Mathematische Formeln: für die einen viele Fragezeichen, für andere die Erklärung unserer Realität - Pixabay

Hilft Mathematik, die Welt zu verstehen?

Mathematik, die Lehre von Strukturen und Mustern, hatte es in den letzten Jahren schwer, denn der Zugang zu ihr erfordert Aufmerksamkeit, Konzentration und Disziplin.

Ihre wichtigste Funktion bestand lange Zeit darin, Phänomene der Naturwissenschaften zu beschreiben und auszudrücken. Heute leistet sie allerdings noch viel mehr, wie uns auch die Corona-Pandemie einmal mehr bewusst macht. Kein Tag vergeht, ohne dass über expotentielles Wachstum, die Reproduktionszahl oder die Verdoppelungszeit gesprochen wird.

Gerade in dieser Zeit zeigt sich, wie wichtig es ist zu wissen, wie Statistiken entstehen oder eine Expotentialfunktion aussieht. Wer das nicht versteht, „der muss glauben, was andere behaupten“, sagt der Kieler Bildungsforscher Olaf Köller. Doch wenn die Mathematik schon Kindern in der Schule nur als abstrakte Disziplin ohne konkreten Anwendungsbezug vermittelt wird, wie sollen sie dann später als Erwachsene die Welt verstehen und gestalten?

Die Herausforderungen der Zukunft können nur gemeistert werden, wenn es gelingt, bereits die Kleinen für Mathematik zu begeistern.

Dabei geht es nicht darum, dass Kinder stumpf rechnen lernen, sondern verstehen, was sie tun und warum sie es tun. „Wer die Welt verstehen will, der muss Zahlen und ihre Zusammenhänge verstehen“, meint Thomas Kerstan. Das zeigt auch XING-Insider Daniel Jung in seinem Buch „Let's rock education“. Der Bildungs-Youtuber versteht sich als Mathematikübersetzter und fordert eine digitale Lern-Revolution. Inzwischen ist Mathematik in der Grundschule und der Sekundarstufe I seit dem Pisa-Schock zugänglicher geworden: "Alltagsprobleme werden mathematisiert, die Schulbücher sind weniger abschreckend." (Kerstan und Spiewak)

Lange vor der aktuellen Debatte, 1997, veröffentlichte der inzwischen 90 Jahre alte Publizist Hans Magnus Enzensberger „Der Zahlenteufel – Ein Kopfkissenbuch für alle, die Angst vor der Mathematik haben“. Es ist die Geschichte des kleinen Robert, der alles hasst, was mit Mathematik zu tun hat - und der dann seine Angst verliert. Er lernt, dass die Zahlen nicht nur ein Hilfsmittel sind, um sich das Taschengeld einzuteilen, sondern auch Charakter haben. Enzensberger hatte einen Lehrer, der überqualifiziert war, ein Schüler des Physikers und Mathematikers Arnold Sommerfeld. Durch den Zweiten Krieg hatte es ihn in die Provinz verschlagen. Dieser Lehrer hat ihn von der Mathematik überzeugt, weil er sie nicht wie eine Formelsammlung vermittelt hat, die man abfragen konnte. Nur eine richtige Lösung hinzuschreiben, ohne zu wissen, warum, reichte ihm nicht. Deshalb ärgerte sich Enzensberger später auch so sehr, dass seine Kinder Mathematik rein mechanisch lernen mussten: wie man das richtige Ergebnis hat, ohne zu verstehen, warum.

Um seiner Tochter die Mathematik zugänglich zu machen, schrieb er später das Zahlen-Buch, das auch nach dreizehn Jahren nicht an Aktualität nicht verloren hat und zeigt, dass Zählen und Messen nützlich und gut ist, wenn es als Versuch verstanden wird, das vielfältige Wesen der Realität zu verstehen. Kritik ist nur dort angebracht, wo Zahlen einseitig betrachtet und interpretiert werden, wo Menschen nicht richtig mit ihnen umzugehen wissen.

Weiterführende Informationen:

  • Enzensberger H. M. (1997) DER ZAHLENTEUFEL Hanser, München.

  • Kerstan T (2020) Mit Liebe rechnen. In: DIE ZEIT (15.10.2020). Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck, Hamburg, S. 28.

  • Kerstan T und Spiewak M (2020) „Wir haben ein Mathe-Problem“. Interview mit dem Kieler Bildungsforscher Olaf Köller. In: DIE ZEIT (15.10.2020), Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck, Hamburg, S. 39.

  • Jung D (2020) Let's rock education - Deutschlands erfolgreichster Mathe-Youtuber. Was Schule heute lernen muss. Droemer Knaur. München.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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