„Ich habe mir meine Welt geschaffen, in der bin ich der Mittelpunkt“
Tim Raue eröffnet am 3. Juni das Sphere im Berliner Fernsehturm. Was macht seinen Erfolg aus? Ein Gespräch über absolute Individualität.
Berlin. Tim Raue steht im Innenhof vor seinem Restaurant Tim Raue in Berlin Kreuzberg, unweit des Checkpoint Charlie. Der Sterne- und Fernsehkoch trägt von Stiefel bis Jacke Orangetöne. Was andere als Clown dastehen ließe, trägt der gebürtige Berliner mit Selbstverständlichkeit.
50 Jahre ist er alt. Gut 20 davon kennen sich der Autor dieses Textes und der Koch – und sind sich im Laufe dieser Zeit immer wieder begegnet.
Bei diesem erneuten Treffen in Berlin geht es auch um Jazzmusik. Oder vielmehr um die Frage, weshalb Raue seit gut einem Jahrzehnt keine Musik mehr hört. Er, der einst als junger Wilder galt, braucht für seine Arbeit heute vor allem eins: Stille. Und absolute Individualität. Ein Gespräch mit und über Eigensinn.
Tim, als ich dich fragte, ob wir über die Probleme der Gastronomie sprechen könnten, lehntest du ab und wolltest vor allem von deinen kommenden Projekten erzählen, dem Restaurant Sphere im Berliner Fernsehturm. Als Spaß erlaubte ich mir, vorzuschlagen, wir könnten auch über Jazz sprechen, da gab ich dir schon mal Hörtipps. Zum Aufwärmen: Wie steht es damit?
Ich habe mir einen rausgepickt, aber ich war völlig überfordert damit. Das ist mir zu anstrengend. Ich höre sowieso keine Musik mehr.
Bitte?
Ich habe irgendwann aufgehört, Musik zu hören. Ich kann nicht genau sagen, wann. Ich glaube, etwa vor zehn, elf Jahren. Weil ich es nicht mehr auf die Reihe gekriegt habe und weil ich Stille brauche, um zu durchdenken, was alles auf mich zukommt. Sonst kriege ich meine Tage nicht mehr durchgezogen.
Keine Ablenkung?
Ich brauche Stille, weil so viel im Kopf rumschwirrt. Da sind so viele Projekte, ich versuche alles noch mal im Kopf durchzugehen: Was hast du jetzt, was kommt als Nächstes, was musst du machen, wo ist da der Stand der Dinge, mit wem musst du reden, damit die Küche noch mal umgeplant wird, was ist draußen mit den Stühlen, da hat mir die Farbe nicht gefallen und so weiter. Wenn ich einfach aus dem Fenster starre, kommen die Gedanken.
Du reist viel, wie findest du da Stille?
Umgebungslärm stört mich überhaupt gar nicht. Ich kann komplett ausblenden, höre nichts, kriege nichts mit, kann mich in meine eigene Welt zurückziehen. Ob ich nun auf die Landebahn gucke oder durch einen Duty-free gehe. Schon als Kind war da dieser Wunsch, dem Ort, wo ich war, oder dem Moment zu entfliehen. Und dadurch habe ich mir einfach eigene Universen geschaffen. In meinen Gedanken stehe ich im Endeffekt wie an so einem Moodboard, auf dem ich die unterschiedlichen Aufgaben und Projekte sehe, die Stände abrufen kann und das dann für mich durcharbeite.
Musst du die Sachen, die du für dich im Kopf sortierst, noch mal aufschreiben? Oder bleiben die tatsächlich wie ein Moodboard?
Ja, ich habe relativ viel abgespeichert, aber die To-do-Sachen schreibe ich mir alle noch mal auf, um die weiterzuleiten. Fragen wie: Wer übernimmt jetzt in meinem Universum welche Aufgabe? Die Grundzüge, die sind mir alle bewusst. Aber die kleinen Verästelungen, da schreibe ich mir dann einen Reminder.
Was ist für diese Art zu arbeiten nötig?
Dafür ignoriere ich halt alles, was außerhalb dieser Welt ist. Ich weiß gar nicht, ob ich in diesem Jahrtausend schon im Kino war. Ich gehe nicht aus, mache keine Party, gehe in keine Clubs, sehe zu, dass ich spätestens um 23 Uhr im Bett liege, damit ich morgens spätestens um sechs wieder anfangen kann, meine Arbeit zu machen.
Das klingt sehr strukturiert.
Ich sage ja, – und ich mag das auch wirklich gerne – dass ich ein Egozentriker bin. Ich habe mir meine Welt geschaffen, in der bin ich der Mittelpunkt und ich entscheide, wen ich reinlasse, wen nicht, wer was von mir bekommt oder wer nicht. Und ich finde, dass das als Mensch auch extrem wichtig ist. Denn wenn jeder ein Stück von dir kriegt, dann bist du selber nicht mehr da. Das habe ich mühsam gelernt und das hat teilweise wehgetan. Da gibt es auch Menschen, die total zickig sind und dann reagieren mit „Warum haben sie jetzt ...?“ oder „Warum geht das nicht?“.
Und dann?
Dann musst du dir immer denken, dass es deren Problem ist, nicht deines. Ich habe Anfragen für ein Jahr, die ich in drei Jahren nicht abarbeiten könnte. Aber du hast überhaupt keine Verpflichtung.
Ist das auch deine Unternehmensstrategie?
Sicher, das ist eine Strategie, die sich auf jeden Lebensbereich ausdehnt. Ich muss nichts. Das ist erst mal eine wahnsinnig angenehme Freiheit und eine Situation, die ich mir hart erarbeitet und geschaffen habe.
Bist du ein Albtraum für deine Mitarbeiter?
Ich glaube, ich bin sehr berechenbar für sie. Ich bin sehr klar, weil ich genau sage, was ich wann und wie will. Ich rufe sie jetzt nicht um ein Uhr morgens aus Sao Paulo an und sage: „Ey, du sollst noch die Korianderkresse zupfen und auf die Ente machen!“ Ich stufe ab. E-Mails sind kein Call-to-Action. Wenn es ein Call-to-Action ist, dann ist es eine WhatsApp. Da steht auch drin: morgen Stubenküken, Korianderkresse, keine Korianderblätter mehr. Aber auch da bin ich nicht mehr so wie früher. Es muss nicht alles sofort in dieser Sekunde sein.
Die Entscheidung, eine Unternehmung zu starten oder einen Fernsehauftrag anzunehmen – ist die sehr schnell getroffen oder zweifelst du?
Wenn ich etwas wirklich in meinem Leben noch nie hatte, waren es Zweifel bei Entscheidungen. Als die Anfrage kam, die Gastronomie im Fernsehturm in Berlin zu betreuen, da habe ich keine Tausendstelsekunde nachgedacht. Natürlich wusste ich sofort, dass da ein Rattenschwanz an Herausforderungen und Problemen dranhängt. Aber da wäre ich doch geistig umnachtet, wenn ich das nicht machen würde als Berliner Junge!
Der entscheidende Faktor war, dass du Berliner bist?
Ja, natürlich. Bei uns steht der Fernsehturm in der Mitte der Stadt. Das ist nicht so wie in den meisten anderen großen Städten. Das Ding hat 1,2 Millionen Besucher im Jahr. Das ist ein touristisches Highlight. Und die Möglichkeit zu haben, in dem höchsten Restaurant in einem Gebäude in Berlin eine Hütte zu machen, wo du tatsächlich für Berlin und Brandenburg ein lokales kulinarisches Konzept realisieren kannst, das muss ich annehmen.
Dort muss es also Berliner Küche sein, Westberliner oder Ostberliner?
Beides. Wir werden genau das vermischen. Wir haben angefangen mit den simpelsten Sachen. Ich habe mit dem Landhof Torsten Rahlf dessen Currywurst gepimpt. Und wir haben mit ihm Frikadellen gemacht. Wir planen außerdem seit Wochen das Berliner Schnitzel. Ich möchte keine Pasta, keinen Burger oder so was haben. Weil das nicht Berlin ist. Ich versuche mich dem aber immer so zu nähern, dass ich den Menschen zuhöre, die dort vor Ort sind. Und so weit mitgehe, wie es für mich nachvollziehbar ist. Aber am Schluss entscheide ich, was ich will. Und wie ich es will. Und da bin ich sehr, sehr konsequent.
Currywurst und Sterneküche. Zwei Welten?
Im Zentrum ist das Restaurant Tim Raue. Der Diamant. Völlig außer Frage. Es ist aber nicht so, dass heutzutage das eine nicht ohne das andere existieren könnte. Das hat alles einen unterschiedlichen Anspruch. Aber wenn ich an eine Currywurst rangehe, gehe ich mit der gleichen Intensität an sie heran wie an einen neuen Kaviargang.
Die Restaurantkritik hat viel auf Köche geschimpft, die nebenher sehr aktiv sind. Angst, dass irgendjemand sagt: So viele Aktivitäten, wann kocht der eigentlich?
Ich bin Unternehmer. Ich muss von dem, was ich mache, nicht nur leben, ich muss auch die Menschen um mich herum bezahlen. Und ich komme eben nicht aus der deutschen Sichtweise, sondern aus der amerikanischen. Und da muss jede Unit, die du aufmachst, ein Business-Case sein.
Eine Facette meiner Persönlichkeit ist der Küchenchef. Das ist eine unfassbare Diva.Tim Raue
Was braucht es dafür?
Ich habe den Menschen vom ersten Tag an beigebracht: Ich bin ersetzbar. Dementsprechend rekrutiere ich Mitarbeiter, die mich ersetzen können. Das heißt auch, dass das Menschen sind, die unterschiedlich gepolt sein müssen, damit ein Team funktioniert. Du brauchst jemanden, der konsolidieren und auf einem sehr hohen Niveau mit sehr geringen Schwankungen arbeiten kann, um das Operative zu leiten. Und du brauchst jemanden, der sehr kreativ ist, der eher Schwankungen unterliegt. Und das musst du miteinander kombinieren.
Wie ist das bei dir?
Ich trage beide Seiten in mir – mit meinen Stärken und Schwächen. Ich habe einen sehr starken künstlerischen Part als eine Facette meiner Persönlichkeit: den Küchenchef. Das ist eine unfassbare Diva – die achtet nicht auf Kosten, auf gar nichts. Wenn ich anfange, den gestalterischen Part sofort mit einer Kostenstruktur zu ummanteln, habe ich nicht die Freiheit zu kreieren. Wenn ich kreiert habe, dann kommt der Unternehmer und schaut noch mal drauf und sieht halt: Du kannst im Sieben-Gang-Menü nicht dreimal Kaviar geben. Unternehmerisch kannst du dir das nicht leisten.
Wie entscheidend ist der Druck der Restaurantkritik?
Ich habe früher auch nach der Pfeife der Kritiker getanzt und habe mir diesen Druck gemacht: Du musst, du musst, du musst. Heute bin ich davon völlig befreit. Das kann ich, weil ich ein gewisses Alter und mir ein gewisses Standing erarbeitet habe. Und nicht mehr davon abhängig bin, wie viel Sterne, Punkte, Hauben und Kochlöffel drüberhängen. Natürlich habe ich den Anspruch, etwas Neues zu kreieren. Aber ich habe halt auch schon 33 Spargelsaisons in meinem Leben erlebt. Und völlige Schwachsinnsnummern mit Spargel gemacht, an die ich mich glücklicherweise nicht mehr erinnere.
Beethoven war, als er seine Neunte geschrieben hat, angeblich taub. Schmeckst du Gerichte, wenn du sie dir ausmalst?
Ja, und ganz oft schmecke ich sie falsch. Dann schreibt mir Leon, mein Küchenchef und kreativer Pingpong-Spieler: „Chef, Sie haben geschrieben, Forellenmus mit Hafersahne. Ich habe anstatt Forelle Pfeffermakrele eingesetzt. Ich glaube, das ist kräftiger.“
Moment, die engsten Mitarbeiter siezen dich, die kumpelige Fernsehrampensau?
Ja. Alle Mitarbeiter.
Das hätte ich nicht erwartet.
Das ist einfach eine gesunde Abgrenzung im Miteinander. Ich hatte Mitarbeiter, die mich duzen durften. Das hat nicht gut funktioniert. Für sie.
Glaubst du, es liegt am Duzen?
Ja. Ich bin der festen Überzeugung, dass du damit eine Schwelle übertrittst. Hier geht es gar nicht darum, wie ich damit umgehe. Ich bin relativ entspannt, was das Thema angeht. Mich stört das nicht. Mich können auch irgendwelche Leute beim Fernsehen duzen, da tun das alle.
Wir duzen uns auch.
Ja, wir kennen uns lange. Heutzutage bin ich in dem Punkt nicht mehr so strikt, weil ich meine Autorität so durchsetze, wie ich will. Was ich aber gar nicht abkann, ist, wenn die andere Seite anfängt zu glauben, dann auf Augenhöhe zu sein, in einer Art und Weise, die mir nicht entspricht. Und ich repräsentiere mit mir selber ja viele Unternehmen. Es gibt Leute, die das dann fehlinterpretieren.
Nur Mitarbeiter?
Auch Geschäftspartner, die im Restaurant sagen: „Wir kennen uns so lange, wir können uns doch jetzt duzen.“ Ich sage: „Business ist Business.“
Und wenn du im englischsprachigen Raum wärst?
Dann bin ich für die Leute eben „Chef“. Da ist Chef Tim, eine Formulierung, wie sie in französischen Küchen Standard ist. Im englischsprachigen Raum sind Hierarchien viel eindeutiger definiert. Es ist ja gerade Deutschland, das glaubt, es müsste das abschaffen. Aber jedes große Unternehmen, das ich kenne, fast jedes, ist hierarchisch aufgebaut. Alle erzählen dir, wir haben flache Hierarchien. Am Schluss ist es doch immer ein Großfürst oder eine Großfürstin, die alles entscheidet, und zwar auch Sachen, die sie beileibe nicht entscheiden sollten. Und ich tue gar nicht so, als hätte ich flache Hierarchien, sondern sage ganz klar: Am Ende des Tages entscheide ich in meinen Bereichen alles.
Hat das Wurzeln?
Für mich ist es wichtig, die Älteren zu respektieren. Ich bin vor allen Dingen mit der türkischen Kultur groß geworden in Kreuzberg. Da war der Ältere immer und unumstößlich eine Respektsperson und das wurde nicht infrage gestellt. Mir geht es aber nicht darum, dass ich nicht infrage gestellt werde.
Sondern?
Mir geht es einfach darum, dass da eine Übergriffigkeit entsteht, die ich nicht möchte. Das hängt aber auch ein bisschen damit zusammen, dass die Entwicklung als öffentliche Person dafür sorgt, dass mich die Menschen auf der Straße sowieso alle duzen. Die kennen mich aus dem Fernsehen und denken, sie können mit mir umgehen, wie Tim Mälzer mit mir spricht. Und das ist natürlich ein Eingriff in meine Persönlichkeit. Ich werde auch einfach ohne zu fragen angefasst. Das sind Sachen, die ich überhaupt nicht leiden kann.
Hast du Vorbilder für deine Art zu arbeiten?
Ich habe jemanden gehabt, der mich sehr geprägt hat. Das war Marco Pierre White, der mit seinem Buch „White Heat“ ganz, ganz großen Einfluss auf mich hat. Weil er wie ein Hooligan in der Küche gewütet hat, weil er weit über jede Grenze hinausgegangen ist. Einer der schönsten Sprüche von ihm war: „Gott hat dir die Hände nicht gegeben, damit du sie dir nicht verbrennst.“ Das ist natürlich sehr, sehr archaisch. Aber es ist etwas, was ich für mich vereinnahmt habe. Wenn du Außergewöhnliches leisten möchtest, dann musst du eben auch mal leiden können.
Aber so wie White sich in der Küche verhalten hat, würdest du dich ja selber nicht mehr verhalten ...
Das mache ich schon lange nicht mehr, weil ich irgendwann angefangen habe, Therapien zu machen. Aber da ich das von ihm übernommen habe, habe ich das anfänglich für richtig gehalten. War es nicht.
Hast du denn selbst solche Chefs gehabt?
Wo ich meine Ausbildung gemacht habe, klar, da wurde nur geschrien, mit Löffeln geworfen ...
Und das fandest du in der Situation auch nicht gut, oder?
Ich fand es zwar nicht gut, aber es hat tatsächlich motiviert, schneller zu machen. Das war der ultimative Call to Action. Es war klar, du musst das jetzt machen. Da brennt vorne wirklich die Hütte. Schreien und solche Reaktionen sind ja ein Zeichen von Überforderung. Und die Überforderung war da. Die Überforderung ist aber in jedem Restaurant der Welt da. In jedem.
Laut sein als Hilferuf?
Ja, Schreien ist dann auch ganz gut, finde ich. Dann geht der Scheiß raus. Es geht darum: Schreist du jemanden an und beleidigst du ihn? Oder sagst du einfach nur „verfluchte Scheiße“? Warum haben die wieder irgendwelche Zickereien, Allergien und Unverträglichkeiten, die sie uns nicht im Vorfeld mitteilen können, obwohl wir ihnen drei E-Mails schicken und nachfragen? Und warum müssen wir jetzt den Gang umbasteln? Es ist in der Küche immer so, dass du zu viele Bestellungen mit zu wenig Köchen und Köchinnen in zu wenig Zeit zubereiten musst. Ist so. Es ist vom Burgerladen bis zum Restaurant so.
Von meinen Gästen, die sich vegan ernähren, habe ich gelernt, dass es ihnen eben nicht reicht, nur Gemüse zu essen.Tim Raue
Was tust du gegen Überforderung?
Yoga, Sport, also Ausgleichssport, Massagen, Spaziergänge, schlafen. Ruhige Tätigkeiten. Fußball würde ich gerne spielen, lässt sich überhaupt nicht in meinen Alltag integrieren. Keine Chance.
Was ist deine Erwartung an Bewerber?
Vor allen Dingen geht es mir darum, dass jeder sich hier einbringt, dass jeder wachsen kann und Teil des Ganzen wird. Und auch Verantwortung übernehmen möchte.
Wenn du mit den jungen Menschen sprichst, wie findest du das raus? Fangfragen?
Im Endeffekt weiß ich es leider sehr, sehr schnell. Ich sehe es in und an den Augen. Du siehst, ob jemand wach ist. Du siehst, ob da Begeisterung aufkommt. Ob da was passiert, wenn ich mit ihnen durch die Küche gehe, sie etwas essen. Ich lege unheimlich viel Wert darauf, dass die Menschen intelligent sind. Das ist mir extrem wichtig.
Warum?
Ich habe früher in der Küche wirklich auch absolute Chaoten, Raufbolde und Hooligans gehabt und habe das mit denen zusammen geschafft. Aber eher über die emotionale Ebene. Über dieses „Wir gehören zusammen, wir sind die Härtesten, wir sind die Tollsten“. Und die Zeit war auch wichtig, um zu begreifen: Das möchte ich nicht mehr. Ich möchte diese Art und Weise des Umgangs nicht mehr. Ich möchte ein anderes Miteinander. Und das habe ich mir erarbeitet und geschaffen.
Du setzt bei veganen Gerichten im Gegensatz zu vielen anderen auf Ersatzprodukte, die Fleisch oder Fisch nachahmen. Warum?
Weil ich von meinen Gästen gelernt habe, dass es ihnen, wenn sie sich vegan ernähren, eben nicht reicht, nur Gemüse zu essen. Sondern dass sie etwas brauchen, worauf sie kauen können, wo sie tatsächlich visuell und texturell einen Ersatz spüren, damit fühlen sie sich gut. Aber dass sie jetzt sagen, ich verzichte auf ein Steak, ich esse einfach eine geschmorte rote Beete, damit bin ich nicht vorwärtsgekommen. Deshalb habe ich Partner gesucht, die wirklich nichts an Pülverchen nehmen. Das dauert alles ein bisschen länger, aber die Produkte finde ich sensationell. Da lasse ich auch nicht mit mir rumdiskutieren. Da sage ich: Ich mache es, ich serviere es. Wenn das dann irgendjemand nicht will, dann ist das halt so. Das ist aber nicht mein Problem.
Die Wünsche der Gäste haben sich geändert, der Trend zu vegetarisch und vegan ist stark.
Bei den Gästen, die bei uns zwischen 15 und 45 sind, isst die Hälfte vegan. Das ist ein ganz klarer Lifestyle. Wenn sie die Chance haben, sich vegan zu ernähren, dann sofort.
In der Sendung Star Kitchen geht es darum, dass du mit Köchen berätst, wie sie Michelin-Sterne erlangen oder einen mehr bekommen. Was würde die Fernsehfigur Tim Raue dem Tim im Restaurant vorschlagen, um von zwei auf drei Sterne zu kommen?
Nichts. Ich habe über die Zeit immer wieder Kontakt zu Michelin
gehabt, als wir vor zwölf Jahren keinen zweiten Stern gekriegt haben. Das war ein wirklich entscheidender Moment für uns. Das war hier wirklich Hölle. Ich bin zur Arbeit gekommen und alle haben geflennt, alle waren riesig enttäuscht. Und ich habe gesagt: „So eine Scheiße.“
Und dann?
Ich habe mich mit dem Michelin hingesetzt. Was ist das Problem? Und dann haben die mir einfach mal gezeigt, was sie für Bewertungen haben. Welche Gerichte ihnen gefallen haben, welche nicht. Und wir haben sofort im nächsten Jahr zwei Sterne gekriegt. Und dann ging es natürlich irgendwann um den dritten. Und dann kam der Michelin auf uns zu und es gab ein Gespräch. Und der Michelin hat gesagt: „Herr Raue, die Küche, die Sie da machen, ist uns zu viel. Sie haben absolute Individualität für drei Sterne. Sie nehmen die besten Produkte. Das würde auch für drei Sterne reichen. Aber diese süße Säureschärfe. Wir suchen mehr nach Finesse, nach Harmonie.“
Zu schwierig?
Nein, wir haben uns hingesetzt, im Team darüber gesprochen und geguckt: Wo stehen wir heute? Was haben wir? Wir haben eine Netflix-Sendung. Wir sind unter den World’s 50 Best Restaurants. Wir haben diese und jene Punkte in den Restaurantführern. Und wir haben nicht drei Sterne. Wenn wir unsere Küche umstellen – kriegen wir das hin? Können wir finessenreicher kochen?
Und, könnt ihr?
Ja, schaffen wir. Bin ich mir ganz sicher. Kriege ich hin. Aber ist das dann Tim Raue? Nein. Wir haben so viele Gäste, die sagen: „Wow, also bei Ihnen ist es ganz anders als überall sonst.“ Und das ist es doch, worum es für mich geht. Höchstmögliche Individualität, absolute Unverwechselbarkeit. Dass jemand, der bei Tim Raue essen war, sagt: „Das kann ich nur dort so essen.“
Tim, danke für das Gespräch.
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