Götzen der Gier: Warum wir eine Kultur der Mäßigung brauchen
„Wer den Geist der Gierigkeit hat, der lebt nur in Sorgen, niemand sättigt ihn.“ Goethe
Verschlagen muss heute sein, wer viel Geld machen will, um als Karrierist an sein Ziel zu kommen. Der Preis für Erfolg und Habgier, die von der Rechtswissenschaft als „Rücksichtsloses Streben nach Gewinn um jeden Preis“ definiert wird, hat mit der inneren Währung zu tun: Entseelung und Herzenserkaltung. In seiner Ansprache bei der Begegnung mit der Bevölkerung im „Instituto Jorge Basadre“ in Puerto Maldonado plädierte Papst Franziskus für mehr Nachhaltigkeit und sagte: „Die falschen Götter, die Götzen der Gier, des Geldes, der Macht verderben alles. Sie verderben die Menschen und die Institutionen und sie zerstören auch den Wald. Jesus sagte, dass es Dämonen gibt, deren Austreibung viel Gebet verlangt. Dies ist einer von ihnen.“
Die Gier gehört für die Maßlosen zum Wesen der Evolution: „Sie ist gut, sie ist richtig, sie funktioniert! “, lässt Regisseur Oliver Stone in seinem Klassiker „Wall Street“ (1987) den skrupellosen Finanzinvestor Gordon Gekko (gespielt von Michael Douglas) stellvertretend für die Zocker sagen. Zukaufen und Abstoßen sind hier das neue Monopoly. Sie glauben, am „Wachstum“ der Blasenstory teilzunehmen, doch in Wahrheit nehmen sie nur am Zustrom heißer Luft teil.
Die biblische Todsünde der Habgier lief im Mittelalter mit dem Beginn der Geldwirtschaft der Sünde des Hochmutes den Rang ab. Da sich die Gierigen der eigenen Verantwortung nicht bewusst sind, können sie auch nicht sorgend Anteil am Anderen nehmen. Ihnen geht es nur darum, für die Vermehrung der Geld- und Warenproduktion sowie für die Generierung des Wachstums zu sorgen.
Schon die alten Griechen beschäftigten sich mit der Frage des rechten Maßes, ohne das es weder Anstand, Verlässlichkeit, Ehrlichkeit noch Verantwortung gibt. Aristoteles plädiert für ein Leben nach der rechten Mitte beziehungsweise dem rechten Maß. Auch die „Mutter aller Tugenden“, wie Thomas von Aquin die Klugheit nennt, lehrt den täglichen Dreischritt: abwägen, urteilen, entscheiden. Gerechtigkeit, Mut und Maß begleiten sie. Auf den verratenen Tugenden Mäßigung, Wahrhaftigkeit und Courage gründet auch die Vertrauenskrise. Dabei ist die Maßlosigkeit, nicht die Ungleichheit „in besonderem Umfang der Beitrag der Wirtschaft“, schrieben Uwe Jean Heuser und Robert Leicht bereits vor über zehn Jahren in ihrem ZEIT-Artikel „Es lohnt sich nicht“, in dem sie sich dem Nutzen der Werte widmen. Damit verbunden ist – rückblickend auf die Finanz- und Wirtschaftskrise - die Frage nach Verantwortung, Ehrlichkeit und Integrität, wenn Verantwortliche Transaktionen vornahmen, die sie selbst nicht mehr verstanden, es aber unterließen, Dritten dies zu vermitteln. Die Störungen des globalen Finanzmarktes, die im Jahr 2007 begannen, hatten weltweit ernsthafte Auswirkungen auf viele Unternehmen.
Es müssen deshalb Lösungen angeboten werden, die vor allem in die Lage versetzen, die Fehler der Vergangenheit künftig nicht zu wiederholen. Für die Schaffung und langfristige Sicherung materieller Werte ist die Berücksichtigung ideeller Werte schon immer notwendig gewesen, doch gerade in der Krise rückt dieses Thema wieder verstärkt ins Bewusstsein. Der Dalai-Lama ist davon überzeugt, dass die Gier nach endlichen Dingen nie wirklich befriedigt werden kann: „Statt das menschliche Begehren zu fördern, sollten wir daher die Zufriedenheit kultivieren, weil den Menschen so Enttäuschung und Ernüchterung erspart werden können.“
In einer auf Nachhaltigkeit basierenden Kultur des Versprechens ist ein Vorbild mehr als nur eine realisierte ethische Leitvorstellung. Ein glaubwürdiges Vorbild zu sein bedeutet, Versprechen und Erwartungshaltungen einzulösen. Glaubwürdigkeit entsteht durch die Einheit von Denken, Reden und Handeln – die Grundlage von Vertrauen. Zur Verantwortung gehört der Mut zur (unbequemen) Wahrheit. Alfred Herrhausen zitierte in diesem Kontext gern den Satz der Dichterin Ingeborg Bachmann: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“ Sie ist notwendig, damit Unternehmen sicher gehen können, dass ihre Werte auch wirklich umgesetzt werden. Ansonsten besteht die Gefahr, dass sie lediglich ein Feigenblatt sind und negativ auf das Unternehmen zurückwirken. Verlässlichkeit sowie Treue sich selbst und anderen gegenüber ist eine kleine Münze des Versprechens. Ihr stabiler Kurswert sollte gerade in wirtschaftlich turbulenten Zeiten nicht unterschätzt werden.
Die Playboys des Marktes klopfen sich gegenseitig auf die Schultern und nehmen die Empörung über ihr Verhalten gar nicht mehr wahr, schrieb Norbert Blüm 2006 im Magazin Cicero. Seine Beobachtungen von damals sind noch immer hochaktuell. Denn das Vertrauen in einige Manager und Konzernchefs läuft auch heute aus „wie der Sand aus einer defekten Eieruhr.“ Vertrauen ist hier nicht der Anfang von allem, sondern die Gier: der Januskopf und im besten Wortsinn „Motor“ des Fortschritts, aber eben auch Ursache unseres Absturzes, wie ihn der tschechische Ökonom Tomas Sedlaek in seinem Krisenbuch „Die Ökonomie von Gut und Böse“ (2012) beschrieben hat.
Auch wenn für viele Menschen Gier „das Wesen der Evolution“ ist („Sie ist gut, sie ist richtig, sie funktioniert!“), wie Regisseur Oliver Stone seinen skrupellosen Finanzinvestor Gordon Gekko (gespielt von Michael Douglas) stellvertretend für die Zocker in seinem Klassiker „Wall Street“ (1987) sagen lässt, und Zukaufen und Abstoßen das neue „universale Monopoly“ ist, so geben die Worte von Norbert Blüm auch Hoffnung. Zunächst wirft er einen Blick auf den klassischen Unternehmertyp, der im Zeitalter der großen Entdeckungen auf die historische Bühne trat. Blüm bezeichnet ihn als einen entfernten Verwandten von Christoph Columbus, blendet dabei aber die Rücksichtslosigkeit, Gier und den Narzissmus von Columbus aus, der sich die Erde untertan machte und am Ende seinem Entdeckerdrang erlag.
Gewiss war er ein Pionier (französisch: Wegbereiter, Bahnbrecher), der mit der Entdeckung des amerikanischen Kontinents 1492 das herrschende europäische Weltbild maßgeblich veränderte, durchsetzungsstark, risikobereit und kreativ war und auf althergebrachte Traditionen und Autoritäten keine Rücksicht nahm. Die allgemeine Definition der Wirtschaftstheorie und Innovationsforschung gilt auch für ihn: Ein Pionier ist ein wichtiger Träger des Innovationsprozesses und des Wachstumsprozesses. Allerdings reicht es nicht, „nur“ ein Pionier und der Erste im Markt zu sein und dafür zu sorgen, dass sich Geld- und Warenproduktion fortlaufend vermehren und Wachstum generiert wird. Mit nachhaltigem Wirtschaften hat das nichts zu tun.
Der Beitrag von Norbert Blüm enthält dennoch den Kern des nachhaltigen Unternehmertums, der er auch von Demut getragen wird: Denn ein Unternehmen hat Kunden, Mitarbeitern, Eigentümern und der Gesellschaft zu „dienen“. Gefragt ist, wer als Verantwortlicher diese dreifache Verantwortung managt. „Gott sei Dank gibt es ihn noch, und Gott behüte, dass er zum Auslaufmodell verkümmert.“ Heute sind es vor allem erfolgreiche Unternehmerinnen und Unternehmer des Mittelstands, deren Weitsicht besonders geschätzt wird. Auch unter ihnen gibt es viele Pioniere mit einer nachhaltigen Ausrichtung.
„Es geht um die Einsicht, dass man den Einklang zwischen Wirtschaftlichkeit, sozialen und ökologischen Belangen schaffen kann“, sagt Dr. Katharina Reuter, Geschäftsführerin von UnternehmensGrün, dem Bundesverband der grünen Wirtschaft, dem es um dezentrale Wirtschaftsstrukturen, um die kleinen und mittleren Unternehmen geht, die regional verankert sind und Arbeitsplätze schaffen. Mitglieder sind auch bekannte Pioniere aus der Nachhaltigkeitsbranche wie etwa die GLS Bank, oekom, taz, die memo AG, EWS Schönau oder Naturstrom.
Ein wesentlicher Unterschied zu den reinen „Eroberern“ besteht darin, dass die Gestalter des nachhaltigen Wandels einen ausgeprägten „Anfängergeist“ haben, der mit dem „Grundwahren" des Lebens eng verbunden ist. Dazu gehören auch Mut und ein Gespür für den richtigen Moment, für Menschen sowie die Überzeugung und Sicherheit, dass immer etwas nachkommt, wenn „es“ gerade nicht weitergeht. Der Satz: „Lebe so, als wäre es dein letzter Tag“ gilt für echte Anfänger nicht. Sie leben, als wäre es ihr erster Tag, der mit unendlichen Möglichkeitsräumen verbunden ist, in denen sie sich neugierig, vorurteilsfrei, offen und achtsam bewegen.
Der Begriff „Anfängergeist“ (japanisch: shoshin) ist auf die japanische buddhistische Richtung des Zen rückzuführen. Mitunter wird auch von „Zen-Geist“ gesprochen. Hier gibt es den Gedanken, etwas „erreicht“ zu haben, nicht. Erst, wer nicht daran denkt und sich nicht selbst in den Mittelpunkt stellt, kann als wahrer Anfänger bezeichnet werden. Sie verlieren sich dabei nicht, weil sie das fundamentale Bedürfnis haben, sich zu fokussieren und zu konzentrieren. Damit verbunden sind auch nachhaltige Ent-Scheidungen im Sinne einer Scheidekunst. Sich entscheiden bzw. wählen zu können - auch für oder gegen bestimmte Produkte und für oder gegen eine bestimmte Lebensweise – ist leider auf dieser Welt vielfach noch ein „Luxus“. Viele Menschen können es sich nicht einmal „leisten“, über den Anfängergeist nachzudenken und ihren Weg zu wählen. Und das, obwohl wir heute über alle Mittel und Möglichkeiten verfügen, dies zu ändern, zum Beispiel alle Menschen so zu versorgen, dass sie nicht hungern müssen.
Der schwedische Autor Henning Mankell, der 2015 seiner Krebserkrankung erlag, schreibt in seinem letzten Buch „Treibsand“: „Aber wir haben die Wahl getroffen, dies nicht zu tun. Diese Wahl kann ich nur als ein Verbrechen betrachten. Aber es gibt keinen Gerichtshof, der auf globaler Ebene die Verbrecher anklagt, die die Verantwortung dafür tragen, dass Hunger und Armut nicht mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft werden. Und der uns alle zwingt, uns einzumischen und Verantwortung zu übernehmen.“ Dazu braucht es allerdings bestimmte Persönlichkeitsmerkmale wie selbstreflektive Vernunft, eine positive Einschätzung der eigenen Handlungsfähigkeit, authentisches Verhalten, das mit einem klaren Kommunikationsstil verbunden ist, aber auch Ausdauer, Kontinuität und ein hohes Maß an Resilienz. Denn gerade für die Öko-Pioniere gilt der Satz von Gandhi in besonderer Weise: „Erst belächeln sie dich, dann bekämpfen sie dich und dann folgen sie dir!“
Lars Degenhardt: Pioniere Nachhaltiger Lebensstile. Analyse einer positiven Extremgruppe mit bereichsübergreifender Kongruenz zwischen hohem nachhaltigen Problembewusstsein und ausgeprägtem nachhaltigen Handeln. Dissertation. Kassel 2006: kassel university press.
Inga Heckmann: Von der Kunst Yoga & Achtsamkeit im Alltag zu leben. Irisiana Verlag, München 2015.
Martin Kleene/Gregor Wöltje/Tina Teucher: Externe Kommunikation und Nachhaltigkeitsbericht. NWB Verlag, Herne 2016.
Henning Mankell: Treibsand. Was es heißt, ein Mensch zu sein. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2015.
Georg Schweisfurth, Christine Koller: NACHHALTIG LEBEN FÜR ALLE. Irisiana Verlag, München 2015.
Tomas Sedlaek: Die Ökonomie von Gut und Böse. Carl Hanser Verlag, München 2012.
Claudia Silber und Alexandra Hildebrandt: Gut zu wissen... wie es grüner geht: Die wichtigsten Tipps für ein bewusstes Leben. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.
Claudia Silber und Alexandra Hildebrandt: Mobilität und Logistik: Richtige Wege, die nicht aufs Abstellgleis führen. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2018.
Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.