Holzwege der Nachhaltigkeit: Wie Wirtschaft und Gesellschaft in die Gänge kommen
Das Fahrrad bewegt uns und steht zugleich für eine größere gesellschaftliche Bewegung, die sich nur begreifen lässt, wenn wir die „Motive“ dahinter sehen. Es geht um Aufbruch, ums Entdecken, unerwartete Begegnungen und den Wunsch nach Unabhängigkeit und Ungebundenheit, der seinen Ausdruck auch in der Do-it-yourself-Bewegung, der Liebe zum Handwerk oder dem Urban Gardening findet. Freiheit ist für den österreichischen Schriftsteller Hermann Broch das in jedem Ich verborgene anarchische Streben nach „Ungebundenheit“, das bereits im Tierreich durch die „Einzelgänger“ repräsentiert ist. Freiheit hatte als Idee für unterschiedliche Menschen zu verschiedenen Zeiten eine andere Bedeutung. Die moderne Sehnsucht nach ihr verdankt sich einer Komplexität, die den Einzelnen immer mehr vereinnahmt und dazu führt, dass er sich von sich selbst löst und fremdbestimmt ist: von den Medien, der Technik und der Welt des Konsums. Inmitten dieser Unüberschaubarkeit von Möglichkeiten suchen Menschen nach etwas, das sie im buchstäblichen Sinn „selbst“ bewegt, das mit dem Spüren ihres Körpers verbunden ist und der Freude am Ursprünglichen.
Sehnsucht nach Selbstbestimmung
Im Fahrrad sammelt sich das Symbolische, Wirkliche und Mögliche. Die Einheit von Mensch und Fahrzeug sieht der Philosoph Peter Sloterdijk schon bei Plato vorgebildet und in allen Kulturen, die das Rad, den Wagen oder das Reiten entdeckt und das kentaurische Motiv entwickelt haben: Der Mensch mit seiner kleinen Kraft bewegt sich auf einer tragenden größeren Energie. Wer sie nutzt und sich auf den Weg macht, verändert sich - genauso wie seine Wahrnehmung und sein Denken. Diese Verbindung von innen und außen fördert zugleich die Kultur der Achtsamkeit („mindfulness“), die nicht sofort alles Geschaute in den Kategorien des bereits Bekannten und Gewussten ablegt. Vielmehr ist sie mit einem ständigen Lernprozess in einer Umgebung verbunden, die in ständiger Veränderung begriffen ist.
Die Gänge des Fahrrads sind mit den Gedanken-Gängen eng verzahnt, denn es werden neue Dimensionen und Wege erschlossen – auch „Holzwege“, die sich außerhalb üblicher Erfahrungstouren befinden und genauso zum Ziel führen. Die Metapher „Auf dem Holzweg“ hat Hannah Arendt mit dem leidenschaftlichen Selbstdenken in Verbindung gebracht: Dem Holzfäller gleich, dessen Geschäft der Wald ist, befindet sich der Selbstbestimmte auf Wegen, die von ihm selbst gebahnt werden, „wobei das Bahnen nicht weniger zum Geschäft gehört als das Schlagen des Holzes“. Selbstdenken und Handeln gehören hier zusammen. Das Denken ist dabei nie an Resultate gebunden. Die Verbindung zu jener wachsenden Gemeinde von Enthusiasten, die alte Räder sammeln und noch ohne Tacho auskommen, ist offensichtlich: Ihnen geht es ums Fahren und nicht um Leistung. Einer der bekanntesten Retro-Orte ist Gaiole im Chianti. Seit 1997 treffen sich hier jährlich im Oktober Tausende Retro-Anhänger zur „L’Eroica“. Veranstalter verlosen mittlerweile Startplätze, „weil das Vintage-Peloton zur Lawine angeschwollen ist“. In Flandern findet die „Retro Ronde“ statt, in Frankreich unter anderem die „Anjou Velo Vintage“. „Es geht auch um Wertschätzung für klassische Handwerkskunst“, sagt der Nürnberger Künstler und Gastronom Ralf Siegemund.
Hier wird besonders deutlich, dass Menschen heute nicht nur konsumieren wollen, sondern auch ein neues Verhältnis zu den Dingen suchen, indem sie diese mehr achten. Die Humanwissenschaften sprechen auch von einem „material turn“. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Dinge alt oder neu sind.
In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Radfahrer deutlich angestiegen: 30 Millionen Deutsche nutzen mehrmals pro Woche das Fahrrad – sie machen zwölf Prozent des Verkehrs aus. Würden deutsche Bundesbürger doppelt so viele Kilometer mit dem Fahrrad oder zu Fuß zurücklegen wie bisher, könnten fünf bis sechs Millionen Tonnen CO2 zusätzlich im Jahr eingespart werden. (Quelle: Bundesumweltministerium). Viele Stadtbewohner und Entscheider haben erkannt, dass die zunehmende Mobilität des Menschen künftig umweltfreundlicher, effizienter und intelligenter sein muss, denn die steigende Bevölkerung in den größten Ballungszentren sowie der zunehmende Verkehr führen zur Verkehrslähmung. Allein in den 30 größten Metropolregionen der Welt summieren sich die volkswirtschaftlichen Kosten, die durch Verkehrsprobleme entstehen, auf mehr als 266 Mrd. US-Dollar pro Jahr.
Die Verkehrskonzepte der Zukunft stehen unter dem Motto „Teile und kombiniere!“ Sie sind „multimodal“, bestehen nicht aus einer Einzellösung, sondern aus einem Ideenmix in einem ganzheitlichen Konzept. Was heute zählt, sind Zugang, Nutzung und Dienstleistung. Künftig werden sich Menschen möglicherweise von zu Hause zum Bus, vom Bus in die Bahn und mit dem (Elektro)Fahrrad zum Arbeitsplatz bewegen. Zu den Begriffen, die mit dem neuen Mobilitätsgefühl assoziiert werden, gehören Funktionalität, Unabhängigkeit, Dynamik, und Selbstverwirklichung.
Auch in Deutschland gibt es inzwischen mehr Fahrräder als Autos. Neben dem klassischen Rad werden die Pedelecs, die den Radfahrer mit einem Elektromotor unterstützen, immer beliebter. Mit regenerativem Strom betrieben, fahren sie leise, bequem und schadstofffrei in jene Regionen, in die kein takt- und spurgeführter öffentlicher Verkehr mehr kommt. Das elektrisch betriebene Fahrzeug ordnet sich durch die systembedingt begrenzte Reichweite in das Gesamtangebot ein. Pedelecs machen etwa 95 Prozent aller verkauften Elektroräder aus. Der Motor schaltet sich nur ein, wenn der Fahrer auch in die Pedale tritt. Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) forcierte schon vor Jahren die Verkehrswende hin zum Fahrrad und sieht E-Bikes als passendes Mittel in diesem Vernetzungsprozess an.
„FAHR RAD! Die Rückeroberung der Stadt“ hieß eine Ausstellung, die bis September 2018 im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt zu sehen war. Anhand von internationalen Projekten wurden Beispiele fahrradgerechter Stadtplanung vom Ruhrgebiet bis nach New York City gezeigt. Zudem widmete sie sich der Frage, wie die Lebensqualität in Städten erhöht werden kann – dabei muss zuweilen auch der Gegenwind der Autofahrer ausgehalten werden. Instrumente für die Kommunen seien möglicherweise die Öffnung von Einbahnstraßen für Radler oder "Aufstellboxen" an Kreuzungen, so dass die Radfahrer an den Autos vorbeifahren und bei Grün zuerst starten können.
Als erstes Bundesland erhält Berlin ein Gesetz, das umweltfreundliche Verkehrsarten fördert – dabei sollen sämtliche Verkehrsmittel berücksichtigt werden. ein Hauptfokus liegt darauf, die Sicherheit von Radfahrerin in der Stadt zu verbessern. An jeder Hauptverkehrsstraße sollen ausreichend breite Radwege angelegt werden – getrennt vom Autoverkehr und vom Gehweg. Auch sollen sie „Radverkehrsanlagen“ erhalten, die eventuell mit Pollern zu Autos begrenzt sind und auf denen sich Autofahrer überholen können. In Planung ist der Bau von etwa 100 Kilometern Radschnellwegen, neuen Fahrradstellplätzen und Fahrradparkhäusern. Auf ganz Berlin wird außerdem die Fahrradstaffel der Berliner Polizei ausgeweitet.
Seit November 2016 werden Kunden der memo AG innerhalb des Berliner S-Bahn-Rings mit dem Radlogistik-Unternehmen Velogista GmbH erfolgreich beliefert. Inzwischen hat der Versandhändler die Zustellung auf der letzten Meile per Radlogistik auch auf die Innenstadtbereiche von Frankfurt/Main und Stuttgart ausgebaut. Partner sind die Radlogistik-Unternehmen „Sachen auf Rädern“ in Frankfurt/Main und die Velocarrier GmbH in Stuttgart. Die Anlieferung der betreffenden Pakete in den Städten erfolgt per Paketdienst an die Microhubs der Radlogistiker, wo sie anschließend mit dem Lastenrad an die Kunden verteilt werden.
Der Online- und Versandhandel in Deutschland wächst auch in 2017 stetig weiter - laut E-Commerce-Verband evh um 9,3 Prozent. Damit einhergehen aber auch große Probleme für Umwelt und Gesundheit: Neben hohen CO2-Emissionen, Luftschadstoffen und Lärmbelastung stellt die letzte Meile auch die Versandhändler und Paketdienstleister vor ein großes Problem, denn neben dem häufig sehr geringen Platz zum Parken und Rangieren sind die Kunden oft nicht zu Hause oder nicht erreichbar. Damit sinkt die Erstzustellungsquote.
Eine Zustellung per Elektro-Lastenrad schafft für alle diese Probleme Abhilfe: Durch das Laden der Räder mit 100 Prozent Ökostrom fahren diese komplett emissionsfrei. Zusätzlich werden Abgase komplett und Lärm drastisch reduziert. Da die Fahrer der Lastenräder die Busspur und Fahrradwege benutzen und auch Einbahnstraßen entgegen der Fahrtrichtung befahren dürfen, ist die Zustellung häufig auch schneller als mit einem herkömmlichen Paketzustellfahrzeug. Durch eine direkte Abstimmung des konkreten Zustelltermins mit dem Kunden durch die Radlogistiker liegt die Erstzustellungsquote bei rund 96 Prozent - im Vergleich zu rund 86 Prozent durch herkömmliche Paketdienstleister.
Mit dem Ausbau der Zustellung per Elektrolastenrad stellt sich die memo AG ihrer gesellschaftlichen Verantwortung auch in Frankfurt/Main und in Stuttgart. In beiden Städten werden regelmäßig die Grenzwerte für Luftschadstoffe überschritten. In Stuttgart gilt ab 1. Januar 2019 ein Fahrverbot für Dieselfahrzeuge bis Euronorm 4. Bisher sind u.a. Paketdienste von diesem Fahrverbot ausgeschlossen. „Es wird jedoch nicht ausbleiben, dass sich vor allem größere Städte und Ballungsräume sowie Unternehmen und speziell Versandhändler Gedanken über eine nachhaltigere Mobilität und Logistik Gedanken machen müssen.“ erklärt Frank Schmähling, Vorstand Logistik der memo AG. „Wir sehen in der Belieferung mit Elektro-Lastenrädern eine praktikable Lösung, um Menschen, Umwelt und Klima zu entlasten.“
Im Jahr 2017 lieferte das Unternehmen in Berlin 10.500 Pakete per Lastenrad an die Kunden aus. „Langfristig streben wir diese Zahl auch in anderen Großstädten und Ballungsgebieten an“, so Schmähling. „Aktuell suchen wir nach einer Lösung und einem Partner für Hamburg.“ In der Hansestadt sind bereits seit 31. Mai 2018 zwei Straßenabschnitte für Dieselfahrzeuge, die nicht die Abgasnorm Euro-6 (Pkw) beziehungsweise VI (Lkw) erfüllen, gesperrt. Bei allen Vorteilen, die die Radlogistik mit sich bringt, gibt es dennoch einen Wermutstropfen, denn sie ist etwas teurer als die konventionelle Auslieferung per Paketdienst. „Im Sinne unserer Verantwortung nehmen wir die höheren Kosten jedoch in Kauf und geben diese bisher nicht an unsere Kunden weiter“, so Schmähling.
Die memo AG sitzt am Unternehmensstandort Greußenheim relativ ländlich und ist vergleichsweise schlecht mit dem öffentlichen Personennahverkehr zu erreichen. Deshalb und aufgrund der hohen Arbeitszeitflexibilität und der Vielzahl an Arbeitszeitmodellen muss ein Großteil der Mitarbeiter individuell mit dem eigenen Pkw zur Arbeit kommen. „Durch verschiedene Maßnahmen sollen die Mitarbeiter dennoch zu nachhaltiger Mobilität motiviert werden. Mitarbeiter, die zu Fuß, mit dem Rad, mit dem Bus oder mit einer Fahrgemeinschaft zur Arbeit kommen, werden über ein internes Tool erfasst, Diejenigen mit den meisten Einträgen pro Verkehrsmittel werden regelmäßig belohnt. Um Fahrgemeinschaften zur fördern, analysiert die Personalabteilung regelmäßig die Arbeitswege und unterstützt die Mitarbeiter dann bei der Koordination derartiger Gemeinschaften“, sagt Claudia Silber, die hier die Unternehmenskommunikation leitet.
Seit 2013 beteiligt sich das Unternehmen am Modell „JobRad“ der LeaseRad GmbH aus Freiburg. Mit dem innovativen Gehaltsumwandlungskonzept „Job-Rad“ können Mitarbeiter ihr Fahrrad oder E-Bike über den Arbeitgeber leasen und damit Steuern und CO2 sparen. Das Gehaltsumwandlungsmodell ist steuerlich vergleichbar mit der sogenannten 1 Prozent-Regel bei Dienstfahrzeugen, die seit November 2012 auch für Fahrräder, Pedelecs und E-Bikes gilt.
Durch diese vorteilhafte Versteuerung und günstige Firmenkonditionen ist das Rad deutlich günstiger als ein regulärer Kauf. Neben der Gesundheit der Mitarbeiter schont „JobRad“ auch die Umwelt und trägt zur Entlastung des täglichen Berufsverkehrs bei. Die Geschäftsidee von LeaseRad-Gründer und Geschäftsführer Ulrich Prediger ist in Deutschland einzigartig: Über die LeaseRad GmbH in Gundelfingen leasen Unternehmen - oder Kommunen eine Fahrradflotte. Wie beim Auto-Leasing erhält der LeaseRad-Kunde eine passgenau zugeschnittene Fahrradflotte und Rundumbetreuung. Darüber hinaus erhält er CO2-neutralen Klimaschutz, gesündere Mitarbeiter, einen steuerfreien Fuhrpark und deutlich positivere (Energie-)Bilanzen.
Als Krankenkassenleistung wird beispielsweise die Mitgliedschaft im Radsportverein für die Bonusleistung von der ökologisch ausgerichteten gesetzlichen Krankenkasse BKK advita anerkannt. In der Zentrale der BKK advita wird zudem eine Dusche eingebaut, um das Radfahren der Mitarbeiter zu fördern. Dienstfahrräder auch zur privaten Nutzung der MitarbeiterInnen gibt es in Alzey ohnehin. „Beim Fahrradfahren würde ich mir ein stärkeres Engagement der Unternehmen wünschen. Das regt auch der von uns initiierte alternative Gesundheitspreis an. Hier lassen sich effektiv und bei guten Rahmenbedingungen seitens der Firmen viele gefahrene Kilometer und somit viele Tonnen CO2 einsparen. Der positive Gesundheitseffekt kommt hinzu. Man kann dies auch in betriebliche Gesundheitsprogramme einbinden“, sagt Norbert Pasternack, Vorstand BKK advita. Ein positives Beispiel ist für ihn auch die Druckerei Lokay in Darmstadt, die nach den strengen Anforderungen des EMAS- Umweltmanagementsystems zertifiziert ist. Den Mitarbeitern werden ebenfalls Fahrräder zur Verfügung gestellt.
Seit 2017 ist das Job-Rad Leasing auch bei Häcker Küchen in Rödinghausen möglich. Bei einem Einführungsevent wurden verschiedene Modelle vorgestellt und den Mitarbeitern die Möglichkeit gegeben, sich von Profis beraten zu lassen. Das Bike-Team Blöte aus Hiddenhausen und Fahrrad Schwan aus Melle standen dabei Rede und Antwort. Bei Fragen zu Leasingkonditionen halfen Vertreter von BusinessBike Leasing weiter. Auf diese Weise unterstützt das Unternehmen sportbegeisterte Mitarbeiter und bietet ihnen die Möglichkeit, zu vergünstigten Konditionen das Wunschfahrrad zu leasen und so die Gesundheit zu verbessern.
Weiterführende Informationen:
Sebastian Herrmann: Stahl und Wolle. In: Süddeutsche Zeitung, 21./22.6.2014, S. 5.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Gut zu wissen... wie es grüner geht: Die wichtigsten Tipps für ein bewusstes Leben. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Mobilität und Logistik: Richtige Wege, die nicht aufs Abstellgleis führen. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Von Lebensdingen: Eine verantwortungsvolle Auswahl. Amazon Media EU S.à r.l. 2017.