Ich kann Diversity-Anzeigen nicht mehr ertragen – weil oft nichts dahintersteckt
Homeoffice-Regelung, Diversity, Social Days: Wenn ich auf Stellenausschreibungen schaue, muss ich manchmal den Kopf schütteln. Denn oft steckt dahinter nicht viel mehr als Marketing, leere Hülsen, die nicht mit Leben gefüllt werden.
Ich verstehe natürlich, woher das Bedürfnis kommt, all diese „New-Work-Anreize“ zu bewerben, aber in einem Unternehmen mit einer gesunden Kultur und einem guten Werteverständnis sollten diese Dinge doch eigentlich selbstverständlich sein .
Themen wie Diversity, Inklusion und Nachhaltigkeit sind im Moment für mich typische Aushängeschilder, die sich Unternehmen stolz auf die Fahne schreiben, um ihr Employer-Branding zu stärken. Leider steckt dahinter aber nicht viel mehr als Marketingaktionen, leere Hülsen, die nicht mit Leben gefüllt werden. Vielmehr noch: Im Jahr 2021 sehe ich es als Selbstverständlichkeit für mich an, dass diese Ideen und Werte gelebt werden, ohne sich dafür auch noch selbst das Prüfsiegel verleihen zu müssen. Und ich bin überzeugt, dass es sich Unternehmen heute ohnehin nicht leisten können, sich nicht für diese Themen einzusetzen.
Die „Trendthemen“ finden im Mittelstand schon lange statt
Ich habe ein inklusives Team, rollstuhlgerechte Büros, Leute, die mit flexiblen Arbeitszeiten oder komplett remote arbeiten. Bei uns waren schon immer etwa gleich viele Männer und Frauen im Betrieb. Für mich sind diese Faktoren so alltäglich, dass ich sie nicht ständig in den Vordergrund stellen muss. Darum verstehe ich manchmal die ganzen Diskussionen auch nicht – wenn ich mich in den mittelständischen, oft familiengeführten Unternehmen in meinem Umfeld umschaue, dann sehe ich so ein hohes Commitment den Mitarbeitern gegenüber – diese ganzen vermeintlichen Trendthemen finden dort ohnehin schon lange statt. Und wer noch hinterherhinkt, der ist aufrichtig bemüht, den Status quo zu verändern, ohne das gleich an die große Glocke zu hängen.
Was es stattdessen braucht, um eine fruchtbare Kultur zu etablieren, Fachkräfte anzuwerben und auch zu halten? Für mich sind das Offenheit, Vertrauen und eine Führungskraft, die nicht nur über Werte spricht, sondern sie wirklich vorlebt. Ich habe eigentlich genau eine Regel für mich aufgestellt, und die besagt, dass ich meine Mitarbeiter immer in den Fokus stelle. Mit ihnen spreche und sie frage, was sie brauchen, um gut arbeiten zu können. Wir reden nicht nur darüber, wir setzen auch tatsächlich um.
Darum brauchen wir keine offiziellen Homeoffice- oder Arbeitszeitenregeln. Und auch keinen Berater, der von außen kommt und uns erklärt, wie unsere Kultur aussehen sollte. Als Chefin ist es meine Verantwortung, meine Werte selbst voranzutreiben. Das sollte selbst größeren Organisationen gelingen, die natürlich mehr verbindliche und formale Vereinbarungen festhalten müssen, als ich das als kleine Mittelständlerin muss.
Der Mensch muss im Fokus stehen
Darum frage ich nach, welche Bedürfnisse die Menschen haben. Wenn wir diese kennen, können wir gemeinsam schauen, was wir wie umsetzen, welche Ressourcen es dafür braucht und natürlich auch wie das Konzept wirtschaftlich bleibt. Wir haben zum Beispiel einen neuen Kollegen, der in Koblenz wohnt – es wäre überhaupt nicht effizient, wenn er jeden Tag in die Firma nach Aschaffenburg kommen müsste. Also kann er natürlich aus dem Homeoffice arbeiten. Er kommt jetzt alle zwei Wochen vorbei, um die Bindung nicht zu verlieren – die beste Lösung für alle. Oder wenn Eltern ihre Kinder aus der Kita abholen müssen, dann können sie sich ihre Zeit selbstverständlich flexibel einteilen. Wenn das nicht so wäre, würden sie wahrscheinlich schnell in Stress geraten, und darunter leiden am Ende alle Beteiligten, ebenso wie die Arbeit.
Damit Mitarbeiter ihre Bedürfnisse offen und angstfrei kommunizieren können, braucht es natürlich eine vertrauensvolle Kultur – und die entsteht nicht einfach so über Nacht, die muss sich in der Firma verankern. Als ich damals, mit 18 Jahren, das Unternehmen von meinem Vater übernahm, hatte ich von vielen Dingen überhaupt keine Ahnung. Aber mein Vater hat mir immer den Rücken gestärkt, hat mir vertraut, dass ich das hinbekomme. Deswegen habe ich an mich geglaubt. Und genau das möchte ich meinen Mitarbeitern auch mitgeben und Vertrauen zur Grundlage machen.
Führungskräfte dürfen Schwäche zeigen
Dafür hilft es, als Führungskraft nahbar zu schein und Schwäche zu zeigen. Ich mache keinen Hehl daraus, wenn es mir nicht gut geht, ich spreche über mentale Gesundheit, darüber, wie ich mit Stress umgehe. Die Offenheit, die es dafür braucht, ist – ebenso wie das Vertrauen – tief in unserem Wertesystem verankert. Das tägliche gemeinsame Erleben dieser Werte, die wir im Team gemeinsam erarbeitet haben, stiftet Identität und ist Grundlage für unsere Kultur. Wenn sich alle im Team auf die gleichen Werte besinnen und auch danach handeln, dann stärkt diese Verbundenheit das Gemeinwohl – und Menschen kommen gern zur Arbeit und bleiben für gewöhnlich länger in der Firma, anstatt sich alle paar Jahre nach einem neuen Job umzusehen.
Unternehmenskultur muss vorgelebt werden, ich sehe es als meine Aufgabe, als gutes Beispiel voranzugehen. Gleichzeitig ist Kultur keine Einbahnstraße und kann nicht von der Führungsetage als Regelwerk festgelegt werden. Am Ende entsteht sie vor allem im Zusammenspiel von all den Menschen, die hier zusammenkommen. Und sie wird erst dann erfolgreich, wenn jeder sich so sehr damit identifizieren kann, dass sie im gelebten Miteinander immer weiterwachsen und sich neu erfinden darf. Erst wer das zur Meisterschaft gebracht hat, kann damit auch mal nach außen stolz für sich werben.