Haben traditionelle Werte ihren Einfluss heute eingebüßt?
Wurde die Wirtschaft früher von familienorientierten und persönlich verbundenen Unternehmern zusammengehalten, so müssen wir schon lange mit anonymen Eigentümern und fachfremden Managern leben, die statt einer ethischen Lehre eine „Werteleere“ um sich verbreiten.
Doch steckt hinter alledem ein Missverständnis? Es sind uns keine traditionelle Werte verloren gegangen – vielmehr haben wir es mit den falschen Werten zu tun. Die Wertleere ist nichts anderes als das Gefäß, in welchem sich egoistische und materielle Wertvorstellungen sammeln. Im Kontext der gesellschaftlichen Notwendigkeiten und des menschlichen Zusammenhalts wirken diese Gefäße auf uns leer.
Wer nur ans Geld denkt, wenn er arbeitet, verliert den Status des Zoon Politikon – des aktiven Mitmenschen, der als gemeinsam handelnde Menge die Gesellschaft konstituiert. Die Gegenwart ist häufig gekennzeichnet durch die Trennung von Körper und Geist, was im Mittelalter völlig unbekannt war und heute längst vergessen scheint. Damals wurde nicht zwischen Tätigkeiten unterschieden, die sich in Geldwert messen lassen, und Arbeiten, die nur der Seele dienen. Heute würden wir so etwas vielleicht „emotionale Produktion“ nennen. Dazu gehören beispielsweise die Pflege von Familienangehörigen oder Nachbarn sowie sie Vielzahl ehrenamtlicher Arbeiten in Vereinen und sozialen Einrichtungen – all diese Bemühungen Einzelner werden weder bezahlt noch sonst wie ökonomisch quantifiziert.
In jedem Menschen sind Anlagen vorhanden, mehr Gemeinsinn zu entwickeln, denn voran kommen wir in Wirtschaft und Gesellschaft nur mit einem Pro und nicht mit einem Anti. Engagement sollte ein Grundzug im Leben jedes Einzelnen sein. Es geht (auch) um Lebenssinn, den Geld allein nicht stiften kann. Sinn in der eigenen Arbeit zu sehen, ist bedeutender als der persönliche Profit. Gierige Menschen sind nicht mehr als alle anderen, die jedem Sonderangebot nachrennen. Sie tragen dieselbe Brille, durch die sie ihren Vorteil sehen. Aber sie kennen ihre Flughöhe nicht mehr. Für sie ist die Erde so tief, dass sie kein menschliches Detail mehr erkennen können.
In der Psychoanalyse sind sie als Nachfolger des Narzissmus bekannt: Der Jüngling im antiken Mythos fand sich selbst so großartig, dass er sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte. Der errungene Status macht Manager oft größer als sie wirklich sind. Sie haben nicht gelernt, genau hinzuschauen, was sich unter ihnen befindet und wohin sie treten können. Einige sind sehbehindert und/oder haben zu große Schuhe. Dann laufen sie Gefahr, den Boden unter ihren Füßen zu verlieren und erkennen nicht, dass sich Macht, die sie sie ausüben, auch verbraucht. Wenn Menschen glauben, die Größten und unfehlbar zu sein, passiert meistens etwas, das sie wieder Demut lehrt – im Sinne von Dankbarkeit und Zurücknahme des eigenen Egos. Es ist wichtig, dass sie sich die Frage stellen, wie sie mit der Macht umgehen, die ihnen gegeben wurde, wie sie ihre persönliche Abkapselung beseitigen oder ihren störenden Narzissmus. Manager und Führungskräfte definieren sich heute noch immer häufig über ihren Status und ihre Macht. Häufig versuchen sie, den selbst verursachten Druck zu verdrängen. Doch in Ruhephasen kollabiert ihre Seele oft.
Im Zentrum sollte deshalb die Erkenntnis eigener Schwächen sowie die mögliche Umformung dieser Schwächen in Stärken durch gedankliche Analyse, Meditation und/oder Atemübungen stehen. Sie sollten sich darauf konzentrieren, ganz bei sich zu sein ohne den Gedanken: „Ich bin nur etwas, wenn ich etwas tue.“ Das ist auch eine wichtige Voraussetzung dafür, die eigene Macht demütig und respektvoll auszuführen. Macht im Sinne von "machen" ist einer guten Führungskraft, der es nie um Geld als einzige Motivationsquelle geht, wichtig, denn sie weiß, dass sie ohne Macht im übertragenen Sinne "ohnmächtig" sein würde. Dabei geht es auch um ein differenzierendes Erkennen von „Haben“ und „Sein“ im Frommschen Sinne: die kumulative Eigenschaft von Sein und die „verbrauchende“ Eigenschaft von Haben sowie deren Anwendung bei der Persönlichkeitsentwicklung. Alles Haben verbraucht sich, weil es materiell ist - alles Sein wächst, weil es geistige Kraft ist. Auch möchten die meisten Menschen heute das Gefühl haben, dass sie mit ihrer Tätigkeit zu einem bestimmten Zweck beitragen. Für die antiken Philosophen war ein glückliches Leben ein solches, das sich am Guten orientiert. Nicht Geld, Macht und Ruhm waren der Königsweg zu einem gelingenden Leben, sondern ethisches Verhalten, ja das Erkennen selbst wurde als Form des Glücks bestimmt.
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