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iStock / Getty Images Plus

Hartz IV-Diskussion: von Abstiegsängsten und Aufstiegsfrust

Robert Habeck und Hubertus Heil haben sich bereits dafür ausgesprochen: Hartz IV steht offenbar vor der Ablösung. Eine große Sozialstaatsreform ist angesichts der gesellschaftlichen und technologischen Umbrüche in der Arbeitswelt tatsächlich geboten. Doch die derzeit angeführten Argumente sind populistisch, denn sie treffen die eigentlichen Ursachen und politischen Versäumnisse nicht. Der Befund, der zu diesem Ansinnen führt, ist nicht zutreffend, und zwar aus zwei Gründen: Er verkennt die Bedeutung von Arbeit und missversteht die Forderung nach sozialer Sicherheit.

Was ist und bedeutet Arbeit?

Digitalisierung und insbesondere Robotik und Künstliche Intelligenz werden fast alle Berufe vermutlich sehr schnell verändern. Doch Arbeit geht uns nicht aus, sondern unser Begriff von Arbeit muss vielmehr umgedeutet werden. Arbeit ist nicht nur wert-, sondern auch sinnschöpfend. Die Erwerbsgesellschaft aufzugeben, wäre extrem gefährlich. Sie bietet Orientierung, Halt und Partizipation. Dass sich Berufe ändern, ist nichts Neues. Kein Beruf vor fünfzig Jahren existiert heute unverändert fort. Die oft zitierte Oxford-Studie von Frey und Osborne, der zufolge fast 60 Prozent der heutigen Arbeitsplätze innerhalb weniger Jahre bedroht sind, hat das auch nie behauptet. Sie werden nicht einfach wegfallen, sondern durch neue, veränderte Berufe und Berufsbilder substituiert. Gleichwohl ist es in der Geschichte der Arbeit infolge von technologischen Umbrüchen und wirtschaftlichem Strukturwandel oft zu einer Prekarisierung breiter Schichten der Bevölkerung gekommen. Um das zu verhindern, braucht es aber kein Garantie- oder Grundeinkommen, weil es dafür auch keine Lösung bietet. Vielmehr braucht es ein Bildungssystem und einen Sozialstaat, die schneller und individualisierter helfen, den unvermeidliche Wandel der Gesellschaft und insbesondere in der Arbeitswelt zu begleiten. Aber auch Betriebe sind auf mikroökonomicher Ebene gefordert, heute schon Formen interaktiver Mensch-Maschine-Kollaborationen zu entwickeln. Es wird sich schnell zeigen, dass diese zum Nutzen von Unternehmen und Arbeitnehmern sein können.

Was ist und bedeutet soziale Sicherheit?

Auch der zweite Teil des Befundes, der die Ablösung von Hartz IV fordert, ist zwar nicht falsch, aber in einem wesentlichen Punkt unvollständig. Die Menschen haben heute nicht, wie derzeit fast ausschließlich diskutiert wird, soziale Abstiegsängste. Auch wenn diese natürlich vielfach existieren und ernst genommen werden müssen. Aber sie sind nicht die wichtigste Ursache der politischen Unzufriedenheit. Es handelt sich eher um ein Gefühl der Unfairness und des Aufstiegsfrusts, das sich breit gemacht hat. Die soziale (Aufstiegs-) Frage stellt sich heute anders als früher über weite Teile der Bevölkerung, denn etwas Entscheidendes ist verloren gegangen: die Vermögensbildungsperspektive, das Urversprechen der Sozialen Marktwirtschaft. Es ist weniger die Einkommensverteilung selbst, die Verdruss oder Ängste schürt. Sondern die empfundene und tatsächliche Unmöglichkeit für viele Haushalte bis hoch in die Mittelschicht hinein, substanziell Vermögen zu bilden. Aber Vermögen zu bilden, verleiht wahrscheinlich mehr soziale Sicherheit als ein garantiertes Mindesteinkommen. Doch genau daran hapert es. Viele jüngere Menschen erben heute Vermögen und sind sofort in der Lage, dieses zu mehren. Fast alle anderen haben kaum welches und sehen nicht, wie sie welches bilden können. Selten war zukünftige Vermögensbildung so stark von bestehendem Vermögen abhängig wie heute. Eine Gesellschaft aber, die keine Aufstiegsperspektive vermittelt, ist eine, in der Menschen anfangen, sich zu vergleichen. Das schürt Neid und Missgunst. Die Ambitionen einer eigenen besseren Zukunft geraten in den Hintergrund. Das ist gefährlich, denn Zukunftsoptimismus in der Gesellschaft ist eine gerade jetzt erforderliche gestaltende und konstruktive Kraft für Wandel und Erneuerung.

Über ein Ende von Hartz IV lässt sich streiten. Aber eine Alternative dazu sollte die wahren Ursachen der derzeitigen Probleme besser adressieren. Das ist mit einem bloßen Garantieeinkommen nicht gegeben. Nicht die Utopien der Arbeit, sondern ihr Alltag und ihre Bedeutung für Menschen und deren Hoffnungen sollten in den Blickpunkt rücken. Dafür ist es notwendig, die Bildungs- und Sozialpolitik (sowie die Steuerpolitik) auf weite Teile der Bevölkerung zu richten.

Prof. Dr. Henning Vöpel schreibt über Weltwirtschaft, Digitalökonomie

Professor für Volkswirtschaftslehre an der BSP Business and Law School sowie Direktor des Centrum für Europäische Politik in Berlin, Rom und Paris, Podcaster zur Digitalisierung und internationaler Keynote-Speaker, Forschung zu Globalisierung und Transformation.

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