Herbert Diess gerät unter Druck: Kritik an VW-Softwareeinheit Cariad wächst
Bei der Software-Einheit muss der Konzernchef schnell Ergebnisse liefern, sein Schicksal ist eng mit der Performance des Bereichs verbunden. Doch bei Cariad läuft es nicht rund.
Anfang des Jahres machte Herbert Diess die neue Softwareeinheit Cariad zur Chefsache. Der Volkswagen-Chef übernahm die operative Aufsicht von Audi-Chef Markus Duesmann. Cariad ist schließlich verantwortlich für die wichtigsten Zukunftsgeschäfte in der Automobilindustrie: der Entwicklung der zentralen Software für das eigene Auto-Betriebssystem und das automatisierte Fahren.
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Seitdem hängt an Cariad nicht nur der künftige Erfolg von Volkswagen. Sie ist wohl auch die letzte Bewährungsprobe für Diess persönlich. „Ich erwarte, dass die Arbeit jetzt gut vorankommt“, mahnte Konzernbetriebsrätin Daniela Cavallo zuletzt noch an.
Nach rund 100 Tagen fällt die Zwischenbilanz aber ernüchternd aus: Markenegoismen, nicht haltbare Zeitpläne und der Abgang von Topmanagern und Mitarbeitern prägen noch immer das Bild bei Cariad. Der 63-Jährige gerät unter Druck.
VW: Softwareeinheit Cariad laut Kritikern „überfordert“
Im Unternehmen und in der Branche häufen sich kritische Stimmen. Der Softwareplan von Volkswagen wirke überambitioniert, die Softwareeinheit überfordert, sagt der Manager eines großen deutschen Autozulieferers, der in regelmäßigem Austausch mit Cariad steht. „Es ist eine Mammutaufgabe für Volkswagen und Herbert Diess“, bemerkt er.
Der steht nach der jüngsten Auseinandersetzung mit den Arbeitnehmern im November vergangenen Jahres unter Beobachtung. Der VW-Chef kündige zwar stets viel an, setze aber zu wenig um, kritisieren Arbeitnehmervertreter in Wolfsburg, allen voran Betriebsratschefin Daniela Cavallo. „Die Arbeitnehmer haben den letzten Herbst noch nicht vergessen“, sagt ein Konzernmanager. Mit seinem Vorstoß, am Stammsitz in Wolfsburg bis zu 35.000 Stellen streichen zu wollen, hatte Diess den Konflikt mit den Betriebsräten provoziert. Bei Cariad soll Diess nun zeigen, was er kann.
Cariad äußert sich nicht zu Vorwürfen, die aus der Branche kommen. Diess' Vorgänger bei Cariad, Audi-Chef Duesmann, ist zumindest um Zuversicht bemüht. „Wir sind groß genug, das zu stemmen“, sagt er mit Blick auf die Softwarebestrebungen bei VW.
Um sich auf die Softwareentwicklung konzentrieren zu können, hat der VW-Chef sich aus allen anderen operativen Bereichen zurückgezogen. Im Sommer gibt er die Führung der Volumengruppe (Volkswagen, Skoda, Seat) ab.
Diess‘ Vertrag als Konzernchef läuft bis Herbst 2025, dann muss die umfassende Softwarestrategie umgesetzt sein. Bringt er Cariad nicht rechtzeitig voran, wird es für ihn wieder ungemütlich.
„Diess muss hier jetzt liefern. Daran wird er selbst gemessen, gerade auch im Aufsichtsrat“, sagt Stefan Bratzel, Professor am Center of Automotive Management (CAM) in Bergisch Gladbach. Nicht nur die Arbeitnehmer müsse er überzeugen, sondern auch die Eigentümerfamilie Porsche-Piëch.
Konkurrenten von Volkswagen sehen Cariad kritisch
Bei Konkurrenten wird die Gründung der großen eigenen Softwaretochter bereits hinterfragt. Ford-Chef Jim Farley sagte zuletzt im Handelsblatt, dass ein Autohersteller das Softwaregeschäft anders betreiben würde, wenn man „wirklich davon überzeugt wäre, dass sich die Automarken künftig durch die Software unterscheiden“. Das dürfte auch ein Grund dafür sein, dass Ford bei der Elektromobilität zwar gern mit VW zusammenarbeitet, bei der Software aber lieber auf das Google-System Android Automotive vertraut.
Ein Scheitern der deutschen Hersteller sei unvermeidlich, sagt Jan Becker. Der Chef von Apex.AI muss das sagen, seine Firma entwickelt ein eigenes Betriebssystem für Autos. Aber er kennt sich aus in der Szene und Technologie.
Wenn die Eigenentwicklungen von Mercedes, VW oder BMW wie geplant 2025 fertig sein sollen, so Becker, dann müssten sie bereits in diesem Jahr die Basissoftware fertigstellen – um genug Zeit für die Entwicklung von Apps und für Systemtests zu haben. „Es gibt keinen deutschen Hersteller, der die Basissoftware auch nur ansatzweise fertig hat“, sagt er.
Ein Autosoftwareexperte berichtet von „hochgradiger Nervosität“ bei VW. Ein weiterer Berater beschreibt die Situation ungeschminkt – und will daher ebenfalls seinen Namen nicht genannt haben. „Das ist die größte Baustelle, die VW hat“, sagt er. Ein Mischmasch von Kulturen verschiedener VW-Marken und Kooperationspartner wie Microsoft erschwerten die Umsetzung: „VW behandelt Software genauso wie ein Blechteil. Es ist eine Riesenbombe.“
Zwei Jahre nach der Gründung fehlen bei der Cariad noch immer Entwickler und der Zusammenhalt unter den rund 5000 Beschäftigten gestaltet sich schwierig. Für die neue Tochter waren Softwareexperten von Volkswagen, Audi und Porsche zusammengezogen worden. Außerdem hat Cariad durch verschiedene Akquisitionen Hunderte weiterer Beschäftigter in das neue Softwareunternehmen hineingeholt.
Dadurch geraten Zeitpläne durcheinander. Das ursprünglich für 2024 avisierte Projekt „Artemis“, bei dem Fahrzeuge von Audi mit den ersten Softwareinnovationen von Cariad ausgestattet werden sollten, kommt aller Voraussicht nach erst gegen 2025 auf den Markt.
VW hat größere Software-Ambitionen als Mercedes und BMW
Abgänge von wichtigen Topmanagern machen die Aufgabe für Diess nicht einfacher. So hat Anfang April mit Thomas Mueller einer der versiertesten Spezialisten für die Entwicklung automatisierter Fahrfunktionen den Autobauer verlassen. Rund 18 Jahre hat es Mueller bei Audi ausgehalten, bei Cariad haben ihm offenbar zwei Jahre gereicht. Der gebürtige Brasilianer arbeitet jetzt für Jaguar Land Rover.
Auch auf der unteren Ebene kämpft Cariad mit Abgängen. „Wir können uns vor Bewerbungen von Cariad kaum retten“, sagt der Chef eines deutschen Softwarehauses. Es klopfen so viele VW-Entwickler an, dass man „sich die Besten raussuchen kann.“
Volkswagen hat verglichen mit den deutschen Konkurrenten Mercedes und BMW den mutigsten Weg bei der Softwareentwicklung eingeschlagen. Wesentliche Bestandteile des Auto-Betriebssystems will VW selbst entwickeln. Bei der Software für das automatisierte Fahren lässt sich der Autobauer noch von Bosch helfen.
VW will künftig noch weiter gehen. Der Autobauer prüft derzeit auch Bestandteile der Hardware selbst zu entwickeln. Darunter könnte unter anderem auch das Chipdesign fallen. VW wäre damit auf Tesla-Pfaden unterwegs. Sowohl die Software als auch der Chip sind Eigenentwicklungen des US-Elektroautobauers. Doch einfach die Tesla-Strategie kopieren, das kann VW nicht. Dafür stimmten die internen Strukturen nicht, sagen Kritiker.
„Es ist sicherlich keine einfache Aufgabe, aus einem internen Carve-out eine schlagkräftige Softwareeinheit für den Volkswagen-Gesamtkonzern zu formen. Es gibt einfach zu viele Stakeholder im Konzern“, sagt der Zulieferer-Manager, der im engen Austausch mit der Softwareeinheit von Volkswagen steht. So würde jede Marke ihre eigene Entwicklungsabteilung haben, die wiederum alle ihre eigenen Ideen verfolgten.
Das zeigt auch das Vorpreschen von Porsche. Der Sportwagenbauer liebäugelt bei der Software mit iPhone-Produzent Apple. Porsche-Chef Oliver Blume war im vergangenen Jahr für Gespräche mit Apple-CEO Tim Cook zu dessen Hauptsitz nach Cupertino gereist. Beide Unternehmen prüfen gemeinsame Projekte. „Lassen Sie sich überraschen“, sagte Blume im März auf der Bilanzpressekonferenz seines Unternehmens.
Mögliche Alleingänge sind für VW gefährlich. Der Autobauer stellt der neuen IT-Einheit viel Geld zur Verfügung. „In die Softwareaktivitäten rund um Cariad investieren wir rund 2,5 Milliarden Euro pro Jahr. Das sind gewaltige Summen“, bestätigt VW-Finanzvorstand Arno Antlitz. Das, was die Softwareeinheit entwickelt, wird sich nur dann auf Dauer rechnen, wenn VW das Betriebssystem auch für alle Konzernmarken verwenden kann. Für die Vermarktung der eigenen Software wäre es daher ein Desaster, wenn eine eigene Konzernmarke auf eine Alternative setzen würde.
Herbert Diess erwartet schwierige Markengespräche
Die Probleme mit den Markenegoismen reichen sogar bis tief in die Hardware. So gibt es bei den Chips für das automatisierte Fahren keinen einheitlichen Lieferanten für alle VW-Marken. Die Chips kommen von Nvidia, Qualcomm oder Samsung. Diess erwarten daher schwierige Markengespräche. „Alle divergierenden Interessen im Unternehmen unter einen Hut zu bekommen ist eine schwierige Aufgabe“, sagt ein Insider.
Die gemeinsame Software für das automatisierte Fahren und das Betriebssystem kann nur mit einem einheitlichen Chip bestmöglich harmonisiert werden. Das heißt: Diess muss den gesamten VW-Konzern auf einen Chiplieferanten eichen.
Cariad ist bemüht aufzuzeigen, dass es vorangeht. Besonders stolz ist die Konzerntochter auf das aktuelle Update der Software in der ID-Reihe. So können ID-Fahrzeuge dank des „Travel Assist“ automatische Spurwechsel auf der Autobahn vornehmen. Ein Over-the-air-Update (OTA) reicht dafür aus.
Die neue Software wird automatisch in den Autos installiert, die jetzt die Fabrik verlassen. Schwieriger wird das allerdings mit älteren Bestandsfahrzeugen, die VW seit dem Spätsommer 2020 verkauft hat und die mit einer älteren Software ausgestattet sind. Nach einer internen VW-Schätzung sind das etwa 200.000 Exemplare von ID.3 und ID.4.
Damit diese Bestandsfahrzeuge die neuen großen Softwarepakete verarbeiten können, muss VW nachträglich ältere ID-Modelle in der Werkstatt mit einer neuen stärkeren Zwölf-Volt-Bordnetzbatterie – nicht zu verwechseln mit der großen Hochvoltbatterie, die das Auto antreibt – ausstatten. Denn das Herunterladen neuer Softwarepakete verbraucht mehr Strom aus dem Bordnetz, als Volkswagen vor bald zwei Jahren bei der Einführung der ersten ID-Modelle gedacht hatte.
Das aktuelle Beispiel zeigt, dass die Wandlung zum digitalen Autohersteller manchmal an ganz einfachen Dingen hängt. Unabhängig davon, ob sich Diess ganz besonders bei Cariad und ihren neuen Softwarepaketen anstrengt.