Industrie: Diese Grafik lässt zweifeln, ob wirklich die große Deindustrialisierung bevorsteht
Die deutsche Industrie gehe nieder, ist überall zu hören. Angeblicher Beweis: Die Produktion bricht ein. Doch es gibt auch Daten, die ein völlig anderes Bild zeigen.
Berlin. Was aus Deutschlands wichtigstem Wirtschaftssektor zu hören ist, ist an Dramatik kaum zu überbieten. Stickstoffwerke wollen schließen. Solarhersteller investieren lieber in den USA. Autozulieferer streichen Tausende Stellen. Die gefürchtete Deindustrialisierung Deutschlands, sie scheint längst im Gang.
Dass sie sich strukturell im ganzen Land vollzieht, soll ein Indikator beweisen: der Index für die Industrieproduktion. Seit Beginn der Energiekrise wächst er nicht mehr richtig.
Die Industrieproduktion ist vom Beginn der Energiekrise bis zum vierten Quartal 2023 um 3,9 Prozent nach unten gegangen.
Im Vergleich mit dem bisherigen Höchststand im zweiten Quartal 2018 sank die Produktion um 13,6 Prozent – trotz Subventionen und technischem Fortschritt. Unter den Industrienationen in Europa hat sich keine andere so schlecht entwickelt.
Doch seit einiger Zeit wachsen bei Fachleuten die Zweifel, ob die Lage wirklich so dramatisch ist. Es geht um statistische Finessen, die schwierig nachzuvollziehen sind. Sie sind aber entscheidend für die Frage, ob sich Deutschland wirklich strukturell deindustrialisiert.
Der Produktionsindex wird oft genutzt, weil die Daten monatlich erhoben und dadurch gut verfolgt werden können. Es gibt aber noch einen anderen Indikator, der die Aktivität in der Industrie abbildet: die Bruttowertschöpfung. Diese lässt sich nur quartalsweise nachvollziehen. Dabei ist aber von struktureller Deindustrialisierung bisher nicht viel zu sehen.
Die Wertschöpfung in der Industrie ist seit Beginn der Energiekrise um nur 0,9 Prozent gesunken, wobei sie 2023 zwischenzeitlich sogar gestiegen ist.
Im Vergleich mit dem bisherigen Höchststand im zweiten Quartal 2018 ist die Wertschöpfung nur 3,4 Prozent zurückgegangen.
Gegenüber 2015 ist die Wertschöpfung sogar um mehr als sieben Prozent gestiegen, während der Produktionsindex in diesem Zeitraum um fast acht Prozent zurückgegangen ist. Auch im Vergleich mit anderen europäischen Industrienationen fällt auf: Bei der Entwicklung des Produktionsindex ist Deutschland Schlusslicht. Bei der Wertschöpfung steht Deutschland auf Rang drei, deutlich vor Frankreich.
Die aktuellen Daten zur Wertschöpfung sind zwar noch vorläufig. „Aber das ändert nichts an der auffälligen Diskrepanz zwischen den beiden Indikatoren“, sagt Peter Kuntze, der das zuständige Team beim Statistischen Bundesamt leitet.
Wie ist das möglich? Selbst für die Fachleute ist das noch ein Rätsel. Auch in der Bundesregierung wird derzeit ganz genau auf diese Auffälligkeit geschaut, ist zu hören.
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Der „Mercedes-Effekt“ und die veränderten Vorleistungen
Ein Teil der Lücke lässt sich durch den „Mercedes-Effekt“ erklären, wie ihn Oliver Holtemöller, Konjunkturchef des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), nennt. In der Coronazeit hatten sich globale Lieferengpässe wie nie zuvor gezeigt. Seither setzen manche Unternehmen in Deutschland in ihrer Produktion offenbar lieber auf margenstärkere Produkte.
Mercedes etwa hat, als Mikrochips fehlten, die wenigen verbliebenen Chips lieber für teurere Luxusmodelle als für Kleinwagen genutzt. Der Umsatz fällt dann womöglich geringer aus, die Wertschöpfung geht aber nicht im gleichen Ausmaß zurück.
Außerdem unterscheidet sich die Wertschöpfung vom Produktionsindex dadurch, dass die Entwicklung der Vorleistungen direkt einbezogen wird. „Laut den Daten dürfte dieser Effekt rund ein Drittel der Diskrepanz erklären“, sagt Stefan Linz vom Statistischen Bundesamt.
Was mit dem Rest ist, ist noch unklar. Im Statistikamt und in den Forschungsinstituten grübeln derzeit zahlreiche Köpfe über diese Frage. Vermutet wird, dass ein Teil aus den unterschiedlichen Erhebungen beider Indikatoren resultiert. Beispielsweise wird anders definiert, was ein Unternehmen ist. Bei der Wertschöpfung geht es um rechtliche Einheiten, beim Produktionsindex um Betriebe.
„Wertschöpfung ist der bessere Indikator“
Zuerst waren viele Beteiligte davon ausgegangen, die Gewichtung der einzelnen Industriebranchen würde den Unterschied erklären. Der Produktionsindex basiert auf einer festen Gewichtung. Jede Branche fließt immer mit dem Gewicht in den Gesamtindex ein, den sie 2015 ausgemacht hat. Erst vor wenigen Tagen ist das Basisjahrauf 2021 umgestellt worden.
Die Wertschöpfung hingegen berücksichtigt Strukturerhebungen in der Industrie: Dabei wird jahresweise neu ermittelt, wie groß der Anteil der einzelnen Branchen an der Gesamtindustrie ist. Die aktuellste Erhebung stammt aus 2021. Konkret heißt das: In den Produktionsindex werden schlecht laufende Branchen mit einem zu großen Gewicht eingerechnet. „Insgesamt ist die Wertschöpfung der bessere Indikator für Strukturfragen“, meint Ökonom Holtemöller. Auch der Konjunkturchef des Kiel Instituts für Weltwirtschaft, Stefan Kooths, sieht das ähnlich: „Es verdichten sich die Anzeichen, dass die Wertschöpfung der validere Indikator ist“.
Doch die große Diskrepanz erklärt das nicht, hat Statistiker Linz in den Daten analysiert. Dafür hat er sich die einzelnen Produktionswerte in der Industrie angeschaut und mit dem alten Produktionsindex verglichen. Die Abweichungen sind nur minimal.
Sollte sich am Ende herausstellen, dass die Wertschöpfung tatsächlich der validere Indikator ist, widerlegt das allein nicht die mögliche Deindustrialisierung in Deutschland. Dafür sind noch andere Indikatoren wie die Entwicklung der Kosten oder des Kapitalstocks relevant. Doch es würde möglicherweise Sachlichkeit in die aufgeheizte Debatte bringen, in der die Industrieproduktion manchmal als einzige Wahrheit vermittelt wird.
Mehr: Endspiel um die deutsche Industrie – Drei Szenarien für die Zukunft
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