Heimat 21.0: Herkunft und Ankunft
Was ist Heimat?
Für Goethe war Heimat mit der Vorstellung verbunden, dass sie kein fester Ort ist: Er verließ Frankfurt, um an den Weimarer Hof zu gehen und von dort weiter nach Rom zu reisen. Er war ein Weltbürger, brauchte aber physisch einen überschaubaren Raum, ein vertrautes Umfeld, zu dem er immer wieder zurückkehren konnte. Auch wenn sein Wirkungskreis sehr weit ausgedehnt war – ohne seine Nischen und einen vertrauten sozialen Raum hätte er seine Kreativität und seine Identität verloren. Auch Philipp Riederle, der stellvertretend für die Generation Y steht, liebt seine schwäbische Heimat Burgau genauso wie seinen Geburtsort München: „Sie haben sicher ihre Spuren hinterlassen. Im globalen Dorf aber verwischen sie: Moskau und New York liegen direkt neben Burgau, das Museum of Modern Art kann ich genauso besuchen wie das Ulmer Münster.“ Dabei ist es ihm wichtig, immer wieder einen engen Bezug zu seiner unmittelbaren Umgebung herzustellen – eine Kultur der Nähe.
• In Zeiten fortschreitender Mobilität und schwindender Sesshaftigkeit brauchen wir für unsere Identität eine Positivbewertung des Begriffs Heimat, der auch für Authentizität und Regionalität steht.
• Je weiter wir reisen (und in virtuellen Welten surfen), desto mehr wollen wir geerdet sein. Identität braucht Begrenzung, Geborgenheit und eine Konstante im Leben.
• Innere und äußere Stabilität, die mit Freundschaften und familiären Bindungen einhergeht, benötigt einen sinnerfüllten Lebensraum, der nicht in der virtuellen Welt zu finden ist.
• Die Verankerung in einer lokalen Gemeinschaft (die auch wechseln kann) ist wichtig, weil wir zwar global kommunizieren und unterwegs sind, aber nicht im Globalen wohnen können.
• Die Fähigkeit, Räume langsamer zu durchschreiten (bewandert statt erfahren sein) ist wichtig, weil es nicht nur darum geht, physisch von A nach B zu kommen, da auch die Seele mitreisen muss.
• Erst der lokale Bezug zu bestimmten Kontexten, die an vielen Orten mit internationalen Aktivitäten vernetzt sind, macht Engagement authentisch und nachhaltig.
Wie wollen wir leben?
Das Thema Heimat wirft weitere gesellschaftspolitische Fragen auf: Wie wollen wir leben? Was ist ein gutes Leben? Diese Frage aus Paolo Coehlos Buch „Die Schriften von Accra“ ist für Arianna Huffington, Journalistin und Gründerin der Huffington Post, zugleich eine persönliche Frage, die unser aller Frage sein sollte. Heimat und Zeitgeist gehören für sie zusammen: Die Menschen können zwar nicht im Internet wohnen, aber sie gehen hier auf Sinnsuche. Dabei ist es wichtig, nicht nur über das zu schreiben, was nicht funktioniert, sondern auch über das, was positiv läuft, damit sich das Gute multipliziert. „Gut geht anders“ heißt beispielsweise das Buch von Johannes Gutmann, der 1988 das Unternehmen SONNENTOR gründete, das sich vom Einmannbetrieb zum internationalen Bio-Unternehmen mit Standort in Sprögnitz bei Zwettl entwickelte. Es verbindet den gesellschaftlichen Wertewandel mit seinem Erfolgskonzept: „Die Menschen haben die Orientierung verloren. Sie sehnen sich wieder nach etwas, was wohl am besten mit den Wörtern ‚Heimat‘ und ‚Vertrautheit‘ beschrieben werden kann. Und die suchen sie jetzt. Wer klug ist, der versucht, den Menschen diese Sehnsucht weitestgehend zu erfüllen.“ Vor allem Onlinemedien greifen dieses Bedürfnis auf und reagieren verstärkt auf den „Zeitgeist“. Dazu gehört auch das Internetportal „myheimat“, für das auch viele Digital Natives schreiben.
Für viele Menschen ist Heimat dort ist, wo ihre Familie ist. Vor allem für die 14- bis 29-Jährigen sind Freunde sehr wichtig. Der Modedesigner Wolfgang Joop beschreibt in seinem Buch „Im Wolfspelz“, dass sich der Protagonist nach Heimat als einem Ort sehnt, wo sich jemand auf ihn freut. Auch hier gilt: "Home is where your heart is". Heimat ist für ihn auch Landschaft, verwachsen durch Zeit, sie ist ein Wechselspiel subtiler Veränderungen des Alltags, Kleiderwechsel der Natur, Ausdrucksform der Stille und Regeneration, aber auch Herkunftsort und Glück: „Ich will keine Reisen mehr, nicht mehr flüchten, nichts mehr entdecken. Ich bin sozusagen auf meiner letzten Tour – zu mir.“ Nachhaltigkeit und Glück haben demnach eines gemeinsam: beide sind um ihrer selbst willen erstrebenswert und immer persönlich.
Heimatsehnsucht war besonders in Deutschland leider immer wieder mit politischem Sprengstoff verbunden. Positive Heimatgefühle haben allerdings mit der „Blut und Boden“-Ideologie nichts zu tun. Lange war der Begriff verpönt. Das Heimatbuch (der Begriff tauchte erstmals 1904 auf) als geschichtskulturelle Schriftenklasse wurde im 20. Jahrhundert zu einem Massenmedium. Heute ist der Begriff Heimat auf den Titelblättern auflagenstarker Zeitschriften zu finden und ein bekannter Agenturname, der mit der Sinnfrage „Was uns antreibt“ verbunden ist.
Lokalgeschichten im Dialekt wie „Der Bergdoktor“ erleben auch im TV ein Revival
Für die ARD-Krimireihe „TATORT“ hat das Regionalprinzip seit Beginn des Sendeformats im Jahr 1970 eine zentrale konzeptionelle Bedeutung. Auch in Rosenmüllers Heimatfilm „Wer früher stirbt, ist länger tot“ (2006) wird ein Fokus auf das Heimische und Heimelige gesetzt. In Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung identifizieren sich immer mehr Menschen mit regionalen Problemen. Das weisen auch die Herausgeber Magdalena Marszałek, Werner Nell und Marc Weiland in ihrem Sammelband „Über Land“ nach, der sich aktuellen literatur- und kulturwissenschaftlichen Perspektiven auf Dorf und Ländlichkeit widmet. Gezeigt wird, dass derzeit eine gewisse Konjunktur der Dorfgeschichten und Provinzromane zu beobachten ist. Zudem bietet es viele Beispiele, wie Dörfer überleben können, wenn sie nicht stagnieren, sondern Impulse aufnehmen, weiterdenken und weitermachen.
Für das Comeback der ländlichen Regionen sprechen demografische, nachhaltige und technologische Gründe, denn die Digitalisierung macht Leben und Arbeiten hier für mehr Menschen möglich. „Wir leben in der Heimat, überblicken aber einen weiten Horizont. Aufs Land ziehen ist kein Umzug mehr zurück in die Provinz, sondern nach vorne in die Zukunft“, sagt Daniel Dettling, Gründer des Thinktanks „re:publik – Institut für Zukunftspolitik“.
Weiterführende Informationen:
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Von Lebensdingen: Eine verantwortungsvolle Auswahl. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.
Susanne Lang: Ziemlich feste Freunde. Warum der Freundeskreis heute die bessere Familie ist. Susanne Lang & Blanvalet Verlag in der Verlagsgruppe Random House, München 2014.
Magdalena Marszałek, Werner Nell, Marc Weiland (Hg.): Über Land. Aktuelle literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Dorf und Ländlichkeit. Transcript Verlag, Bielefeld 2018.
Daniel Dettling: Stadt, Land, Flucht? In: DIE ZEIT (24.5.2018).