"Ich fühle mich im Job wie im Gefängnis!"
Viele Angestellte klagen über fehlende Freiheiten im Beruf. Präsenzkultur, Regeln und Kontrolle beherrschen vielerorts das Tagesgeschäft. Wenn die Arbeit zum Gefängnis wird und warum Absitzen bis zur Entlassung keine Lösung ist.
Freiheit im Beruf ist für Angestellte aller Altersklassen heute einer der wichtigsten Werte im Beruf (vgl. meine Auswertung der Werte von 100 Klienten). Sie ist verantwortlich für die Motivation, den persönlichen Arbeitseinsatz sowie auf Dauer für die Gesundheit von Mitarbeitern.
Die meisten Arbeitnehmer mit dem Wunsch nach stärkerer Freiheit sehnen sich nach mehr Handlungsspielräumen und größerer Entscheidungsfreiheit. Flexibilität in der Arbeitszeit ist ihnen wichtig. Einsatz nach Arbeitsanfall statt nach Stempeluhr, dann sind auch Überstunden ab und zu kein Problem. Sie möchten in gewissem Rahmen selbst entscheiden, wann, wie und wo sie arbeiten, solange das Ergebnis stimmt.
Freitag um Zwölf das Büro verlassen, dafür das Meeting am Montag entspannt am Samstag Nachmittag im Home-Office vorbereiten. Oder mit den Kollegen spontan raus in den Park nebenan gehen, um auf kreative Ideen zu kommen. Weniger Präsenzzwang und Zeit absitzen, mehr Freiheit durch Eigenverantwortung - und als Zeichen von Vertrauen.
Lang lebe die Präsenzkultur!
Die meisten Arbeitgeber sprechen heute lautstark von Vertrauenskultur, flexiblen Arbeitszeiten und dem Menschen im Mittelpunkt. Sie schmücken ihre Karriereseiten mit Begriffen wie Familienfreundlichkeit, Wertschätzung und Freiheit durch mobiles Arbeiten.
Doch innen drin, in den Mauern, ist das Leben für viele Arbeitnehmer selbst in Zeiten von New Work und mobilem Arbeiten immer noch – oder etwa wieder? – ein völlig anderes:
Die Mittagspause ist zwischen 12 Uhr und 14 Uhr zu nehmen! Mit Verlassen des Gebäudes endet die Arbeitszeit und es ist auszustempeln. Überstunden werden nicht vergütet. Gleitzeit ja, aber Anwesenheitspflicht zwischen 10 und 17 Uhr. - Präsenzkultur pur in gut überwachbaren Arbeitszellen.
Prozesse und Standards, die strengstens einzuhalten sind. Bei ungeplanten Ereignissen, Entscheidungen außerhalb des Kompetenzrahmens oder im Konfliktfall ist der hierarchische Eskalationspfad zu beachten! Meetings finden ausschließlich in hierfür vorgesehen Räumen statt, die PowerPoint-Präsentation ist drei Werktage vorher bis 18 Uhr zu verschicken – natürlich ausschließlich im Corporate Design! Jedes Gespräch und jede Entscheidung sind zu dokumentieren.
Warum? - Das macht man so!
Was bringt die flexibelste Home-Office Regelung, wenn Laptops abends und am Wochenende zum Schutz der Gesundheit zentral abgeschaltet werden? Was haben Angestellte von Firmenhandys und deren privater Nutzung, wenn ihr Chef sie Tag und Nacht mit Fragen und Aufträgen bombardiert, die alle nicht bis morgen warten können?
„Ich fühle mich auf der Arbeit wie im Gefängnis!“
Klienten erzählen mir im Coaching zunehmend von ihrem Gefühl des im Job eingeengt sein, vom Bild der massiven Mauern um sie herum, die über die letzten Jahre immer näher gekommen sind und ihnen die Luft zum Atmen und den Raum zuf freien Entfaltung nehmen. Ein Druck, den viele von ihnen auch längst körperlich zu spüren bekommen:
Kraftlosigkeit, ständig gegen die Mauern aus starren Regeln, Prozess-Standards, Politik und hierarchischer Hackordnung anzukämpfen.
Kurzsichtigkeit durch Fokus auf das Überleben im Tagesgeschäft und damit Verlust von Weitblick, Freigeist und Kreativität.
Verlust von Selbstbewusstsein durch mangelnde Wertschätzung der eigenen Ressourcen und Fähigkeiten.
Frustration, Wut und Trauer, in der Hektik des Arbeitsalltags nicht mehr als Mensch gesehen zu werden und Wertschätzung für Leistungen und Erfolge zu erfahren.
Resignation, an alledem als unwichtiges Schräubchen im Getriebe nichts verändern zu können.
Auf meinen XING-Artikel „Sie sollen arbeiten, nicht denken!“ habe ich erschreckend viel Zustimmung von "Betroffenen" erhalten, die genau das bei ihrer Arbeit empfinden.
Wer als Arbeitgeber eine derartige Haltung etabliert, die aus kurzsichtigem Effizienzstreben und panischem Baustellen-Management den Menschen aus den Augen verliert und das nicht wertschätzen kann, was ihn noch von Kollege Roboter unterscheidet, der ist nicht weit entfernt von mittelalterlicher Leibeigenschaft.
„Ich muss da raus!“
Mit dieser Absicht kommen fast alle Klienten zu mir ins Karriere-Coaching. Flucht ist ihr Antreiber, nicht die Lust auf Neues. Ein Ziel, das sie noch nirgendwo hin führt. Wie auch? Schließlich wissen sie nicht, was es außerhalb der hohen Mauern noch Gutes für sie gibt.
Doch die erfolgreiche Flucht erscheint insbesondere für berufserfahrene Arbeitnehmer ab Mitte 40, ganz sicher mit 50Plus als Ding der Unmöglichkeit. Je länger sie in diesen Unternehmen mit den hohen Mauern klein gehalten wurden, umso stärker glauben sie fest daran, im Arbeitsmarkt wertlos zu sein und die Flucht in die Freiheit niemals zu schaffen. Dabei haben die meisten von ihnen noch 15 bis 20 Jahre bis zur Rente, ihrer Entlassung.
Absitzen ist keine Lösung. Reißen Sie die Mauern ein!
Statt sich selbst die Freiheit zu nehmen, aktiv und bewusst etwas zu verändern, harren sie aus und halten irgendwie durch. Sie haben in ihrem kleinen Kästchen innerhalb der Mauern verlernt, selbst der Chef ihres Lebens zu sein. Stattdessen hängen sie fest in einer jammernden Opfer-Haltung aus scheinbarer Fremdbestimmung, bedingungsloser Abhängigkeit und dem Gefühl von Ohnmacht aus Angst vor Veränderung.
Liegt irgendwann die Kündigung des Arbeitgebers auf dem Tisch, empfinden es viele von ihnen als Befreiung. „Endlich hat mir der Chef die Entscheidung abgenommen, den nächsten Schritt gehen zu müssen“, sagen sie mir im Coaching. Es kommt mir vor wie die seit langem ersehnte Entlassung aus dem schrecklichen Gefängnis.
Doch bei genauerem Hinsehen türmen sich viele dieser mächtig anmutenden Mauern vor allem in ihren eigenen Köpfen auf:
Freiheit einschränkende Denk -und Verhaltensweisen, die mit der Zeit Gewohnheit geworden und nie wieder hinterfragt worden sind.
Als unverrückbar wahrgenommene Regeln und Arbeitsprozesse, die tatsächlich verhandelbar oder einfach veränderbar sind.
Vermutete Erwartungen des Chefs oder der Kollegen, die ausschließlich auf Annahmen und Interpretationen beruhen.
Die Fülle an Gesetzen aus unreflektierten Wahrheiten sind in den Köpfen der "Einsitzenden" zur sicheren Gewohnheit geworden.
Keine Frage, sowohl die echten Mauern aus längst überholten Vorschriften und alter Führung in der Organisation als auch die imaginären Mauern in den Köpfen von Arbeitnehmern müssen eingerissen werden. Denn sie treiben Angestellte nicht nur in die innere Kündigung, sondern lähmen die gesamte Organisation. Beide Seiten müssen ran und können daran arbeiten:
Arbeitgeber sollten nicht nur über Freiheit sprechen, sondern sie im Alltag individuell erlebbar machen. Sie sollten ihre Angestellten fragen und ihnen zuhören, was für sie Freiheit im Beruf konkret bedeutet. Führungskräfte sollten ihre Mitarbeiter aktiv ermuntern, Freiheiten im möglichen und oftmals sogar erwünschten Rahmen in Anspruch zu nehmen. Mauern in den Köpfen sind das Ergebnis von (schlechten) Erfahrungen, oftmals verbunden mit Angst, Unsicherheit und fehlender Klarheit. Führungskräfte können daran arbeiten, Freiheit für ihre Mitarbeiter zu legalisieren.
Arbeitnehmer sollten sich in ihrem aktuellen Handlungsraum bewusst umsehen. Wo existieren tatsächlich Mauern und wo sind Mauern mit der Zeit nur in ihrem Kopf entstanden? Viele Angestellte entwickeln im Coaching sehr schnell gute Ideen, was sie tun können, um in ihren Positionen im aktuellen Unternehmen mehr Freiheit zu erlangen. Häufig ist es eine Mischung aus Selbstdisziplin und mehr Klarheit durch Gespräche mit Chef und Kollegen.
Das Verrückte: Oftmals freuen sich ihre Vorgesetzten über die Initiative und begrüßen die neu erlangte Freiheit. Denn auch Chefs atmen so auf und profitieren davon, wenn ihre Mitarbeiter mehr Selbstverantwortung übernehmen und sich die Freiheit nehmen, die sie wirklich benötigen, um sich selbst zu motivieren und gute Leistungen zu erbringen.
Echte Freiheit im Beruf ist kein verordneter Freigang
Echte Freiheit im Beruf lässt sich nicht durch Standards regeln. Für Gerechtigkeit braucht Freiheit zwar einen Rahmen, doch statt einengender, hoher Mauern habe ich ein Bild von Leitplanken im Kopf, die keine Angst erzeugen, sondern Sicherheit auf einem Weg geben und statt Mauern eine gute Sicht auf die vielen Chancen und Möglichkeiten erlauben.
Innerhalb dieser Leitplanken sollte es in der Selbstverantwortung jedes einzelnen Mitarbeiters liegen, wie viel und welche Freiheit in einer bestimmten Situation persönlich wichtig und in der Sache zielführend ist.
Wem konzentriertes Arbeiten im Büro wichtig ist, der wäre mit dem Kreativ-Workshop im Wald überfordert. Wer auf innovative Ideen nur in Bewegung an der frischen Luft kommt, empfindet es als ungerecht, vorher ausstempeln zu müssen. Wer im Home-Office bessere Konzepte als im Großraumbüro schreiben kann, der sollte diese Option besitzen. Und auch der Großkonzern, der aus Platzmangel an Büroraum alle seine Angestellten zwingt, zwei Tage pro Woche am heimischen Küchentisch zu arbeiten, macht mit dieser Freiheit lange nicht jeden Mitarbeiter glücklich.
Viele Arbeitgeber haben erkannt, dass Freiheit für ihre Mitarbeiter ein wichtiger Wert ist. Doch sie tun, was sie gerne tun: Sie regeln es. Gleicher Freigang für alle! - Wie im Gefängnis.
Und für alle Kopfschüttler unter Ihnen, die jetzt gerade denken "Das funktioniert bei uns doch eh nicht!" oder "Der Slaghuis hat leicht reden als Selbständiger!" - Willkommen in Ihrem Gefängnis!
Was bedeutet Freiheit im Beruf für Sie und gibt es Mauern, die Sie gerne einreißen möchten?