Greifbares Glück: Gärtnern und nachhaltig leben
Je schwieriger die Zeiten, desto größer ist das Bedürfnis, geerdet zu sein und einen greifbaren Bezug zur unmittelbaren Umgebung herzustellen, die sich mit den eigenen Händen bearbeiten lässt. Im Garten schauen Menschen nur selten aufs iPhone und genießen es, die Natur wachsen zu sehen. Aktuell befindet sich Deutschland im dritten Lockdown, der mit stark eingeschränkten Sport- und Freizeitaktivitäten verbunden ist. Die Hochschule Geisenheim hat untersucht, welche Bedeutung Gärten und Grünanlagen während des ersten Lockdowns im Frühsommer 2020 erlangt haben. Dafür wurden Ende Mai 495 Personen aus allen Bevölkerungsgruppen, d.h. anteilig nach Alter, Geschlecht, Einkommen und Region befragt.
Die wichtigsten Ergebnisse:
Befragte mit eigenem Garten (53 Prozent) sind im Durchschnitt zufriedener mit ihrem Leben.
Für 75 Prozent der Gartenbesitzerinnen und -besitzer ist der Garten eher wichtig oder sehr wichtig ist. Bei Personen ohne eigenen Garten haben die öffentlichen Grünanlagen eine ähnliche Bedeutung.
Für drei von vier Befragten war das Frühlingswetter ein Grund für den vermehrten Aufenthalt im Garten. Über die Hälfte der Befragten nannte auch Corona-bezogene Gründe (Kontaktsperre, Einschränkung von Freizeitmöglichkeiten).
Durchschnittlich halten sich alle Befragten ca. neun Stunden pro Woche im Freien für Erholung und Sport auf. Gartenbesitzer sind insgesamt fast doppelt so lange draußen. Häuser mit Garten haben eine deutlich kürzere Verweilzeit in Immobilienportalen als Wohnungen ohne Balkon bzw. Garten.
Mit dem Garten schafft sich der Mensch auch eine eigene Ordnung und Schönheit, die sich der Tätigkeit des ständigen Kultivierens, der guten Pflege, verdankt.
Die Kultivierung der Natur ist ein ständiger Auswahlprozess, der sachkundiger Entscheidungen bedarf. Für den tschechischen Schriftsteller Karel Capek, der 1929 das Buch „Das Jahr des Gärtners“ schrieb, waren die Kultivierung des Erdbodens und die Kultivierung des Geistes wesensgleich. Was für den Boden gilt, lässt sich auch übertragen auf die Gesellschaft und die Kultur als Ganzes. Die Natur sollte so genutzt werden, dass ihr kein Schaden zugefügt wird. „Das kann kaum funktionieren, solange wir fortfahren, Natur und Kultur nur als Gegenspieler zu sehen“, schreibt der amerikanische Journalist Michael Pollan in seinem Buch „Meine zweite Natur“. Claudia Silber, die beim Ökoversender memo in Greußenheim die Unternehmenskommunikation leitet, verbindet mit dem Gartenthema auch eine Rückbesinnung auf alte Werte und „die Suche nach einem Ort, an dem man sich wohlfühlt, sich selbst und Ruhe finden kann“. Damit verknüpft sind für sie auch folgende Aspekte:
Erleben von Selbstwirksamkeit
Stärkung des Selbstwertgefühls und der Selbstkompetenz
Förderung handwerklicher Fähigkeiten (Handlungsfähigkeit) und der Gemeinschaftsbildung
verantwortliches gemeinschaftliches Handeln
Ressourcenorientierung
Selbstversorgung.
Das Anbauen und Verarbeiten von Lebensmitteln ist für sie auch eine spürbare Auseinandersetzung mit der Basis existenziell notwendiger menschlicher Daseinsfürsorge. Denn „durch zahlreiche Lebensmittelskandale besinnen sich viele Menschen wieder auf sich selbst und ihre Fähigkeiten. Sie verlassen sich nicht mehr auf die Versprechen von Lebensmittelanbietern und Unternehmen. Dabei ist es egal, ob es der heimische Garten mit Eigenheim ist oder nur wenige Quadratmeter auf dem Balkon oder auf dem Dach“, so Silber.
Nachhaltigkeit bedeutet auch eine Rückkehr zu alten Methoden
Seit 2015 betreibt Eva-Maria Hoffleit, eine leidenschaftliche Hobbyköchin, die ihr Obst und Gemüse am liebsten selbst anbaut, zusammen mit ihrem Partner Philipp Lawitschka den Blog "Ye Olde Kitchen" (frei übersetzt: die alte Küche). Sie wählten diesen Namen, weil er ihre Art zu Kochen sehr gut widerspiegelt (Hausmannskost oder "wie bei Omma"). Philipp Lawitschka arbeitet als selbstständiger Softwareentwickler – den Ausgleich zum technischen Beruf findet er beim Kochen und im Garten. In ihrem Blog schreiben sie über saisonales Kochen, Gärtnern und Nachhaltigkeit. Präsentiert werden Rezepte, Garteneinblicke, Selbstgemachtes und Reiseeindrücke. Ein möglichst nachhaltiger Umgang mit unserer Umwelt bedeutet für sie, im Kleinen anzufangen, „unnötigen Müll zu vermeiden, Wasser zu sparen und lieber einen dickeren Pullover anzuziehen, anstatt die Heizung auf ‚volle Pulle‘ zu drehen.“ Regional einzukaufen und saisonal zu kochen ist ihnen dabei besonders wichtig. In ihrer Heimat, dem Remstal bei Stuttgart, sind sie umgeben von Weinbergen, Streuobstwiesen und kleineren Produzenten, denen sie vertrauen und bei denen sie gern einkaufen.
In ihrem gleichnamigen Buch „Ye Olde Kitchen – Kochen, gärtnern, nachhaltig leben“ vermitteln sie das altbewährte Wissen über saisonales und regionales Einkaufen, Haltbarmachen, Lagerung, Müllvermeidung, Kochen ohne Zusätze, Rezeptideen, nachhaltige Alltagstipps und Anleitungen für kleine Gartenprojekte auf dem Fensterbrett, Balkon oder Garten. „Die Fülle des Sommers wird eingekocht, im Winter gibt es warme rote Grütze statt afrikanischer Erdbeeren aus dem Discounter.“ Das ist für sie mit Arbeit und zuweilen auch mit Verzicht verbunden. Doch sie investieren ihre freie Zeit gern in solche Dinge, denn sie sind ihnen wichtig. „Wir sind keine Heiligen. Manchmal lassen sich gewisse Dinge nicht vermeiden. Wir sind auch keine Oberlehrer, die andere ständig auf für uns falsche Handlungsweisen aufmerksam machen wollen.“ Sie möchten zeigen, dass es nicht schwer ist, für das eigene alltägliche Handeln Verantwortung zu übernehmen – und dass Menschen, die gärtnern, zufriedener sind.
Weiterführende Literatur:
Eva-Maria Hoffleit und Philipp Lawitschhka: Ye Olde Kitchen – Kochen, gärtnern, nachhaltig leben: Altes Küchenwissen neu entdecken. Südwest Verlag, München 2021.
Melanie Groß: Und plötzlich gärtnern alle. Theoretische, konzeptionelle und methodische Perspektiven für Gardening und Commons in der Jugendarbeit. Oekom, München 2016.
Michael Pollan: Meine zweite Natur. Vom Glück, ein Gärtner zu sein. Aus dem Amerikanischen von Eva Leipprand. Oekom Verlag München 2014.
Claudia Silber und Alexandra Hildebrandt: Gartenzeit: Wie wir Natur und Kultur wieder in Gleichklang bringen. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.