„Ich trank morgens das erste Bier und während der Arbeit nur noch Wein“
Hoch geflogen, tief gefallen: Mit 22 Jahren wird Daniel Wagner Werbetexter bei einer großen Agentur – und verfällt dann dem Alkohol. Wie man mit der Sucht lebt und überlebt.
Frankfurt. Ein Junge aus Villach im österreichischen Kärnten zieht mit 20 Jahren und großen Träumen im Gepäck in die Hauptstadt Wien. Um Karriere zu machen, Werber zu werden, Claims zu entwerfen, Kampagnen zu entwickeln.
Daniel Wagners Weg scheint vorgezeichnet: Mit 22 Jahren beendet er den Diplomlehrgang Advertising & Brand Communication an der Wiener Werbeakademie als Jahrgangsbester. Die größte österreichische Agentur Demner, Merlicek & Bergmann wirbt ihn ab. Wagner startet als Texter durch, arbeitet 70 Stunden die Woche, gewinnt mehrere Kreativ-Awards.
Dann kommt alles anders.
Erst greift er ab und zu zur Flasche, um Ängste zu lindern und Stress zu mindern. Dann erkrankt seine Mutter an Krebs und stirbt. Wagner verzweifelt – und trinkt immer mehr. Bier und Schnaps und Wein in rauen Mengen, jeden Tag, von früh bis spät, bei der Arbeit, zu Hause, mit Freunden, Bekannten, Kollegen, alleine.
Seinen Schmerz hat er im Buch „Trocken“ verarbeitet. Hier verrät Wagner, wie sehr ihn das Milieu in der Werbebranche zum Alkoholiker machte, wie er die Sucht bekämpfte – und Heilung fand.
Lesen Sie hier das ganze Interview mit Daniel Wagner:
Herr Wagner, in Ihrem Buch „Trocken“ über Ihre Erfahrungen als Ex-Alkoholiker und den langen Weg aus der Sucht vergleichen Sie Ihr Verhältnis zum Alkohol mit einer Liebesbeziehung. Begann die, wie die meisten ersten Lieben, intensiv und berauscht?
Zumindest wartete ich brav damit, bis ich 16 war. Dann kam der erste Schluck. Die Wirkung begeisterte mich, ich war schockverliebt in diese Substanz, die vermeintlich alle Probleme löst und alle Ängste nimmt. Auf der Gefühlsebene war Alkohol fortan sehr wichtig für mich. Die Wochenenden drehten sich alle nur um den nächsten Rausch.
Süchtig waren Sie damals noch nicht.
Zwar hatte ich meinen Konsum noch unter Kontrolle – dennoch nahm Alkohol schon damals einen viel zu großen Raum ein. Ich trank jedes Wochenende, oft bis zum Kotzen. Doch erst später zentrierte ich mein ganzes Leben um die Droge. Nachdem ich mit 20 Jahren von Kärnten nach Wien zog, Kommunikation studierte, Werbetexter wurde.
An der Wiener Werbeakademie waren Sie Jahrgangsbester, dann warb Sie die größte österreichische Werbeagentur Demner, Merlicek & Bergmann ab. Sie starteten als Werbetexter durch und gewannen mehrere Kreativ-Awards.
Ich liebte das Texthandwerk. Mit 22 Jahren war ich einer der Jüngsten in der Agentur, arbeitete 70 Stunden pro Woche, wollte mich beweisen.
Und dazu brauchte es Alkohol?
Im ersten Jahr war ich meist noch nüchtern, im zweiten wurde es dann problematisch. Hier das Bier in der Mittagspause, dort abends den Wein mit den Kollegen, am Wochenende drehte sich eh alles um Alkohol. So schlich sich die Droge immer stärker in mein Leben ein. Irgendwann trank ich morgens schon das erste Bier und während der Arbeit nur noch Wein.
Wie sehr hat auch das Umfeld in der Werbebranche Ihre Suchterkrankung befördert?
Ich wäre in jeder Branche Alkoholiker geworden. Ich bin ein Suchtcharakter, mache Dinge entweder ganz oder gar nicht, bin da extrem. Doch natürlich wird in der Werbebranche viel gefeiert. Es gibt viele Galas, Abendveranstaltungen und Preisverleihungen, das hilft dem Süchtigen sicherlich.
Haben wir als Gesellschaft ein Alkoholproblem?
Absolut. Unser Umgang mit Alkohol, wie wir zur Substanz aufklären, wie wir Süchtige behandeln, ist problematisch. Das gilt für Österreich und alle anderen westlichen Länder.
Ist das nicht etwas übertrieben?
Ich bin absolut kein Gegner von gepflegten Räuschen, um der Welt ab und zu mal zu entfliehen. Aber Alkohol ist so tief in unserer Gesellschaft verwurzelt und verflochten, dass wir der Droge viel schwerer entkommen als begegnen. Alkohol prägt unsere Kultur, unseren Umgang, unser Miteinander. Wir alle werden damit sozialisiert, wenn wir erwachsen werden.
Und wenn wir anfangen zu arbeiten?
Besonders dann. Überall, wo viel Druck und Stress herrscht, brauchen Menschen einen Ausgleich. Manche machen das auf gesunde Art mit Sport oder Mediation. Andere nehmen den kurzen Weg und setzen auf Drogen. Aus dem Feierabendbier werden dann schnell sechs Bier und aus dem Abendessen mit Weinbegleitung vier Flaschen Wein. Als gesellschaftsfähige Droge bietet Alkohol überall niederschwellige Fluchtmöglichkeiten.
Ich setzte Alkohol als Medizin ein, war nur berauscht lebensfähig.
An keine Substanz kommt man so leicht ran wie an Alkohol. Welche Rolle spielte der hohe Leistungsdruck im Job beim Entstehen Ihrer Sucht?
Eine sehr große. Ich musste rund um die Uhr kreativ sein, dieser Druck laugte mich stark aus. Ich brauchte Alkohol, um es durch den Tag zu schaffen, mich emotional zu regulieren, die Ruhe zu wahren, Ängste zu bewältigen. Ich setzte Alkohol als Medizin ein, war nur berauscht lebensfähig.
Wieso das?
Ich lebte nicht authentisch. Mit 20 Jahren und dem Umzug nach Wien hatte ich mir das Ideal eines Lebens erschaffen, das ich gerne führen würde, das Ideal einer Person, die ich gerne wäre: der soziale, erfolgreiche, beschäftigte Großstadt-Mensch. Dem wollte ich auf Biegen und Brechen entsprechen. Und traf dabei viele falsche Entscheidungen.
Sie lebten ein Leben, das sich falsch anfühlte.
Genau. Ich war weit weg von der Heimat und Familie. Wien war zu groß für mich. Zu laut, zu viele Reize, zu viel Hektik, zu viel Stress. Als Asperger-Autist fiel es mir schwer, in der Großstadt zu leben. Das Leben, was ich unbedingt wollte, passte gar nicht zu mir. Doch ich wollte es mir unbedingt beweisen und weiter funktionieren – bloß nichts ändern, denn das wäre ja Scheitern, dachte ich damals. Das ging nur mit Alkohol. Die Sucht begrub alles, was meiner Persönlichkeit entsprach. Ich kannte mich selbst nicht, wusste nicht, wer ich bin, was ich will, wie meine Grenzen aussehen. Ich ging jahrelang über meine Grenzen.
Dann wurde Ihre Mutter auch noch schwer krank.
Als ich 23 Jahre alt war, erkrankte sie an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Die Ärzte gaben ihr noch ein halbes Jahr. Nach ihrem Tod wurde ich eine Woche freigestellt – dann arbeitete ich wieder 70 Stunden pro Woche. Ich wollte der Realität nur noch entfliehen. Anflügen von Trauer, Angst, Panik begegnete ich mit Alkohol. Nur so kam ich noch klar. Wenn man so viel trinkt, führt das zu Problemen, die man dann wiederum mit mehr Alkohol bekämpft. So gerät man in eine Abwärtsspirale, verfällt psychisch und physisch immer mehr.
Die meisten Suchtkranken werden nicht einfach so abhängig. Die Substanz findet ihren Weg auf einem Nährboden, dockt an an eine gewisse innere Leere, die die Droge füllt und verdeckt. Was war das bei Ihnen?
Wohl die Angst. Meine Kindheit und Jugend waren schön, ich war glücklich und zufrieden – wenngleich immer schon sehr schüchtern, ängstlich und zurückhaltend. Behielt Probleme für mich, teilte meine Sorgen nicht mit. Ausgehen, Freunde treffen, Kontakte pflegen – das alles ging betrunken viel leichter von der Hand. Dank des Alkohols konnte ich ein wildes Leben führen und Sachen erleben, die sonst unmöglich gewesen wären.
Der Preis dafür war hoch. Im Buch „Trocken“ schildern Sie, wie Sie im Sterbejahr Ihrer Mutter stets betrunken gewesen waren, sogar bei ihrem Tod, bei ihrer Beerdigung.
Die Sucht hatte Vorrang, das Leben drumherum war Beiwerk. Mehr als drei Jahre lang trank ich jeden Tag, und zwar extrem, eine Kiste Bier. Meist wachte ich morgens um sechs Uhr früh mit Suchtdruck auf und versuchte, so schnell wie möglich auf einen Pegel von drei bis vier Promille zu kommen. Um endlich nicht mehr zu zittern und durchzudrehen.
Mehr als dreieinhalb Jahre haben Sie das durchgehalten und weiter als Werbetexter gearbeitet. Wie geht das?
Bei der Arbeit fiel schon auf, dass es mir nicht gut ging. Ich schloss mich auch mal auf dem Klo ein, um Whisky zu trinken. Doch dass meine Mutter gestorben war, das wussten ja alle, half der Sucht kurioserweise. Denn dann konnte ich im Job alle meine Probleme darauf schieben.
Bis zum tiefen Fall. Gab es einen Punkt, an dem Sie gemerkt haben: Genug ist genug, nun ist echt zu viel?
Ich realisierte sehr lange nicht, wie schlimm meine Lage war – ganz im Gegenteil rechtfertigte ich sie auch noch vor mir selbst. Problematisches Trinkverhalten? Ich doch nicht! So erreichte ich 2017 einen Punkt, an dem ich mein Leben beenden wollte. Dabei spürte ich einen unbändigen Überlebenswillen, zum ersten Mal seit Jahren. Ich wollte jahrelang nur sterben – und spürte dann, dass nicht ich sterben wollte, sondern das Leben enden musste, das ich da führte.
Ich musste ganz neu lernen, mich und das Leben zu spüren. Als ich trocken wurde, war ich anfangs gar nicht lebensfähig.
Sie kündigten Ihren Job, zogen zurück nach Villach, machten zwei Entzüge, in einem psychosomatischen Krankenhaus und in der Psychiatrie.
Nach den Jahren im Suchtverlies wusste ich gar nicht mehr, wie sich ein nüchternes Leben anfühlt. Was ich kannte, war Rausch, Rausch, Rausch. Ich musste ganz neu lernen, mich und das Leben zu spüren. Als ich trocken wurde, war ich anfangs gar nicht lebensfähig.
Was half auf diesem Weg am meisten?
Der ganze Heilungsprozess hat lange, mehr als fünf Jahre gedauert. Ohne einen großen inneren Willen geht es nicht. Fühlt es sich wie ein „Ich müsste aufhören“ oder „Ich sollte aufhören“ an, wird es schwierig bis unmöglich, der Sucht zu entfliehen. Auch ein unterstützendes Umfeld ist enorm wichtig. Familie und Freunde, die mich nicht aufgegeben haben, mich in schwachen Momenten weiter ermutigten. Auch die Entzüge haben sehr geholfen und das Verarbeiten meiner Erlebnisse durch das Schreiben an meinem Buch.
Klingt ganz schön beschwerlich.
Es war teils scheußlich. In der ersten Zeit ohne Alkohol konnte ich dem Leben nichts abgewinnen. Alles war schwer und neu, dazu fehlten mir neue Werkzeuge der Emotionsregulation und Lebensführung, nachdem der Alkohol als Bewältigungsstrategie weggefallen war. Doch um eine Sucht zu überwinden, braucht es diese radikale Offenheit zu sich selbst: Woher rührt mein problematisches Trinkverhalten? Wieso brauche ich den Konsum immer wieder? Welche Leere stopft er? Wann wird es echt schädlich? Nimmt eine Droge viel mehr, als sie gibt, ist der Kipppunkt schon lange erreicht. Dann sollte man unbedingt Psychotherapie machen, davon bin ich großer Fan.
Nun sind Sie schon seit 2019, also seit sechs Jahren wieder nüchtern. Komplett?
Es gab einen dramatischen Rückfall. Drei Monate nach dem stationären Entzug griff ich wieder zur Flasche. Dass das passiert, war klar, die Frage war nur wann. Weil ich damals noch die Illusion hatte, irgendwann wieder kontrolliert trinken zu können. Einen Wunsch, den viele Alkoholiker teilen.
Doch das klappt meist nicht.
Nein, in 99 Prozent der Fälle klappt das nicht. Denn das Suchtgedächtnis vergisst nichts: Egal, wie viel Zeit vergeht, konsumierst du eine Substanz plötzlich wieder, dockt sie beim letzten Stand der Sucht an und du bist wieder völlig drin.
Ein solcher kontrollierter Konsum ist nach einer Abhängigkeit meist nicht möglich.
Nein. Doch dieser Rückfall war nötig, um mir vor Augen zu führen, dass Alkohol und ich schlicht nicht zusammen funktionieren. Das Zeug fasse ich nie mehr an. Ich vermisse es nicht, ich verzichte auch nicht. Rauschzustände erlebe ich auf andere Art und genieße das Leben nüchtern. Ich muss nicht mehr kompensieren und fliehen, es gibt da keine Leere mehr, die Alkohol füllen müsste. Ich bin zufrieden, blicke optimistisch in die Zukunft. Seit ein, zwei Jahren spüre ich ein tiefes Vertrauen in mich und das Leben, von dem lasse ich mich tragen.
Herr Wagner, vielen Dank für das Interview.
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