Ingenieure retten die Erde: Wege ins Humanotop
Wirtschaft und Gesellschaft haben sich das Ziel gesetzt, klimaneutral zu werden. Auch Kommunen sind gefordert, auch wenn sie - anders als in privatwirtschaftlichen Unternehmen - Entscheidungsprozesse durch die örtliche Politik bestimmt werden. Das Umweltbundesamt (UBA) kategorisiert die Einflussbereiche der Kommunen in vier zentrale Rollen:
Verbrauchen & Vorbild
Versorgen & Anbieten
Planen & Regulieren
Beraten & Motivieren.
Die Agenda 2030 mit ihren 17 SDGs zeigt, wo Wirtschaft und Gesellschaft bis 2030 stehen müssen. Sie dient zugleich als Orientierungshilfe für Städte und Kommunen (SDG 11). Betont wird die Bedeutung der Zusammenarbeit und eines ganzheitlichen Ansatzes. Alle sind aufgerufen, mit diesem Modell Verantwortung in allen Nachhaltigkeitsdimensionen zu übernehmen und aktiv zur nachhaltigen Transformation beizutragen. Allerdings sind Kommunen mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert: So können die realen Ausgaben nur zu geringen Anteilen durch Einnahmen gedeckt werden, auch der Kampf gegen den Klimawandel gehört dazu. Auch ist ihr Einfluss auf die Verkehrswende ist relativ gering (kein Einfluss auf Benzinpreise oder den Fahrzeugmarkt). Dennoch entstehen in einzelnen Kommunen Maßnahmen, die als Best-Practice-Beispiele für andere, ähnlich gearteten ländliche Kommunen übertragbar sind.
Das zeigen Prof. Dr.-Ing. Lars-Oliver Gusig (seit 2007 an der Hochschule Hannover Professor für Konstruktion, Fahrzeugtechnik, Energieeffizienz in der Abteilung Maschinenbau) und Dr. Arne Kruse (CEO der RytleX Group SE, Bremen) in ihrem Buch „Nachhaltige Mobilitätslösungen. Fahrzeuge, Antriebe, kommunale Perspektiven“. Dargestellt wird auch die Verbindung unterschiedlicher fachlicher und funktionaler Akteure am Beispiel von Gremienarbeit und Forschungsprojekten aus der Region Hannover. Im Kontext eines professionellem Nachhaltigkeitsmanagements steht die Datenauswertung, -sicherung und -verfügbarkeit zur Mobilität und zum Verkehr auf kommunaler, nationaler und internationaler Ebene im Fokus, um eine Vergleichbarkeit zu gewährleisten. Zugleich ist das Buch ein Plädoyer für mehr Mut – zum Beispiel für Erprobungsräume und Innovationslabore für Mobilitätslösungen. So muss auch die Zunahme der Bedeutung alternativ angetriebener leichter Nutzfahrzeuge im urbanen Kontext berücksichtigt werden, denn: „Die mit der Air Quality Directive von der EU beschlossenen ambitionierten Grenzwerte ab 2030 für Stickoxide, Feinstaub und andere Immissionen werden sich ohne eine gewisse Durchdringungsquote an Elektrofahrzeugen kaum erreichen lassen.“ Leider, so die Kritik der Autoren, setzen Kommunen in der Gestaltung der räumlichen Mobilität häufig noch traditionell auf die Wahlfreiheit gleichwertiger Verkehrs- und Mobilitätsangebote. „Diese Angebotspolitik hat rückblickend bisher nicht den notwendigen Impuls einer Veränderung der Mobilitätsgewohnheiten eingebracht.“
Amsterdam:
die Stadt ist von einem leistungsfähigen, autobahnähnlichen Straßennetz erschlossen
der fließende und ruhende Kraftfahrzeugverkehr ist eher an den Rand gedrängt
der Radverkehr hat ein eigenständiges, parallel und vielfach auch unabhängig von Straßen geführtes enges Netz an Radwegen und Routen (das Netz verbindet zentrale Knoten miteinander)
Stadtentwicklung nach dem Prinzip der 15-Minuten-Stadt (vgl. Paris)
Stärkung von Inter- und Multimodalität.
Barcelona:
Stadtentwicklung im Quartier - das Konzept der „Superblocks“ schließt benachbarte Häuserblocks zu einer neuen Quartierseinheit zusammen (Einbau von Modalfiltern, beispielsweise Poller, Grünelemente und die temporäre oder permanente Installation von Stadtmobiliar hält den Durchgangsverkehr heraus; für den Rad- und Fußverkehr bleiben die Quartiere offen)
Erhöhung der Aufenthaltsqualität des öffentlichen Raums und Stärkung als Freizeit-, Begegnungs- und Erholungsraum
Kopenhagen:
das Stadtbild ist vom Radverkehr geprägt (aus den Vororten führen Radschnellwege in die Innenstadt, auf denen die Radfahrer nur selten an roten Ampeln halten müssen).
In Deutschland sind wir deutlich langsamer im Vergleich zu diesen Städten oder Helsinki, Oslo, Paris und Wien. Um die grüne Transformation auch hierzulande nachhaltig erfolgreich zu gestalten, braucht es mehr Mikromobilitätswege, eine Änderung verschiedener Rahmenbedingungen, eine intelligente Akku-Wechselinfrastruktur, Optimierung der Infrastruktur und der letzten Meile.
Dazu gehören:
kommunale Bürgerbeteiligung
Entwicklung von Förderprogrammen (Start-up-Förderung, Prämien für den Wechsel von Energieträgern, Installation von, Solaranlagen oder Ladeinfrastruktur in Privat- oder Geschäftsimmobilien)
Erstellung schlüssiger und nachhaltiger Gesamtkonzepte
Etablieren von Klimaschutzmaßnahmen über alle kommunalen Bereiche hinweg
Aufbau und Stärkung von Kompetenzen innerhalb der Verwaltung
Entwicklung von Mobilitätsstrategien (Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, Förderung von Fahrradwegen, Einführung von emissionsarmen Zonen, Entwicklung zukunftsfähiger Logistiklösungen)
Partnerschaften zwischen Unternehmen, Kommunen, Wissenschaft und anderen Akteuren (Bündelung von Ressourcen und Nutzung von Synergien)
Integration innovativer Technologien (autonomes Fahren und Elektromobilität)
Entwicklung nachhaltiger und effiziente Verkehrslösungen (Förderung des öffentlichen Nahverkehrs, Schaffung von Fahrradinfrastruktur, Reduzierung von Verkehrsstaus)
Vernetzung und organisatorische Unterstützung von Akteuren
Zusammenarbeit unterschiedlicher Disziplinen und Organisationen (Fahrzeugbau, Maschinenbau, Elektrotechnik, Stadtplanung, Verkehrstechnik, Wirtschaftsingenieurwesen, Energietechnik).
Die Vereinten Nationen formulieren in ihren 17 SDGs konkret, wie nachhaltige (klimagerechte und faire) Mobilität bis 2030 aussehen soll. Dazu gehört vor allem der Zugang zu sicheren, bezahlbaren, zugänglichen und nachhaltigen Verkehrssystemen für alle. Gefragt sind zukunftsfähige, effiziente, smarte und umwelt- und klimafreundliche Transportmittel sowie nachhaltige Geschäftsmodelle. Dabei liegt das größte Potenzial nicht in den einzelnen Technologien, sondern in deren „intelligenter Verknüpfung“, sagt der Ingenieur Prof. Dr. Achim Kampker, Miterfinder des in Aachen entwickelten Elektrofahrzeugs StreetScooter und Mitbegründer der StreetScooter GmbH. In der Vergangenheit wurde der öffentliche Personenverkehr, der Schienenverkehr, das Auto oder das Fahrrad meist für sich betrachtet. Entscheidend wird sein, dass wir die verschiedenen Konzepte kombinieren und aufeinander abstimmen. Da die Vernetzung noch sehr rudimentär ist, ist es meist zu kompliziert, einen Mobilitätsmix zu nutzen. Ebenfalls elementar ist für ihn die Einführung einer Kreislaufwirtschaft entlang der Wertschöpfungskette sowie die Weiterentwicklung einzelner Mobilitätstechnologien.
Bis Ende 2013 leitete Kampker den Lehrstuhl für Produktionsmanagement an der Fakultät für Maschinenwesen der RWTH Aachen. Seit 2014 leitet er den von ihm gegründeten Lehrstuhl Production Engineering of E-Mobility Components (PEM) der RWTH Aachen. im 2019 initiierte er die Gründung des Vereins „Ingenieure retten die Erde.“ Hintergrund: Ingenieure haben das Potenzial dessen, was sie für die Welt tun können, noch nicht eingelöst. Dabei können sie so viel mehr und sollten eine Art Überbau beachten: „So wie Ärzte den ethischen Konsens formulieren, das Leben eines Menschen zu retten, brauchen wir für Ingenieure ebenfalls eine übergeordnete Philosophie – nämlich den Erhalt der Erde. Darauf sollten wir mit allem, was wir tun, hinarbeiten.“ Allerdings ist es leider ist es leider bis heute so, dass mehr geredet als gehandelt wird. Aber uns läuft die Zeit davon. Dennoch will ich eine positive Aufbruchsstimmung erreichen, denn es ist sicher klug, weder in Panik zu verfallen noch eine Anti-Stimmung zu verbreiten“, so Kampker.
2019 gründete er deshalb den Verein „Ingenieure retten die Erde e.V.“ Ziel ist es, das vorhandene technische Wissen dafür zu nutzen, um die Umwelt zu verbessern – ohne den erreichten Wohlstand der Menschen zu gefährden. In seinem Buch „Zukunftslust. Woran wir heute forschen. Was wir längst über das Morgen wissen. Und weshalb wir Hoffnung haben können“ zeichnet er ein positives Zukunftsbild („Schluss mit den Endzeitprophezeiungen!“) und stellt die grüne Modellstadt der Zukunft bei Aachen vor: das Humanotop. Hier werden alle benötigten Ressourcen auf dem gleichen geographischen Gebiet „produziert“. Das Humanotop ist das Modell einer ressourcenneutralen Stadt - in allen Bereichen: Energie, Versorgung mit Lebensmitteln und Mobilität. Alles, was diese Stadt benötigt, wird in diesem geografischen Raum auch hergestellt (der Humanotop als Idealzustand). Es wurden verschiedene Bausteine definiert, die dabei helfen, einzelne Bereiche in einer Stadt oder einem Viertel umzubauen.
positive Ansprache aller Generationen und Bereiche
Aufbruchstimmung und Tatendrang
Abbau der Arroganz gegenüber China
Ganzheitlicher Blick auf allumfassende Probleme
positive Emotionen
Aufbau einer funktionierenden Kreislaufwirtschaft
nachhaltige Lösungen mit Blick auf Themen wie Energie, Verkehr und Ernährung
regionale Masterpläne und pragmatische Lösungen
zirkuläre Innovationen
intelligenter Mix der Mobilitätskonzepte
Konzentration auf den Naturschutz landwirtschaftlicher Areale
Schaffung von Räumen, in denen neues Denken gefördert und die Fantasie angeregt wird, um dann neue Dinge auszuprobieren
systematische Kombination vorhandener Technologien
Veränderung nicht als Bedrohung, sondern als Chance begreifen
zuverlässig funktionierende Wertschöpfungsketten
offener Wettbewerb der Technologien, um schnell zur bestmöglichen Lösung zu kommen.
„Es kommt auf uns, auf jedes Individuum an, wenn es darum geht, wie unsere Zukunft aussieht. Die gesellschaftliche Zukunft zu bestimmen ist eine Gemeinschaftsaufgabe.“ (Prof. Achim Kampker)
Lars-Oliver Gusig und Arne Kruse: Nachhaltige Mobilitätslösungen. Fahrzeuge, Antriebe, kommunale Perspektiven. Hanser Verlag, München 2024.
Achim Kampker: Zukunftslust. Woran wir heute forschen. Was wir längst über das Morgen wissen. Und weshalb wir Hoffnung haben können. bene! Verlag, Droemer Knauer, München 2024.
Stephan A. Jansen und Martha Wanat „Bewegt Euch. Selber!“ Wie wir unsere Mobilität für gesunde und klimaneutrale Städte neu erfinden können, München: Hanser Verlag, 2022
Stephan A. Jansen und Martha Wanat: Urbane Mobilitätskonzepte und Umsetzungen für klimaneutrale gesunde Unternehmen und Quartiere. Perspektiven & Projekte von Beratung bis Wartung. In: Zukunft Mikromobilität. Wie wir nachhaltig in die Gänge kommen. Ein Rad-Geber. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber. Büchner Verlag, Marburg 2022.
Klimaneutralität in der Industrie. Aktuelle Entwicklungen – Praxisberichte – Handlungsempfehlungen. Hg. von Ulrike Böhm, Alexandra Hildebrandt, Stefanie Kästle. Springer Gabler Verlag, Heidelberg, Berlin 2023.
Zukunft Stadt: Die globale und lokale Bedeutung von SDG 11. Wie die sozialökologische Transformation in Wirtschaft und Gesellschaft gelingen kann. Handlungsempfehlungen – Chancen – Entwicklungen. Hg. von Alexandra Hildebrandt, Matthias Krieger und Peter Bachmann. SpringerGabler. Berlin, Heidelberg 2025