Improvisation statt Pflichtetüden: Karriere mit Rückgrat
Das eigene Leben als Kunstwerk gestalten – das gelingt nur wenigen Menschen, die dafür häufig bewundert und als „Universalkünstler“ gefeiert werden.
Dabei wollen sie nichts anderes, als ihr Leben in einer bleibenden Form aussprechen. Sie nutzen dazu alle Ebenen, die sie betreten, und hinterlassen hier ihre Spuren. Es braucht keine Coachingliteratur, kein Kreativitätstraining und keinen Karriereführer, um zu begreifen, worauf es im Leben ankommt: Es genügt die intensive Auseinandersetzung mit dem Leben außergewöhnlicher Menschen, die gar nicht so weit weg sind von uns allen, wenn sie nur mehr ihre Bestimmung leben würden – dazu braucht es Rückgrat und die Fähigkeit zur Improvisation. Das Leben des vielseitigen Künstlers Armin Müller-Stahl, der 1930 in Tilsit in Ostpreußen geboren wurde, kann dabei wegweisend sein. Die Schauspielerei dominierte sein Leben. Doch wirklich frei fühlte er sich immer in der Malerei und in der Musik, weil er als Filmschauspieler immer an eine Sprache gebunden war. Musik ist dagegen grenzenlos. Eigentlich wollte er Musiker werden. Schon in seinem Elternhaus wurde viel musiziert: Sein Vater war eigentlich Bankkaufmann, spielte aber leidenschaftlich Theater und sang auch - von der Mutter, einer Ärztin, am Klavier begleitet. Dann musste er in den Krieg ziehen. Der Sohn brachte den Vater zur Kaserne. Beide sangen gemeinsam das Lied „Der Mond ist aufgegangen“. Der Vater hatte Tränen in den Augen. Erst später hat Armin Müller-Stahl das Warum begriffen, denn er kam nicht wieder.
Schon als Kind hat Müller-Stahl gemalt, musiziert, geschrieben und geschauspielert. Das Schnellzeichnen und Erfassen von Proportionen brachte ihm unter anderem seine Großmutter und eine Tante bei. Seine Verwandten machten auch gleichzeitig Musik. Ein Onkel von ihm war ein „grandioser Geiger“. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs spielte Armin Müller-Stahl, der auch Geigenunterricht erhielt, in Berlin an der städtischen Musikhochschule vor. Die Aufnahmeprüfung bestand Müller-Stahl zwar nicht, aber einer der Professoren sah sein Talent und nahm ihn privat auf. Er studierte Musikwissenschaften. Zu seinen „Helden“ gehörten Oistrach, Menuhin, Celibidache und Keilberth. Unvergessen ist für ihn, wie Yehudi Menuhin im Titania-Palast Bach spielte. Prägend für ihn war auch Bruno Walter: Bei einem Meisterkurs durfte er dem Dirigenten den ersten Satz der César-Franck-Sonate vorspielen. Da fragte ihn Walter, warum er die Stelle mit dem ganzen Bogen spielt? Das würde das Geheimnis wegnehmen.
Auch ist das Göttliche in der Musik weder zu analysieren noch zu beschreiben. Und genau hier liegt das Wesen der Kreativität. Beethoven hat es mit seinem bekannten Zitat umschrieben: „Musik ist höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie“. Bruno Walters Hinweis war für Müller-Stahl eine Lehre fürs Leben, die auch für die Schauspielerei galt. Es geht um die Kunst, das Geheimnis zu bewahren, die nur durch (die) Freiheit (der Improvisation) zu erreichen ist. Das ist auch der Grund, weshalb er sich als Musiker in einem Orchester niemals wohlgefühlt hätte, weil immer nur nach Noten hätte gespielt werden müssen. Am Ende des Musikstudiums versuchte er sich im Schauspielberuf. Für diese Karriere war der Film „Die Kinder das Olymps“ entscheidend – aber auch die Erinnerung daran, dass sein Vater eigentlich Schauspieler hatte werden wollen. Doch das vielseitige Talent flog zunächst von der Schauspielschule, was aber seinen Ehrgeiz entfachte. Der damalige Intendant des Theaters am Schiffbauerdamm, Fritz Wisten, engagierte ihn an der Volksbühne, wo sich Mueller-Stahl allerdings schnell deplatziert fühlte.
Streng einstudierte Rollen engten einen Freigeist wie ihn ein. Als er zurück zur Musik gehen wollte, gab ihm Wisten erfolgreiche Charakterrollen. Das war der Beginn seiner Liebe zum Theater. Seine Karriere beim Film in der DDR begann im Jahr 1960. Als er sich von politisch konzipierten Rollen distanziert, wird 1980 seine Ausreise nach West-Berlin genehmigt. Auch hier avancierte er rasch zum beliebten Schauspieler. Für seine Rolle in "Bittere Ernte" (1985) wird er als bester Schauspieler des Internationalen Filmfestivals von Montreal ausgezeichnet. Für seine Rolle als Thomas Mann im TV-Dreiteiler "Die Manns - Ein Jahrhundertroman" erhielt er den Adolf-Grimme-Preis. 2008 spielt Armin Mueller-Stahl trotz angekündigtem Abschied aus dem Filmgeschäft in "Buddenbrooks - Ein Geschäft von einiger Größe" mit.
Die Leidenschaft für die klassische Musik blieb – auch als Mueller-Stahl in der DDR, später in der BRD und in Hollywood Karriere machte. Mit Ende 50 ging er in die USA und wagte hier einen komplett neuen Karrieresprung, der ebenfalls mit großer Anerkennung verbunden war - beispielsweise für seine Rolle in "Night on Earth" von 1991. Für seinen Auftritt in "Shine - Der Weg ins Licht" wird er 1997 für den Oscar als "Bester Nebendarsteller" nominiert. Barry Levinson, mit dem Mueller-Stahl in seinem zweiten amerikanischen Film "Avalon" (1990) zusammenarbeitete, forderte ihn in einer Szene auf, etwas auf dem Klavier zu spielen, und der Schauspieler probierte am Klavier verschiedene Harmonien aus. Dann stand plötzlich der Filmkomponist Randy Newman in der Tür und machte aus seiner Improvisation „ein wunderschönes Thema". In amerikanischen Talkshows wurde er häufig aufgefordert, spontan etwas auf der Geige zu spielen. Armin Müller-Stahl ist ein Künstler der Wahrnehmung - mit hochfeinen Antennen sucht er nach dem, was ihn persönlich vitalisiert und fasziniert. Mit ungewöhnlicher Energie glaubt er daran, dass diese Faszination ihre Berechtigung hat - und das, was er tut, einen Sinn. Dabei blieb er immer seinem Vorsatz treu:
Alles, was er tat, war immer authentisch und inhaltsvoll: Höhen und Tiefen, Licht und Schatten, Fülle und Leere, Form und Inhalt sind dabei nachhaltig im Wechselspiel miteinander verbunden. Es ging ihm die ganzheitliche Gestaltung unseres Zusammenlebens durch die Kunst und Kultur, um die Lebenskunst als Fähigkeit, mit sich und anderen gut umzugehen. Der Grenzgänger Armin Müller-Stahl ist sich immer bewusst gewesen, dass Musik Grenzen überwindet und Menschen bewegt. Sie kann Brücken bauen, verschlossene Herzen öffnen und sogar aus seelischen Zwangslagen befreien. Musik tröstet Traurige und beflügelt Fröhliche, sie kann unser achtsames Zuhören, unser einfühlsames Hineinversetzen in andere Menschen trainieren.
All das zeigt sich auch in seinen Zeichnungen und Aquarellen, mit denen er seit 2001 zunehmend an die Öffentlichkeit trat. In den vergangenen Jahren, auch während der Corona-Pandemie, entstanden viele farbintensive Bilder. Während der Betrachtung ist die Musik spürbar, die sein Atelier während ihrer Entstehung erfüllte. Es entstanden 2020 auch Charakterstudien von Leonard Bernstein, Arnold Schönberg und Sir Peter Ustinov. Einen nachhaltigen Einblick in sein malerisches und literarisches Schaffen sowie Rückblicke auf seinen Werdegang als Schauspieler bietet die Ausstellung „Alle Kunst will Musik werden“ (nach einem Zitat von Armin Mueller-Stahl) in der Rostocker Kunsthalle, zu der auch ein Begleitbuch erschienen ist. . Gezeigt werden auch Arbeiten zum Thema „Jazz“, die erstmals einer interessierten Öffentlichkeit präsentiert werden. Die Präsentation umfasst etwa 60 Werke, darunter Gemälde, Malereien und Zeichnungen auf Papier aus den letzten sieben Jahren sowie einige frühe Werke des Künstlers aus den 1950er Jahren. Kreativ zu sein ist seine Art, glücklich zu sein.
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Armin Mueller-Stahl. Alle Kunst will Musik werden. Das Begleitbuch zur Ausstellung in der Rostocker Kunsthalle von Armin-Mueller Stahl. Hinstorff Verlag. Rostock 2022.