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Hinter den Dingen: Gegenwelten zum enthemmten Kommerz

Interview mit der Volkskundlerin Dr. Constanze N. Pomp

Frau Dr. Pomp, im demnächst erscheinenden Buch „Deutsche Sportgeschichte in 100 Objekten“ sind Sie mit drei Objektbeiträgen vertreten und schreiben über das Sportkorsett, den Skispitzenbiegebock sowie die Gelbe und Rote Karte im Fußball. Wie sind Sie auf diese Dinge gekommen?

Die Idee vom Herausgeber, dem Sporthistoriker Professor Michael Krüger, war, in Anlehnung an den Klassiker von Neil MacGregor, „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“, die deutsche Sportgeschichte in 100 Objekten darzustellen. Das war der Ausgangspunkt, an dem ich mich persönlich fragte: Welche Objekte könnten relevant sein? Das Spektrum an Objekten, die für die Sportentwicklung in Deutschland stehen, umfasst eine unendliche Anzahl an Alltagsgegenständen, wie z. B. Schuhe und Trikots, aber auch Artefakte des Außeralltäglichen, wie z. B. Medaillen, Pokale und Urkunden und dann natürlich die Sportgeräte per se.

In meiner Dissertation hatte ich mich mit der Frühphase des Skilaufens im Hochschwarzwald von 1890 bis 1930 beschäftigt, deshalb lag es für mich nahe, mich u. a. dem Skisport zuzuwenden. Ich wählte einen Skispitzenbiegebock aus Bernau im Schwarzwald vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Anhand seiner Geschichte erläutere ich die Anfänge des Skisports in Deutschland, mit denen der Beginn der Skifabrikation und der Wintersporttourismus einhergingen. Diese Entwicklung führte zur Popularisierung des Skilaufens. Letztlich resümiere ich: Die Skier sind Bretter, die die Welt bewegen und auf denen sich die Welt bewegt.

Welche kleinen und großen Geschichten verbergen sich dahinter?

Hinter der Gelben und Roten Karte, die wohl jeder kennt, verbirgt sich eine kuriose Geschichte, die ich kurz schildern möchte: Eingeführt wurde sie im Jahr 1970. Der Stuttgarter Schiedsrichter Rudolf Kreitlein gilt als deren Miterfinder. Das inzwischen legendäre WM-Viertelfinalspiel im Jahr 1966 in England inspirierte die Erfindung. Die Partie zwischen England und Argentinien wurde von beiden Seiten mit kämpferischer Härte ausgetragen.

Nach mehrmaligem spielerischem Fehlverhalten ermahnte Kreitlein den argentinischen Mannschaftskapitän wiederholt erfolglos und bestrafte ihn schließlich mit einem Platzverweis. Diese Maßnahmen führten bei den Mannschaften zur sogenannten Rudelbildung und der argentinische Spieler verlies zunächst nicht den Platz, so dass ein Spielabbruch drohte. Später gab er Verständigungsprobleme dafür an.

Tags darauf waren Kreitlein und Ken Aston, der Chef der FIFA-Schiedsrichter, im Auto unterwegs. Die allgemein bekannten Ampelfarben brachten Aston auf den Einfall: die Idee der Gelben und Roten Karte war geboren. Mit der Gelben Karte wird ein Spieler verwarnt, mit der Roten Karte wird er des Platzes verwiesen.

Über den Sport hinaus fanden sie als Redewendungen Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch. Die Übernahme dieses symbolhaften Sanktionssystems weist auch auf eine Versportlichung der Gesellschaft hin.

Inwiefern geben diese Dinge auch Auskunft über die Befindlichkeiten und Gefühlslagen ihrer Zeit?

Ich kann Ihnen dies anhand meines Beitrages zum Sportkorsett erläutern: Der Frauensport war für die ersten Wegbereiterinnen seit dem 19. Jahrhundert weder selbstverständlich noch alltäglich. Es wurde stark reglementiert, welche Sportarten überhaupt als tauglich und schicklich für Frauen galten. Diese mussten gegen vielerlei Anfeindungen und Vorurteile ankämpfen. Trotzdem die Leibesübungen für Frauen vermehrt anerkannt wurden, hatten diese sich ästhetischen Normen und Vorschriften zu unterwerfen. Schnell wurden sportlich emanzipierte Frauen als sogenannte „Mannweiber“ oder „flaches Geschlecht“, d. h. „vermännlicht“ tituliert. Sportlerinnen trugen anfangs während der Sportausübung Alltagskleidung und hatten sich den strikten Modevorschriften anzupassen. Dazu gehörte auch das Korsett. Im Jahr 1912 betrug das Gewicht der Frauenkleidung 3,4 kg. Um Frauen die sportliche Betätigung zu erleichtern, stellten einige Firmen spezielle Sportkorsetts her. Diese waren kürzer, hatten weniger Stäbe und waren aus Stoffen gefertigt, die ihren Trägerinnen das Transpirieren ermöglichten.

Mediziner und Lebensreformer forderten vermehrt einen gesunden natürlichen weiblichen Körper, der ohne Einschnürungen beeinträchtigt wurde. Sie setzten sich für das Tragen von Kleidung mit körperlicher Bewegungsfreiheit ein. Dies führte schließlich zur Abschaffung des Korsetts. In den 1920er Jahren wurde die Sachlichkeit der Sportmode in der Alltagskleidung der „Neuen Frau“ übernommen.

Wie kann der Sport das Bewusstsein für die Existenz solcher Gegenstände schärfen?

Zur Sensibilisierung können Publikationen wie die „Deutsche Sportgeschichte in 100 Objekten“ beitragen, ebenso wie die Aktivitäten der Deutschen Arbeitsgemeinschaft von Sportmuseen, Sportarchiven und Sportsammlungen e. V., kurz DAGS. Ich bin selbst Mitglied der DAGS. Die DAGS ist der Dachverband von Sport-Kultureinrichtungen, zu ihren Aufgaben gehört die Erforschung und Vermittlung von Sportgeschichte. Sie sammelt, dokumentiert und archiviert sporthistorische Quellen.

Anfang Oktober 2020 veranstaltet die DAGS in München ein Symposium zum Thema „Gipfelglück. Natur und Sport im Museum“. Für die kommenden Jahre ist für das Alpine Museum in München eine neue Dauerausstellung geplant. Auf dem Symposium soll über deren Neukonzeption beraten und diskutiert werden. Eine kostenlose digitale Teilnahme ist ebenfalls möglich, die Tagungsbeiträge werden als Podcast zu Verfügung gestellt. Es ergeben sich also vielerlei Synergieeffekte.

Jeder Mensch hat Objekte, die ihn durch sein Leben begleiten. Welche sind das bei Ihnen?

Es wird Sie erstaunen, aber auch nach längerem Überlegen fallen mir keine Objekte ein, die mich konstant durch mein Leben begleiten. Die einzige Ausnahme ist ein mir von meiner Urgroßmutter vererbter Ring, den ich häufiger trage. Es handelt sich um zwei goldene Eheringe aus dem Jahr 1935. Als mein Urgroßvater in den 50er Jahren starb, ließ meine Urgroßmutter seinen Ehering an ihren Ring anlöten. Solche Ringe werden traditionell auch als Witwenring bezeichnet. Sie selbst trug diese beiden Ringe bis zu ihrem Tod. Der Ring hat für mich einen persönlichen Bezug. Darüber hinaus verbindet er meine Neugierde als Volkskundlerin an der Geschichte hinter scheinbar alltäglichen Dingen.

Zur Person:

Dr. Constanze N. Pomp studierte an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz im Magisterstudiengang das Hauptfach Kulturanthropologie/Volkskunde sowie die Nebenfächer Buchwissenschaft und Christliche Archäologie & Byzantinische Kunstgeschichte. 2014 wurde sie dort promoviert und hatte Lehraufträge am Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft. Von 2017 bis 2019 absolvierte sie am TECHNOSEUM Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim ihr wissenschaftliches Volontariat. In dieser Zeit arbeitete sie unter anderem bei der Konzeption der Großen Landesausstellung Baden-Württemberg „Fertig? Los! Die Geschichte von Sport und Technik“ mit. Von 2018 bis 2019 war sie im Arbeitskreis Volontariat des Deutschen Museumsbundes (DMB) aktiv. Seit März 2019 ist sie am TECHNOSEUM in der Stabsstelle Freundeskreise und Ehrenamt für die Koordinierung der Ehrenamtlichen zuständig.

Weiterführende Informationen:

Constanze N. Pomp: Rote/gelbe Karte; Skispitzenbiegebock; Sportkorsett. In: Sportgeschichte in 100 Objekten. Hrsg. v. Michael Krüger. J. S. Klotz Verlagshaus, Neulingen 2020.

Fundstücke aus dem Deutschen Fußballmuseum. Hg. von Jochen Hieber und Manuel Neukirchner. In Zusammenarbeit mit Frankfurter Allgemeine Zeitung. 2. Aufl. 2019. Druck- und Medienhaus Essen 2019. In diesem Buch werden elf Exponate des Deutschen Fußballmuseums vorgestellt, die vom kulturellen Mehrwert des Fußballs zeugen. Das älteste der hier vorgestellten Ausstellungsstücke (eine Zeichnung vom ersten Frauenfußballspiel nach festen Regeln) stammt von 1895. Die beiden jüngsten Objekte, darunter Joachim Löws blauer Turnierpullover aus Kaschmir, gehören zur WM von 2010 in Südafrika.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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