Ich bin genug! Wege zu einem starken Selbstwert
Das Selbstwertgefühl ist ein zentraler Baustein unserer menschlichen Psyche. Dabei haben vor allem unsere frühen Bindungen einen maßgeblichen Einfluss darauf, wie es sich zunächst entwickelt. Dennoch liegt es in unseren Händen, unseren Selbstwert zu stärken.
Viel wird derzeit wieder über Corona gesprochen, und seit der Bundestag die Aufarbeitung der Pandemie beschlossen hat, kreisen auch meine Gedanken wieder verstärkt um das Thema. Denn natürlich sind die Folgen insbesondere für unsere geistige Gesundheit bis heute enorm.
So bin ich gerade auf eine Umfrage gestoßen, bei der 31 Prozent der deutschen Berufstätigen angeben, die Pandemie habe ihr Selbstbewusstsein am Arbeitsplatz negativ beeinflusst. Besonders betroffen sind laut der Linkedin-Befragung Menschen zwischen 16 und 24 Jahren, die gerade erst in die Job-Welt gestartet sind. Bei den über 55-Jährigen zweifelt aber immerhin noch jeder fünfte Befragte an sich. Dabei war bei den Betroffenen sicher schon vor Ausbruch der Pandemie ein Mangel an Selbstwertgefühl zu verzeichnen, der sich aber durch die Arbeitsbedingungen während der Coronazeit spürbar verstärkt hat.
Ein geringes Selbstwertgefühl im Job äußert sich sehr unterschiedlich. Die einen trauen sich nicht, ihre Meinung zu sagen und ihre Kompetenzen zum Ausdruck zu bringen, andere scheuen sich, neue Aufgaben zu übernehmen und haben deshalb Angst vor Veränderungen, etwa wenn es um Beförderungen geht. Bei meiner Arbeit als Psychotherapeutin habe ich immer wieder festgestellt, wie zentral unser Selbstbild für unseren Lebensweg ist. Es entscheidet darüber, mit welchen Augen wir andere Menschen betrachten und wie wir uns ihnen gegenüber verhalten. Es entscheidet, welche Rolle wir uns selbst zuschreiben.
Wenn ich mich nämlich als unwichtig, uninteressant oder nicht besonders kompetent wahrnehme, fällt es mir schwer zu glauben, dass mein Gegenüber das anders sieht. Oder ich glaube, dass der- oder diejenige nur noch nicht gemerkt hat, dass ich die Aufmerksamkeit gar nicht verdiene. Aus diesem Grund hat sich beispielsweise meine Klientin Emma (29) gegen gleich zwei Beförderungsangebote entschieden, weil sie wirklich der Meinung war, ihr Chef hätte ein falsches Bild von ihr, und sie würde ihn am Ende nur enttäuschen. Mit ihrer Entscheidung, neue Herausforderungen gar nicht erst zu wagen, will sie sich unbewusst davor schützen, Erwartungen nicht gerecht werden zu können und sich dadurch Kritik und seelischen Verletzungen auszusetzen.
Den Spiegel vorhalten
Unser Selbstwert bestimmt nicht nur unser Lebensgefühl, er ist auch häufig verantwortlich für Probleme in unserem Alltag. Man könnte sagen, dass unser Selbstwert das Epizentrum unserer Psyche ist. Es bestimmt darüber, ob wir uns mit anderen Menschen auf Augenhöhe fühlen oder uns häufig als unterlegen wahrnehmen. Unser Selbstwertgefühl beeinflusst außerdem maßgeblich, ob wir uns selbst und anderen Menschen vertrauen können oder sehr viel Kontrolle benötigen. Dabei sind es die Erfahrungen, die wir mit unseren Eltern in Bezug auf die Themen Bindung und Autonomie gemacht haben, die ganz wesentlich unser Selbstwertgefühl beeinflussen. Denn durch das Verhalten unserer Eltern haben wir gelernt, ob wir geliebt werden und willkommen sind oder nicht.
Diesen Prozess nennen wir in der Psychologie gespiegeltes Selbstwerterleben. Wenn die Mutter das Kind zum Beispiel anlächelt, ist dies für das Kind, als halte man ihm einen Spiegel vor, der zeigt, dass sich die Mutter über das Kind freut. Letztlich geht es um Erfahrungen von Verbundenheit. Wo auch immer wir uns von unseren nächsten Bezugspersonen unverstanden, nicht richtig wahrgenommen, alleingelassen oder wenig geliebt gefühlt haben, wurde unser Bedürfnis nach Verbundenheit verletzt. Wir tendieren dann dazu, uns selbst abzuwerten, statt uns zu behaupten. Dabei ist das gespiegelte Selbstwertempfinden eine tiefe Konditionierung, die ein Leben lang anhält.
Der Blick zurück in die Vergangenheit verhilft uns also zu der Erkenntnis, dass wir häufig nur einen gespiegelten Selbstwert mit uns herumtragen, der in der Regel nur wenig mit der Wirklichkeit zu tun hat. Nach dieser bedeutsamen Selbsterkenntnis geht es im nächsten Schritt darum, sich aus der Vergangenheit zu befreien, um Selbstheilung zu erfahren. Denn wenn auch unsere Gedanken noch von unserer Erinnerungen geprägt sind, so sind wir dennoch nicht unsere Vergangenheit. Deshalb sollten wir aufhören, uns mit diesen negativen Gedanken zu identifizieren. Sie sind eine Konstruktion in unserem Kopf und die negativen Gefühle, die wir empfinden, sind Reaktionen auf dieses Kopfkino.
Das Kopfkino stoppen
Dafür ist es ratsam, innezuhalten und sich zu fragen, inwieweit das von uns wahrgenommene Selbstwerterleben unserer Mutter bzw. unseres Vaters unser eigenes beeinflusst hat. Haben wir das Selbstwertgefühl eines Elternteils vielleicht sogar einfach übernommen? Klienten mit einem schwachen Selbstwertgefühl bitte ich an dieser Stelle, mit zwei einfachen Gedankenübungen den eigenen Wert aktiv zu erhöhen:
1. Wir geben die Anteile, die eigentlich nicht zu uns selbst, sondern zu einem Elternteil von uns gehören, freundlich zurück. Wenn uns beispielsweise unsere Mutter eine hohe Angepasstheit in Verbund mit Ängstlichkeit in sozialen Kontakten vorgelebt hatte, dann sollten wir diesen Anteil vor unserem inneren Auge bei der Mutter belassen. So sollten wir mit allen elterlichen Anteilen verfahren, die wir nicht in unser Leben übernehmen möchten.
2. Auch spätere Erlebnisse können unser Selbstbild noch in die eine oder in die andere Richtung verändern. Und wenn wir etwa in der Schule oder im Job negative Erfahrungen gemacht haben, die unseren Selbstwert schmälern, sollten wir uns fragen: Was sagt das Verhalten der anderen Menschen wirklich über meinen Wert aus? Wir drehen den Spiegel wieder um, so wie wir es mit unseren Eltern getan haben. Nun zeigt er auf jene Menschen, die uns verletzt haben. Es ist ein Spiegel für ihr Verhalten und nicht für unseren Wert.
Zusammenhänge erkennen
Beim Thema Selbstwert geht es immer darum, Zusammenhänge zu erkennen und zu verstehen. Wenn wir etwa von unserem Chef einen scheinbar negativen Selbstwert gespiegelt bekommen, ist es wichtig, dass wir uns aktiv aus diesem Selbstwertspiegel herausnehmen. Und das gelingt, indem wir uns die Zusammenhänge bewusst machen. An dieser Stelle bitte ich meine Klienten, einmal tief in sich hineinzuspüren und folgende Fragen zu beantworten:
1. Welche Gefühle kommen in dir auf, wenn du an deine Erfahrungen mit deinen Eltern denkst?
2. Inwiefern haben diese Gefühle und diese Erfahrungen, die du mit deinen Eltern gesammelt hast, dein Selbstwertgefühl beeinflusst?
Und 3. Bist du dir eine gute Freundin, ein guter Freund? Fühlst du dich im Großen und Ganzen okay oder empfindest du Selbstzweifel oder Schamgefühle?
Auch Emma habe ich in vergangenen Sitzungen wiederholt diese Fragen gestellt und sie gebeten, ihr gefühltes Selbstwerterleben aufzuschreiben und ihre Gefühle wahrzunehmen. Es waren unangenehme Gefühle, die sich in ihr breitmachten, weil sich Emma dem Leben nicht gewachsen fühlt. Um sich von solchen Gefühlen zu distanzieren, macht es Sinn, in den Verstand zu wechseln und sich zu fragen, ob diese Gefühle im Hier und Jetzt wirklich angebracht und hilfreich sind. Helfen sie uns dabei, Verantwortung für uns zu übernehmen? Motivieren sie uns, unsere Wünsche und Ziele zu verfolgen? Geben sie uns Kraft in unserem Leben? „Du hast eine Wirkung, auch wenn es sich für dich damals, so wie heute, manchmal anders anfühlen mag“, gab ich Emma eindringlich zu verstehen. „Heute darfst du an dich glauben, auch wenn dir dein Selbstwertgefühl etwas anderes sagt. Denk immer daran: Deine Gefühle sind ein Resultat deiner Erfahrungen.“
Mittlerweile hat Emma es mit vielen Gedankenübungen geschafft, ihren Blickwinkel hin zu angenehmen Gefühlen zu wechseln, nämlich zu ihren Ressourcen, also ihren Stärken, ihren guten Eigenschaften, ihren Werten. Zu den Dingen, die sie tief in ihrem Inneren an sich mag und wertschätzt. Und sie hat gelernt, sich dabei innerlich zu zuzunicken. Genau das sollten wir alle tun, uns unserer Ressourcen gewahr werden, und stolz auf sie zu sein. Einfach mal so richtig schwelgen in diesem Zustand und angenehme Gefühle in uns groß werden lassen. Selbstwertschätzung bedeutet nämlich nicht, dass wir keine Schwächen und Fehler haben, sondern dass wir Mensch sind – mit positiven und negativen Anteilen.