Hohe Gehaltswünsche und Wellness-Wochenenden: Diese seltsamen Blüten treibt der Fachkräftemangel
Pandemie und Fachkräftemangel haben die Forderungen vieler Bewerber in die Höhe geschraubt. Für Unternehmen ist das eine gefährliche Entwicklung.
Manchmal lohnt sich ein Blick ins Kleine, um die große Verrücktheit am Arbeitsmarkt zu verstehen. Wer sich auf der Homepage der Barghorn GmbH & Co. KG aus Brake bei Bremen für einen Arbeitsplatz interessiert, bekommt vom Geschäftsführer persönlich Bewerbungsunterlagen zugeschickt.
Der Metallbauer aus der niedersächsischen Provinz hat das Recruiting umgedreht. Mit allem, was dazugehört: ein Lebenslauf, aus dem hervorgeht, wie sich das Unternehmen entwickelt hat, eine Beschreibung, was der Betrieb alles kann und bietet, und natürlich zahlreiche Zeugnisse von Ex-Mitarbeitern, die von ihren Erfahrungen berichten. „Die Marktmacht liegt beim Arbeitnehmer“, sagt Chef Gunnar Barghorn.
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Aktuelle Arbeitsmarktdaten geben ihm recht: Laut Institut der deutschen Wirtschaft (IW) fehlen in Deutschland schon heute rund 465.000 Fachkräfte. Mit dem demografischen Wandel wird sich das Problem potenzieren. Parallel verharrt die Arbeitslosenquote weiter auf niedrigem Niveau.
All das zwingt Unternehmer wie Barghorn zum Umdenken. Konnten früher noch Arbeitgeber die Rahmenbedingungen bestimmen, sind es heute die Kandidaten, die ihren künftigen Chefs klare Ansagen machen – und das oft noch bevor sie einen Arbeitsvertrag gesehen haben.
„Bewerber zeigen ein gestiegenes Selbstbewusstsein“, konstatiert Alexandra Eichberger, verantwortlich für die Talentgewinnung und -bindung bei der Deutschen Telekom. Insgesamt 700 Stellen hat der Dax-Konzern derzeit zu besetzen.
Hauptsächlich ginge es den Kandidaten, die sich melden, um mehr Selbstbestimmung und Flexibilität, berichtet Eichberger. Das äußere sich nicht nur in der Forderung nach möglichst viel Homeoffice, sondern auch in dem vermehrten Wunsch, nur Teilzeit zu arbeiten – und das sogar rauf bis ins gehobene Management.
„Viele Interessenten sagen uns klipp und klar, dass sie mit begrenzter Stundenzahl bei uns einsteigen möchten, weil sie Zeit in andere Themen investieren wollen.“ Vom Wunsch, parallel zum Angestelltenleben ein Start-up aufzubauen bis hin zum Traum, an der eigenen Tenniskarriere zu feilen, hat Eichenberger schon viel gehört. Viele nutzten aber auch die Zeit seit Corona verstärkt für die Familie oder ein gesellschaftliches Ehrenamt.
Bewerber nach Corona: Umziehen? Bitte nicht!
Was für viele Bewerber auch auf Top-Level seit der Pandemie kaum noch infrage kommt ist Umziehen. Laut einer Befragung der Personalberatung Odgers Berndtson erwägten 2021 nur noch 46 Prozent aller Manager für einen neuen, spannenden Job innerhalb Deutschlands den Wohnsitz zu wechseln. Im Coronasommer 2020 waren es noch 52 Prozent.
Galt früher das ungeschriebene Gesetz, dass Führungskräfte ab einer gewissen Hierarchie- und Gehaltsstufe private Umstände in Kauf nehmen müssen, scheint angesichts des Fachkräftemangels und postpandemischer Prioritätenverschiebung davon wenig übrig geblieben zu sein.
Einige Arbeitgeber organisieren deshalb schon ab dem gehobenen Mittelmanagement Orientierungstrips, um den künftigen Arbeitsort – inklusive Wellness-Wochenende für Kind und Kegel – schon mal genießen zu können. Trotzdem entschieden sich viele Kandidaten am Ende doch für die Zweitwohnung am Firmenstandort mit Homeoffice-Option – natürlich alles finanziert vom Arbeitgeber.
Arbeiten, wie viel, wann und wo man möchte, Antrittsprämien von mehreren Tausend Euro oder auch den Hund mit zur Arbeit bringen – den Forderungen der Fach- und Führungskräfte scheinen kaum Grenzen gesetzt. Klar ist: Auch schon vor der Pandemie herrschte bei Jobs in vielen Branchen ein Arbeitnehmermarkt.
Doch so mancher Kandidat mit seltenen Fähigkeiten überspannt den Bogen – und manövriert sich im Bewerbungsprozess mit seiner Dreistigkeit selbst ins Aus. Erste Personalexperten sprechen hinter vorgehaltener Hand schon von „Diven“, die sich am Arbeitsmarkt breitmachen und sich den Jobwechsel am liebsten vergolden lassen möchten.
Was in vielen Fällen durchaus wörtlich zu nehmen ist. Von „völlig überzogenen Gehaltsvorstellungen“ berichtet etwa der Düsseldorfer Personalberater Lothar Grünewald vermehrt. Waren bislang zehn bis 15 Prozent Gehaltsplus bei einem Arbeitgeberwechsel eher Usus, höre er heute deutlich größere Steigerungswünsche. So wollte ein Kandidat für eine Bereichsleitung statt der offerierten 130.000 Euro in einem mittelständischen Sicherheitstechnik-Unternehmen schlappe 180.000 Euro – also ein gutes Drittel mehr als vorgesehen. Die Stelle ging am Ende an einen bodenständigeren Kandidaten.
Diven des Arbeitsmarkts: Horrende Vergütungserwartungen werden immer normaler
„Horrende Vergütungserwartungen“ seien dennoch keine Seltenheit, bestätigt auch die Münchner Headhunterin Claudia Gschwind. Sie präsentiert Kandidaten für Führungspositionen ab 200.000 Euro Jahresgehalt an Kliniken sowie Unternehmen aus der Pharmaindustrie, der Medizintechnik- und Biotech-Branche.
Was die Personalberaterin aus Gesprächen mit Bewerbern berichtet, dürfte den Puls so manchen Arbeitgebers nach oben schnellen lassen: „Schon Bereichsvorstände wünschen sich ausschließlich First-Class-Flüge oder einen Chauffeur zum Dienstwagen“, sagt Gschwind. Ein Privileg, das in der Regel – wenn überhaupt – den Aufsichtsräten großer Konzerne zugestanden wird.
Manch einer oder eine scheint auch vornehmlich die eigene Eitelkeit streicheln zu wollen. Gschwind nennt das Beispiel eines Vorstandskandidaten, der sich vertraglich allen Ernstes Maßanzüge und Louis-Vuitton-Koffer zusichern lassen wollte.
Ihm sagte Gschwind genauso ab wie einem „tolldreisten“ Geschäftsführer, der für seine neue Position in die Schweiz umziehen sollte – und dafür eine monatliche Apanage von mehreren Tausend Franken für seine Ehefrau verlangte. Schließlich würde sie ihm ja „zu Hause den Rücken freihalten“.
Wenn solche Kandidaten frühzeitig aussortiert werden und sich tatsächlich genügend Interessenten für eine Stelle finden, bleibt Unternehmen – abgesehen von der verlorenen Zeit fürs Kennenlerngespräch – Schlimmeres erspart. Aber lassen sich die Diven des Arbeitsmarkts wirklich immer so einfach abschütteln?
Bewerbermarkt: Hohe Forderungen sind eine Gefahr fürs Betriebsklima
„Wenn etwas knapp ist, in diesem Fall Talente, steigt die Nachfrage so weit, dass alles möglich ist“, konstatiert Tomas Chamorro-Premuzic nüchtern. Der Organisationspsychologe lehrt an der Columbia University in New York und ist Talentexperte beim weltgrößten Personaldienstleister Manpower-Group.
Chamorro-Premuzic rät Arbeitgebern sorgsam zu prüfen, auf welche Sonderwünsche sie tatsächlich eingehen wollen. Schon allein um die eigene Unternehmenskultur intakt zu halten. So könnte es laut dem Organisationspsychologen narzisstische Züge der betroffenen Führungskräfte fördern, wenn Kandidaten vom Stamme Nimm eine Sonderbehandlung bekämen. Mal ganz absehen davon, dass der Frust bei all den anderen Mitarbeitern steigt, die in der Vergangenheit in vergleichbaren Situationen leer ausgegangen sind.
Auch die Loyalität solcher Kandidaten sei zweifelhaft, meint Chamorro-Premuzic: „Wer nur auf extrinsische Belohnungen achtet, wird leicht zum Söldner, dem Sinn, Zweck, Wirkung und die Chance, neue Fähigkeiten zu entwickeln und Teil einer für alle besseren Unternehmenskultur zu sein, egal sind.“ All das ist aber essenziell, um als Führungskraft heute erfolgreich zu sein, bestätigen Leadership-Experten immer wieder.
„Wer für Geld kommt, geht für Geld“, fasst es Unternehmer Barghorn aus Brake zusammen. Als Arbeitgeber dürfe man sich „nicht zum Opfer der eigenen Not“ machen. Er hat deshalb eine feste Regel, wenn Kandidaten auf seine umgekehrte Bewerbung anspringen: Er bittet sie, jeweils eine Woche lang gratis mitzuarbeiten – „für beide Seiten ein Investment in die Zukunft“, wie er findet.
Nach der Schnupperphase überlässt der Unternehmer die Entscheidung dem jeweiligen Team, ob der oder die Neue zur Verstärkung tatsächlich eingestellt werden soll. Keine finanziellen Lockangebote, kein Gefeilsche.
