Im Sog der Technik
Ingmar Höhmann, Michael Leitl -
Die Disruption einer Branche wird in der Regel begleitet von Schreckensnachrichten über sinkende Umsätze, von der Hilflosigkeit im Umgang mit neuen Wettbewerbern und von Erfolgsgeschichten zunächst belächelter Underdogs. Eine der Branchen, der diese Art von Doomsday-Erlebnis bevorsteht, ist die der Unternehmensberater. "Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Disruption im Beratergeschäft voll zuschlägt", schrieb Harvard-Professor Clayton Christensen im November 2013 im Harvard Business Manager und zeichnete ein Bild geprägt von Konsolidierung und Wettbewerb.
Vordergründig hat sich seither wenig getan. Das Beratungsgeschäft boomt regelrecht. Die bekannten Marken McKinsey, Boston Consulting Group (BCG) und Bain sowie die Wirtschaftsprüfer beherrschen wie eh und je die vorderen Plätze im Ranking. Die Umsatzkurven weisen steil nach oben. In Deutschland hat sich der Beratungsmarkt von 2005 bis 2015 auf knapp 30 Milliarden Euro mehr als verdoppelt. Nach Informationen von manager magazin wuchsen die drei Topberatungshäuser 2015 in Deutschland mit zweistelligen Raten. Und auch die Zahl der Beratungsunternehmen ist nicht geschrumpft.
Ein genauerer Blick offenbart: Viele der von Christensen angekündigten Veränderungen sind in vollem Gang. Seit 2013 steigt die Zahl der Fusionen und Übernahmen in der Branche. Jüngstes Beispiel ist der für den Sommer geplante Kauf des globalen Beratungsunternehmens CEB durch die Gartner Group. Mit großem Erfolg weiten auch die Wirtschaftsprüfungen ihr Consultinggeschäft aus. Weltweit beraten sie gemessen am Umsatz mehr als die klassischen Anbieter. Von 2010 bis 2015 legte das Beratungsgeschäft der größten Wirtschaftsprüfer Ernst & Young, Deloitte, KPMG und PwC um 64 Prozent zu. Dazu kommen zahlreiche neu gegründete Unternehmen, die vor allem im Bereich der Digitalisierung und Innovation ihre Dienste anbieten.
Die Veränderungen in der Branche werden von den Kunden vorangetrieben. Viele Tausend ehemalige Berater arbeiten mittlerweile im mittleren und oberen Management. Allein die drei größten Berater McKinsey, BCG und Bain haben mehr als 50 000 Alumni in ihrem Netzwerk. Jeder von ihnen bringt sein Wissen über die Methoden der Unternehmensentwicklung in seine Arbeit ein. Viele Konzerne betreiben heute eigene Beratungsabteilungen. Die Folgen: Der Umfang der einzelnen Projekte sinkt, und die Unternehmen greifen mehr in die Auswahl und Steuerung von Ressourcen ein. Zahlreiche Konzerne entwickeln ihre Strategie lieber selbst – und lassen sich von mehreren unterschiedlichen Beratungen assistieren. Dabei kommen Spezialisten zum Zug, die für einzelne Aufgaben beauftragt werden. Bei Eon unterstützte zum Beispiel McKinsey beim Sparprogramm, Spezialwissen liefern Fachberater, bei der Vorbereitung für die Ausgliederung des konventionellen Stromgeschäfts half BCG. Die Zeiten des Haus- und Hofberaters sind vorbei.
Ein Teil des traditionell von Beratern angebotenen Wissens ist so zu einer Art Commodity geworden, es gehört vielerorts zur Allgemeinbildung des modernen Managers. Zudem wissen die Auftraggeber immer besser darüber Bescheid, was ein Berater leisten kann – und wer am ehesten für eine Leistung infrage kommt. Diese Transparenz unterstützen Unternehmen wie Cardea in Zürich. Geschäftsführerin Eva Manger-Wiemann und ihr Geschäftspartner Christoph Treichler helfen Topmanagern dabei, den richtigen Berater für spezielle Aufgaben zu finden. Ihre Onlinedatenbank Consultingsearcher listet Beratungsunternehmen nach unterschiedlichen Kriterien und liefert Kundenbewertungen sowie Informationen darüber, wie viel Ressourcen für ein bestimmtes Beratungsthema zur Verfügung stehen.
Dass Unternehmen genau beurteilen können, was sie bekommen, ist auch zahlreichen Beratungsstudien zu verdanken. In der Impact-Studie der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Management und Beratung liefern zum Beispiel die Geschäftsführer Dietmar Fink und Bianka Knoblach detaillierte Einschätzungen von 1044 befragten Führungskräften aus deutschen Großunternehmen zu den drei großen Themen Kompetenz, Rechtschaffenheit und Attraktivität. Aus den Ergebnissen lässt sich zum Beispiel ablesen, dass McKinsey gut mit der Unternehmensspitze klarkommt, dass man für den Umgang mit den Mitarbeitern in der Fabrik aber besser auf BCG setzt.
Die Zerlegung des Beratungsgeschäfts in seine Einzelteile wird durch einen externen Faktor massiv verstärkt. Der Bedarf an speziellem Fachwissen nimmt rapide zu. In seinem Buch "The Second Machine Age" beschreibt MIT-Professor Erik Brynjolfsson, wie Technologien in immer schnellerer Folge die Märkte fluten. Waren es vor zehn Jahren noch die typischen betriebswirtschaftlichen Themen, die die Beratung dominierten, sind es heute Fragen nach Digitalisierungskonzepten sowie dem Umgang mit Big Data, künstlicher Intelligenz, Robotern und vielem mehr .
"Haupttreiber des Beratungsgeschäfts ist derzeit die Technologie", bestätigt Jonas Lünendonk, Geschäftsführer des gleichnamigen Marktforschungsunternehmens. Aus seinen Umfragen und Gesprächen mit Beratern und deren Kunden weiß er, wie intensiv die Manager sich mit diesen Fragen auseinandersetzen müssen, um entscheiden zu können, auf welche neue Technologie sie setzen – oder ob diese ignoriert werden darf. Erschwerend komme hinzu, dass viele politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen sich in immer kürzeren Zeitabständen verändern. Das Management muss bewerten, was Ereignisse wie der Brexit für das eigene Geschäft bedeuten. Oder wie sich Grenzkontrollen innerhalb Europas auf die Wertschöpfungskette auswirken. Oder welche Veränderungen bezüglich des Datenschutzes beim Einsatz neuer Technologien berücksichtigt werden müssen.
Bei dem Druck, sich mit den Möglichkeiten neuer Technologien für das eigene Geschäftsmodell auseinanderzusetzen, wiegt ein entscheidendes Manko vieler Unternehmen besonders schwer: Ihnen fehle die Fähigkeit zu wertstiftender Innovation, also das Wissen, wie man aus Ideen nachgefragte Produkte macht, sagt der Buchautor und Redner Curtis Carlson. Er war CEO von SRI International, einem US-Forschungsinstitut für Innovation, das Technologien wie Apples Siri entwickelt hat. Da passt es ins Bild, dass zwar die Ausgaben für Innovation steigen – allerdings verteilt sich das Geld auf immer weniger Unternehmen.
Es herrschen also immer noch goldene Zeiten für Berater – um von der Nachfrage zu profitieren, mussten sie ihr Angebot jedoch stark verändern. Die Unternehmen verlangen nach externer Expertise und Umsetzungskompetenz. Dabei wächst die Konkurrenz nicht nur durch Wirtschaftsprüfer, die sich fit machen für digitale Transformation und andere Beratungsthemen, sondern auch durch technische Dienstleister wie das Softwarehaus SAP. Auch hier unternimmt der Vertrieb seit fünf Jahren große Anstrengungen, um mit potenziellen Kunden Geschäftsmodelle neu zu justieren und individuelle Strategien zu erarbeiten. Mit der richtigen Technik und deren Umsetzung verdienen sie dann Geld.
Schließlich bekommen etablierte Berater auf dem Gebiet der Innovation und Digitalisierung Konkurrenz durch Designunternehmen. Von Tim Brown, CEO der Designagentur Ideo, populär gemacht und mithilfe von SAP-Mitgründer Hasso Plattner weltweit verbreitet, hat sich die Methode des Design Thinking mittlerweile in vielen Unternehmen als Standard etabliert. In ihrem Kielwasser schwimmen viele neue kleine Unternehmen, die sich mit Design, agilem Management und Innovation auseinandersetzen – und häufig als neuer Typ Berater ins Haus geholt werden.
Einige Aufgaben der Branche übernehmen Computersysteme. Gerade im Bereich der Analyse greift das Management auf zahlreiche ausgefeilte Werkzeuge zurück. So entstanden neue Produkte, mit deren Hilfe sich Marketingausgaben optimal auf die einzelnen Kanäle verteilen lassen oder die aufgrund von Marktdaten die Größe und Auslastung von Logistiklagern prognostizieren (wie Beratungen solche Produkte entwickeln können, lesen Sie im Beitrag ).
Die Entwicklung hin zu mehr Transparenz, höherem Bedarf an Fachwissen und neuen Anbietern führt dazu, dass sich Unternehmensberatungen zunehmend anders organisieren. Statt klassisch für den Kunden hinter verschlossenen Türen mit den eigenen Experten eine kluge Lösung zu entwickeln, funktionieren sie eher wie Produktionsunternehmen. In manchen dieser Wertschöpfungsnetzwerke werden die benötigten Fähigkeiten wie mit einem Legobaukasten zusammengestellt. Dabei seien es vor allem die spezialisierten Beratungen, die zunehmend miteinander kooperierten, so Marktforscher Lünendonk. Die Generalisten dagegen bauen das Wissen eher selbst auf – und setzen dann innerhalb ihrer Organisation auf eine größere Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Fachbereichen.
Auf die gestiegenen Erwartungen der Kunden haben Berater sehr unterschiedlich reagiert. Die folgenden Beispiele zeigen die Vielfalt der Möglichkeiten.
Das Beispiel Comatch
Es war im Dezember 2013, als Christoph Hardt in einem Hotel in Louisville im US-Bundesstaat Kentucky nach einem Projekt etwas zur Ruhe kam. Seit sechseinhalb Jahren arbeitete er als Berater bei McKinsey, länger als er es eigentlich geplant hatte. Er entschied sich zu kündigen und stellte sich vor, ab und an für Unternehmen das eine oder andere Beratungsprojekt anzunehmen. Ein vergleichsweise bequemes Leben als Teilzeitberater war das Ziel. Das war jedoch schwieriger als gedacht – denn es fehlte in Deutschland an geeigneten Plattformen für Aufträge. Die gab es vor allem für konkrete Dienstleistungen, etwa für Webdesign oder Programmierung.
Gemeinsam mit seinem Kollegen Jan Schächtele entwickelte er daher einen Marktplatz für Berater. Das Unternehmen Comatch traf offenbar einen Nerv. Mittlerweile stehen 1800 Berater in der Datenbank. Jeder von ihnen bringt mindestens zwei Jahre Erfahrung bei einer großen Beratung mit. Alternativ müssen die gelisteten Consultants mindesten 10 bis 15 Jahre in der Industrie gearbeitet haben und ausgewiesene Expertise auf einem Fachgebiet sowie einen kontinuierlichen Aufstieg nachweisen können. Alle Kandidaten haben ein 45 Minuten dauerndes Auswahlgespräch durchlaufen.
Die Kunden dieser handverlesenen Schar sind zum einen Beratungshäuser. Sie können mit den Teilzeitberatern ihr Wachstum risikoloser gestalten. Außerdem buchen die mittlere Führungsebene großer Unternehmen und Mittelständler freiberufliche Berater über Comatch. Ihnen fehle häufig das Budget, um eine der großen Beratungen wie McKinsey, BCG oder Bain zu engagieren, sagt Hardt. Der Vorteil: Sie bekommen die methodische Kompetenz der Großen zu niedrigeren Tagessätzen, weil bei den Freiberuflern die Zusatzkosten eines Beratungskonzerns wegfallen.
Ähnliche Unternehmen gibt es in den USA schon bedeutend länger. Eden McCallum, gegründet von zwei Ex-Beraterinnen, verwaltet dort mit seiner schlanken Struktur aus 18 Mitarbeitern ein Netzwerk von 500 Freiberuflern. Für Freek Vermeulen, Professor für Strategie und Unternehmertum an der London Business School, waren Eden McCallum die Ersten, die die Plattformidee verfolgten und damit begannen, die Branche zu transformieren. Die Beratungsplattformen entbündeln die Wissensarbeit, so wie es Musikplattformen à la Napster mit CDs taten.
Comatch steht mit seinem Service noch am Anfang. Seit dem Start 2015 hat Gründer Hardt die Zahl der Beratungsmandate verdreifacht. Inzwischen erhält er wöchentlich im Durchschnitt 30 Anfragen.
Das Beispiel Etventure
Philipp Depiereux entwickelt für Mittelständler digitale Geschäftsmodelle. Gemeinsam mit seinen Partnern Philipp Herrmann und Christian Lüdtke hat er 2010 das Unternehmen Etventure gegründet. Er arbeitet mit Unternehmen wie dem Stahlhändler Klöckner, dem Betonpumpenhersteller Putzmeister, der Investmentholding Franz Haniel & Cie. und der Versicherung Wüstenrot zusammen, um ihnen den Weg in die digitale Welt zu ebnen.
Der Philosophie des klassischen Ratgebens wollten sie von Anfang an nicht folgen. Stattdessen haben sie sich auf unternehmerisches Handeln verlegt. "Wir machen es vor und zeigen den Kunden, wie es geht", sagt Depiereux. Das funktioniert so: Um zu beweisen, dass sich mit Tagespolicen für Skiversicherungen Geld verdienen lässt, stellten sich die Mitarbeiter von Depiereux mit selbst entworfenen Flyern an einen Skilift. Sie garantierten den Ersatz der Skier bei Bruch und verkauften so ihre Testpolicen. Mit dem praktisch erworbenen Wissen über das geschäftliche Potenzial gingen sie in die Gespräche mit einem Versicherungskonzern, um zu zeigen, wie das Entwickeln neuer Geschäftsmodelle funktionieren kann.
"Unsere Lieblingsfrage ist immer: ,Haben Sie schon mal mit den Kunden gesprochen?' Die Antwort lautet meist ,Nein'", sagt Depiereux. Stattdessen gebe es meist eine umfangreiche Analyse und Machbarkeitsstudien. Dabei stelle die Digitalisierung ganz andere Anforderungen an Beratung und Umsetzung: Tempo ist Pflicht, ebenso die direkte Kommunikation mit den Kunden. Die Transformation zum digitalen Geschäft funktioniere unter größter Unsicherheit. Keiner wisse, was sich am Ende am Markt durchsetzen werde und was nicht. Daher gehört für Depiereux in der Praxis auch das Experiment dazu, das Herantasten an das richtige Produkt, um schnell zu sein.
Die Digitalpioniere setzen auf Kooperation und Austausch. Gemeinsam mit der Personalberatung Kienbaum gründete Depiereux das Joint Venture Unternehmer-Schmiede. Führungskräfte in Unternehmen bekommen an ihren Standorten das Handwerkszeug für unternehmerisches Start-up-Denken beigebracht und erhalten Hilfe dabei, die richtigen Mitarbeiter für diese Aufgaben auszuwählen. Kienbaum steuert die Personalexpertise bei, Etventure das fachliche Wissen.
Bei Wüstenrot beteiligten sich Depiereux und seine Partner gleich selbst bei deren Digitaltochter W&W Digital. So begleiten sie die Umsetzung der Digitalstrategie als Eigentümer mit. In Stuttgart betreiben sie gemeinsam mit dem Bürovermieter Accelerate Stuttgart ein Innovationslabor, bei dem Unternehmen und Start-ups zusammenarbeiten können. Und mit einer Strategieberatung sind sie im Gespräch, um ihre Umsetzungsexpertise in deren Projekte einzubringen.
Auf diese Weise wuchs das Unternehmen in großen Schritten. Mittlerweile beschäftigt er in Deutschland 230 Mitarbeiter an fünf Standorten.
Das Beispiel PwC
Das Entbündeln der Wissensarbeit fördert das Entstehen einer neuen Art von Beratern, die in der Lage sind, Wissens- und Expertenlücken zu füllen. John Hagel III, Gründer des Deloitte Center for the Edge, nennt diesen Typus, der Unternehmensthemen steuert und begleitet, den Trusted Advisor, eine Art Kurator und Coach. "Das ist jemand, der eine tiefe, auf Vertrauen basierende Beziehung zu einem Unternehmen und dessen Spitzenkräften aufgebaut hat", sagt Hagel. "Er nutzt das Wissen, das er dabei erworben hat, um die Einstellungen und Methoden des Kunden zu hinterfragen."
In Zukunft werde diese transaktionale Beziehung einer sehr viel aktiveren, nachhaltigeren Beziehung Platz machen, so Hagel. Entscheidend dafür seien Vertrauen und die Fähigkeit zum kritischen Widerspruch.
Bei der Prüfungs- und Beratungsgesellschaft PwC gibt es mittlerweile eine kleine Einheit, die sich diese Denkweise besonders zu eigen macht. Michael Pachmajer und Carsten Hentrich leiten gemeinsam den Beratungsbereich Digital Transformation für Familienunternehmen und Mittelstand. Es handelt sich um eine kleine Gruppe von 19 Experten, insgesamt befassen sich in Deutschland über 350 Berater mit dem Thema digitale Transformation. Angesichts der mehr als 10 000 Mitarbeiter in Deutschland ist das zwar eine kleine Gruppe. Doch das Team steht für generelle Veränderungen in der Welt der Unternehmensberatung. Viele kleinere Beratungen arbeiten mittlerweile ähnlich. "Wir treten als Wegbereiter auf", sagt Pachmajer. Drei Jahre gibt es die Abteilung, die Berater im Team arbeiten selbstorganisiert und entwickeln neue Methoden, die nach und nach auch intern über die verschiedenen Silos des Wirtschaftprüfungsgiganten hinweg angewandt werden.
Im Vergleich zu ihrer früheren Tätigkeit, bei der sie sich um Reengineering und Change-Management gekümmert haben, seien die Projekte heute kleinteiliger. "Die Probleme, mit denen wir es zu tun haben, benötigen inzwischen ein derart umfassendes Fachwissen, über das auch ein Spitzenberater allein nicht mehr verfügen kann", sagt Pachmajer. Der allwissende Berater sei ohnehin Geschichte. "Was zählt, ist der Kunden- und Herausforderungsversteher." Also werden die Aufgaben auf Spezialisten aus unterschiedlichen Disziplinen verteilt. Die Führung übernimmt derjenige, der die jeweils größte fachliche Kompetenz besitzt.
Die Spezialisten stammen nicht nur aus den Reihen der PwC-Mitarbeiter. "Wir sehen uns als Baumeister vernetzter Unternehmen", sagt Pachmajer. Daher bestehe ein Teil ihrer Arbeit darin, Wertschöpfungsnetzwerke aufzubauen. Zu den Partnern, mit denen PwC zusammenarbeitet, gehören mittlerweile Technologieunternehmen wie Google, Start-ups, spezialisierte Dienstleister wie Dark Horse in Berlin, wissenschaftliche Einrichtungen wie das Fraunhofer-Institut, aber auch CEOs, wenn es darum geht, eine Topmanagementperspektive einzunehmen. Diese Art der Öffnung sei für viele ein großer Schritt, sagt Carsten Hentrich. Die Kooperation mit Partnern funktioniere nur über die persönliche Beziehung. Jede Zusammenarbeit wird getestet – zunächst meist an einem kleineren Projekt, später an einem größeren. Bei positiven Erfahrungen wird die Kooperation enger und virtueller, gestützt durch Werkzeuge in der Cloud.
Noch etwas hat sich geändert: Während früher das sofortige Ausarbeiten einer Lösung im Vordergrund stand, sind es heute die Analyse des Problems und die Kundenperspektive. Ein Beispiel: Die IT-Abteilung eines Energieversorgers suchte Hilfe bei der Einführung einer Big-Data-Plattform. "Statt gleich die möglichen technischen Lösungen auf Basis der Vorgaben zu präsentieren, haben wir erst einmal die Strategie hinterfragt", sagt Hentrich. Dazu haben die Experten zum Beispiel sogenannte Personae erstellt, das sind fiktive Persönlichkeitsprofile typischer Kunden. Anschließend überlegten sie gemeinsam mit ihren Ansprechpartnern bei dem Energieversorger, welche Geschäftsmodelle daraus entstehen könnten. Erst anhand der Ergebnisse dieser Diskussionen gaben sie dann die Empfehlungen für die nötige Technologie ab.
Viele kleinere Beratungsunternehmen gehen ähnlich vor. Sie suchen bei Bedarf auch die Kooperation mit weiteren Beratungen, um größere Projekte umsetzen zu können. Andere sehen sich vor allem als Koordinatoren und intelligente Köpfe, um für die Anforderungen in den Unternehmen die richtigen Leute zu finden.
Das Beispiel McKinsey
Die klassischen großen Strategieberatungen wie McKinsey und BCG reagieren auf den Wandel, indem sie selbst die nötige Expertise aufbauen. Das beginnt bei der Auswahl der künftigen Mitarbeiter. Früher kamen 90 Prozent der neuen Berater von der Universität, streng ausgewählt aus den besten 5 bis 10 Prozent der Absolventen. Da sich die Diskussionen mit den Kunden immer mehr um fachliche Details drehen, musste der Beratungskonzern sich anpassen. So habe sich die Zahl der unterschiedlichen Mitarbeiterprofile in den vergangenen drei bis vier Jahren zunehmend vergrößert, sagt McKinseys Recruitingchefin Nadja Peters. "Expertise spielt eine immer wichtigere Rolle." Spezialisten für vernetztes Fahren werden ebenso benötigt wie erfahrene Werksleiter. Der Anteil dieser Experten an der Belegschaft liege inzwischen bei 30 bis 40 Prozent.
Um herauszufinden, welches Fachwissen gebraucht wird, lassen die Berater jedes Jahr ihre Kundenprojekte Revue passieren. Dabei geht es darum zu analysieren, was die Kunden brauchen, ob die nötige Expertise im Haus vorhanden ist oder ob etwas fehlt.
Entsprechend weiten Peters und ihr Recruitingteam die Suche aus und nutzen vermehrt Portale wie Xing und LinkedIn oder Headhunter. Ein Beispiel für den neuen Expertentyp ist Markus Berger-de León. Er ist verantwortlich für die 2015 gegründete Einheit Digital Labs in Berlin. 1999 startete er als Student das Internetauktionshaus Econia. Danach war er CEO des Klingeltonanbieters Jamba, Vorstandsvorsitzender der Handwerkerplattform MyHammer sowie CEO der sozialen Netzwerke SchülerVZ und StudiVZ. 2012 gründete er ein neues Unternehmen, das unter dem Namen Stimp jedoch 2014 Insolvenz anmelden musste. Die Licht- und Schattenseiten der digitalen Welt kennt er zur Genüge. MyHammer wurde erfolgreich an das amerikanische Pendant HomeAdvisor verkauft, die VZ-Netzwerke dagegen wurden durch den Aufstieg von Facebook obsolet, und Stimp wurde gar nicht erst erfolgreich.
Die meisten der Mitarbeiter des Digital Lab haben bei Start-ups oder Internetkonzernen wie Amazon und Google gearbeitet. Der Strategieschwenk habe das Leistungsspektrum von McKinsey stark erweitert, sagt Berger-de León. Neben dem Thema Digitalisierung entwickelte die Beratung spezielle Angebote für die Analyse von Daten und beschäftigt dort über tausend Big-Data-Spezialisten. Außerdem baute McKinsey das Angebot "Solutions" auf. Das sind webbasierte Softwareprodukte wie zum Beispiel der Organizational Health Index, mit dem der Zustand eines Unternehmens gemessen werden soll.
Expertise, die nicht schnell genug selbst aufgebaut werden kann, wird eingekauft, zum Beispiel in Gestalt von QuantumBlack. Das britische Unternehmen mit Wurzeln im Formel-1-Rennsport hat sich darauf spezialisiert, Prozesse mithilfe von Big-Data-Analysen zu verbessern. Mit Lunar erwarb McKinsey eine der ältesten Designfirmen des Silicon Valley. Der Zukauf VisualDoD ist spezialisiert auf Analysen bei Luftfahrt und Verteidigung, 4tree untersucht Einzelhandelsdaten.
Die neuen Themen machten mittlerweile 40 Prozent des Geschäfts aus, sagt Berger-de León. Der Anteil des reinen Strategiegeschäfts sei dagegen auf unter 50 Prozent gesunken. "Wir können nun viel tiefer in die Produktentwicklung einsteigen", sagt er. Außerdem gehe es häufiger darum, bei den Klienten die jeweils benötigten Fähigkeiten aufzubauen. Dann erklären die Berater nicht mehr die große Strategie, sondern nach welchen Kriterien und Prinzipien die Benutzeroberfläche einer Vertriebssoftware so angepasst wird, dass der Vertriebsmitarbeiter damit möglichst effektiv umgehen kann. Der McKinsey-Mitarbeiter übernimmt hier die Rolle eines Trainers.
So verändert sich das Gesicht der Beratung immer schneller. Bei McKinsey kamen innerhalb der vergangenen fünf Jahre die Angebote Training, Softwaretools und Umsetzung dazu. Der Beratermarkt wird bereichert durch Plattformen, neue Netzwerke und Hilfsangebote aus unterschiedlichsten Bereichen. Generell steigt bei den Unternehmen auch die Bereitschaft zu Kooperation und Austausch. Der Wandel in der Branche ist vergleichbar mit dem Verhältnis zwischen Arzt und Patient. Auch Mediziner werden von ihren Patienten mit detaillierten Fachfragen konfrontiert – und ihre Anweisungen werden hinterfragt. Das schmälert ihre Autorität und stärkt die Position der Patienten. Darauf müssen sich auch Berater einstellen.
Von Ingmar Höhmann, Michael Leitl
Ingmar Höhmann und Michael Leitl sind Redakteure des Harvard Business Managers.
Nachdruck Nummer 201703020, siehe Seite 102 oder www.harvardbusinessmanager.de © 2017 Harvard Business Manager
