ab 2000 einige Jahre Vize-Generalsekretär des Deutsch-italienischen Zentrums für Europäischen Dialog VILLA VIGONI am Comer See. Dort weht gleichsam aus kulturhistorischen Gründen der Wind Weimars und auch Goethes. Durch die Lektüre der „Italienische Reise“ Goethes habe ich dann sein reiches Ausdrucksvermögen und seine klugen Betrachtungen kennen und schätzen gelernt, die mich dann veranlassten, mehr über ihn zu erfahren. Besonders beeindruckt haben mich dann die beiden Werke „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ und die „Wanderjahre“. Sie sind angefüllt mit Betrachtungen, die ich für mein Leben und dann auch für die Gesellschaft insgesamt für besonders wichtig erachte und die dabei noch so prägnant formuliert sind. Das ließ mich dann nicht mehr los.

Dr. jur. Jens Bortloff wurde 1967 in Münster/Westfalen geboren. Er studierte Rechtswissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Nach dem Ersten Staatsexamen schloss er 1995 die Promotion mit „summa cum laude“ und besonderer Auszeichnung an der Universität Münster über das völkerrechtliche Thema „Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa - eine völkerrechtliche Bestandsaufnahme“ ab. Das Referendariat absolvierte er in verschiedenen Stationen in Münster und Augsburg. Von 1996 bis 2000 war er Rechtsanwalt in München, spezialisiert auf Wirtschaftsrecht. Seit 2000 ist er im Kulturmanagement tätig. 2000 bis 2006 war er Justitiar und Vize- Generalsekretär des Deutsch-Italienischen Zentrums Villa Vigoni in Italien (Menaggio/Comer See), einer Einrichtung im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Seit 2007 ist er Vizedirektor des TECHNOSEUM, Stiftung Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim und seit 2016 Mitglied im Vorstand des Deutschen Museumsbundes. Vortrags- und Dozententätigkeit über Recht im Museum.

Weiterführende Informationen

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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