Jan Merker (l.) und Mirjam Ferrari (r.) - Wolf Heider-Sawall und Julia Sellmann für WirtschaftsWoche
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Infineon bis DHL: So rekrutieren Unternehmen erfolgreich internationale Talente

Das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das ab Samstag schrittweise in Kraft tritt, soll helfen, Spitzenkräfte ins Land zu locken. Doch damit allein ist es nicht getan. Unternehmen müssen selbst die Initiative ergreifen. Eine Anleitung zum Erfolg.

Mitunter sind es die kleinen Dinge, die den Unterschied machen. Und die bislang nicht zum Arbeitsalltag der Personalabteilung gehörten. Einen Kühlschrank zu besorgen zum Beispiel. Oder Bettwäsche. Auch darum hat sich Infineon zum Start dieses Ausbildungsjahres gekümmert. Denn die drei jungen Männer, die in diesem Sommer ihre Lehre zum Mikrotechnologen beim Halbleiterhersteller in Neubiberg nahe München angetreten haben, kommen aus Guatemala. Und sind am Flughafen mit nicht mehr als einem Rucksack gelandet.

Deutschland altert – und verliert laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bis 2035 sieben Millionen potenzielle Erwerbstätige. Das novellierte Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das ab diesem Samstag schrittweise in Kraft tritt, soll Abhilfe schaffen: Nun haben auch Berufsanfänger die Möglichkeit, nach Deutschland zu kommen. Früher waren Aufenthaltstitel abhängig davon, ob jemand in der IT tätig war. Auch diese Regelung wurde geändert.

Die Gesetzesreform sei ein Schritt in die richtige Richtung, sagt Viktoria Winstel, Arbeitsrechtlerin bei der Wirtschaftskanzlei Osborne Clarke. Sie unterstützt Unternehmen dabei, internationale Spitzenkräfte aus Nicht-EU-Ländern ins Land zu bringen. Und doch fehlen aus Sicht der Expertin entscheidende Dinge: Digitalisierung beispielsweise. Ein Formular als Mail an ein Konsulat ins Ausland schicken? Weiterhin nicht möglich. Zudem ist Behördendeutsch schon für Muttersprachler eine Zumutung – und für internationale Arbeitskräfte ein Buch mit sieben Siegeln. Es gibt bislang keinerlei Übersetzungen, die Ämter selbst ächzen unter Personalknappheit. Also übersetzen Winstel und ihr Team die Dokumente für ihre Mandanten auf Englisch. Dafür nehmen die Unternehmen viel Geld in die Hand. Auch Infineon unterstützt Bewerber aus dem Ausland bei Behördengängen.

Aber eben nicht nur dabei.

Gerade Unternehmen, die mit genialen Innovationen, effizienten Fertigungsprozessen und kreativem Marketing den Weltmarkt erobert haben, müssen erfinderisch werden, um Talente anzulocken – und an sich zu binden. Eine Anleitung.

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Erfolgsrezept #1: Talente individuell ansprechen

Brainlab hat es als Hightechunternehmen einfacher als andere: Der Anbieter von Medizintechnik löst den Ruf von Deutschland als Land der Ingenieure ein und genießt, so erzählt es Jan Merker, im Ausland ein hohes Ansehen. Auch auf LinkedIn habe das Unternehmen eine starke Community. „Das nutzen wir schamlos aus“, sagt Merker, der das Tagesgeschäft von Brainlab leitet.

Eine eigene Abteilung kontaktiert Talente gezielt auf der Businessplattform und schlägt ihnen Stellen vor. Auch sonst setzt Brainlab auf Individualität: Ein Marketingexperte bekommt eine andere Stellenausschreibung auf den internationalen Jobportalen und der Karrierewebsite zu sehen als eine Ingenieurin. Auf der Anzeige für Ingenieure sind etwa Menschen vor Bildschirmen zu sehen, bei der Marketingstelle stehen Personen vor ausgedruckten Storyboards, die sich austauschen.

Die DHL arbeitet in den Ländern, in denen der Konzern Talente anwirbt, mit Vermittlern zusammen. Das habe sich bewährt, erzählt die HR-Verantwortliche Mirjam Ferrari. Ihr und ihren Kollegen in der Bonner Zentrale fehle dafür das Nischenwissen – die Länder ticken einfach zu unterschiedlich. In einer Region setzt der Konzern auf Onlinekampagnen, in einer anderen noch auf gedruckte Anzeigenblätter – zu verschieden sind die Gewohnheiten bei der Stellensuche.

Erfolgsrezept #2: Auf starke Partner setzen

Um die Besonderheiten der Länder zu verstehen, sollten Unternehmen sich vor Ort ein Netzwerk aufbauen. Die DHL Group kooperiert etwa mit verschiedenen Hochschulen im Ausland, mit denen die Experten aus der Personalabteilung Kontakt halten, die sich auf eben jene Länder spezialisiert haben.

„Für uns sind nicht nur Fachkräfte wichtig, sondern Arbeitskräfte im Allgemeinen“, sagt Ferrari. „Wir brauchen viele Hände, die mit anpacken.“ Im Weihnachtsgeschäft sind etwa 10.000 zusätzliche Arbeitskräfte in den Logistikzentren notwendig. An den hiesigen Unis umgarnen haufenweise Unternehmen all jene Talente, die kurz vor dem Abschluss stehen. Ferrari und ihre Kollegen suchen deshalb vorrangig in Litauen, Polen und auf dem Westbalkan nach Studenten, die Lust haben, hierzulande Geld zu verdienen. Die Zusammenarbeit habe sich über Jahre bewährt, so Ferrari, zahlreiche Aushilfskräfte arbeiteten regelmäßig für die DHL. Außerdem seien in der Stammbelegschaft viele Mitarbeiter aus diesen Ländern vertreten, sodass Verständigung und Integration leichter fallen.

Erfolgsrezept #3: Mit deutschen Unis kooperieren

Auch deutsche Universitäten sind beliebt bei Studenten aus aller Welt. In einer Auswertung der Bertelsmann Stiftung liegt Deutschland hinter den USA auf Platz zwei, was die Attraktivität für angehende Akademiker angeht. Das macht sich auch der Halbleiterhersteller Infineon zunutze, der für seine neue Chipfabrik 1000 Stellen zu besetzen hat. Ende 2026 soll die zusätzliche Produktion in Dresden anlaufen. Also werden bereits jetzt die Kontakte zu umliegenden Hochschulen gepflegt, damit vor allem der internationale Nachwuchs während des Studiums das Unternehmen kennenlernt – und auch nach dem Studium in Deutschland bleibt.

Infineon, so erzählt Personalchef Markus Fink, spreche auch Azubis gezielt in den verschiedenen Ländern an. So wie die drei jungen Männer aus Guatemala, aber auch in Bulgarien, der Ukraine und Afghanistan versucht Infineon Talente für die Elektromobilität, erneuerbare Energien und Cybersicherheit zu begeistern. Das Unternehmen hat die Anzahl der Ausbildungsplätze am Standort Dresden auf 231 im Vergleich zum Vorjahr nahezu verdoppelt.

Erfolgsrezept #4: Vielfalt sichtbar machen

Die Halbleiterindustrie in Dresden sei international – und das sollten Arbeitgeber nach außen tragen, betont Fink. Um Studenten aus dem Ausland auf sich aufmerksam zu machen, setzt Infineon unter anderem auf Social-Media-Kampagnen und Aktionstage. Dabei erzählen Mitarbeiter verschiedenster Herkunft über ihren Werdegang und ihre Jobs. Wichtig ist es nach Einschätzung von Fink aber nach wie vor auch, dass sich der Konzern auf Messen zeigt. Und dort direkt mit Interessierten in den Dialog tritt – und manch einen Vorbehalt aus dem Weg räumen kann.

Erfolgsrezept #5: Verlässlichkeit beweisen

Verlässlichkeit ist für internationale Arbeitskräfte ein hohes Gut. Viele Saisonkräfte der DHL kommen jedes Jahr wieder, betont Personalerin Mirjam Ferrari. Ihre Erklärung: DHL sorge für sichere und saubere Unterkünfte, zahle allen aus der Belegschaft pünktlich den gleichen Lohn. Das klingt nach einer Banalität, ist aber in einer Branche, die unter enormem Kostendruck steht, alles andere als selbstverständlich. „Es spricht sich im jeweiligen Land herum, dass wir ein verlässlicher Arbeitgeber sind“, sagt Ferrari. Das Unternehmen profitiert davon, dass einige, die schon mal kurz vor Weihnachten ausgeholfen haben, ihren Bekannten davon erzählen – und diese im folgenden Jahr mit nach Deutschland bringen.

Erfolgsrezept #6: Bei Behördengängen unterstützen

„Wenn man versucht, als Fachkraft aus dem Ausland hierzulande anzukommen, hat man allein keine Chance“, sagt Jan Merker von Brainlab. „Es ist unsere Pflicht als Unternehmen, das zu kompensieren. Täten wir das nicht, würde überhaupt niemand bleiben.“ Am Firmensitz in München arbeiten derzeit 900 Mitarbeiter aus 23 verschiedenen EU-Staaten und 50 Ländern außerhalb der EU. Die Neuankömmlinge werden dort mit Übersetzungen unterstützt, seien es die Anerkennung von Abschlüssen, Meldebestätigungen oder auch Krankenkassenunterlagen. Für alle Jobinteressierten hat die Personalabteilung landesspezifische Checklisten erstellt und eine allgemeine umfangreiche Liste zum Standortwechsel nach München auf Englisch.

Für EU-Angehörige ist der Behördendschungel nicht ganz so verschlungen, aber laut Merker wird auch dieser Talentpool mit der Zeit versiegen. Andere EU-Länder haben schließlich selbst ein Fachkräfteproblem. „Arbeitgeber müssen besser wissen als die Kandidaten, was organisatorisch alles gestemmt werden muss. Im Recruiting fragen wir vom ersten Berührungspunkt an die relevanten Punkte bei den Kandidaten ab“, sagt der Manager. Und zählt ein paar Fragen auf: Weicht die Staatsangehörigkeit vom aktuellen Aufenthaltsort ab? Liegt eine doppelte Staatsbürgerschaft vor? Gibt es schon ein Visum für Deutschland? Auch bei der Suche nach Kita- und Schulplätzen und dem gesamten Familiennachzug bietet das Unternehmen Unterstützung.

Erfolgsrezept #7: Freundschaften knüpfen

„Wir wollen, dass die Leute sich hier wirklich wohlfühlen“, sagt Merker. Sport beispielsweise könne Brücken bauen. Im Brainlab-Fitnessstudio kann gemeinsam trainiert werden: Laufgruppen, Spinning, Crossfit – jeder Neuankömmling kann dort mitmachen und Gleichgesinnte finden. Daraus entstehe eine Dynamik, die Merker schon oft beobachtet hat: Die Leute gehen bald zusammen weg und laden einander am Wochenende ein, zum Radfahren oder Grillen. „Das ist viel wichtiger, als viele Unternehmen denken“, sagt er.

Die Mitarbeiter und Führungskräfte handhaben das alles von allein so. Viele waren selbst schon im Ausland und wissen, was es braucht, um in einem fremden Land anzukommen. Wo das nicht der Fall ist, empfiehlt es sich, Neuankömmlingen von Tag eins an einen Mentor an die Seite zu stellen – und zwar zusätzlich zum Personaler, der das Organisatorische stemmt. Es muss jemand sein, der durch den Alltag hilft – privat und beruflich.

Erfolgsrezept #8: Englisch sprechen

In den Büros von Brainlab wird mitunter sogar Englisch gesprochen, wenn nur Deutsche in einem Raum sitzen. Auch das schafft eine Willkommenskultur. Für deutsche Mitarbeiter, die sich unsicher fühlen, sollten Arbeitgeber Englischkurse anbieten.

Beim Halbleiterhersteller Infineon bekommen sie einen muttersprachlichen Paten an die Seite, der im Alltag unterstützt. Parallel dazu sollten Unternehmen für die Zuwanderer aber auch Deutschkurse organisieren, damit sie Anschluss finden. Diese Kenntnisse schon zu verlangen, bevor jemand hierzulande seinen Job antritt? Von dieser Idee sollten sich Unternehmen verabschieden, rät Fachanwältin Viktoria Winstel.

Beim Logistikkonzern DHL wurde sogar eine Sprachlern-App entwickelt, die in jeder im Unternehmen vertretenen Sprache das Fachvokabular für den Arbeitsalltag bereithält. Auf einer separaten Liste stehen als Basis 300 Wörter für den Start. Man sollte die sprachlichen Barrieren nicht dramatisieren, empfiehlt Ferrari. DHL beschäftigt an seinen 3000 deutschen Standorten Menschen aus 190 Ländern. Da wird oft ein Sprachmix gesprochen.

Erfolgsrezept #9: Nach Feedback fragen

In Feedbackgesprächen bekommen Führungskräfte ein besseres Gespür dafür, was die zugewanderten Talente noch benötigen – aber auch, was deutsche Kollegen brauchen, damit die Integration gelingt. Infineon hat zudem eine Arbeitsgruppe gegründet, die über weitere Maßnahmen nachdenkt: Wie kann die Unterstützung beim Umzug aus dem Ausland aussehen? Wie gelingt die Umstellung der Kommunikation auf Englisch? Welche Kollegen können internationale Fachkräfte unterstützen?

In den Kommentaren der halbjährlichen Mitarbeiterbefragung hatten die ausländischen Fachkräfte zudem eigene wertvolle Anregungen. Und die hatten nichts mit der deutschen Sprache oder der undurchsichtigen Bürokratie zu tun. Es ging um koscheres Essen in der Kantine und einen Gebetsraum mit Waschvorrichtung.

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