Insider-Tipps für Bewerber
„Was würde ich machen, wenn mir alles offen stünde?“
WirtschaftsWoche: Frau Votteler, Sie sagen, man sollte den Urlaub nutzen, um sich beruflich neu zu orientieren. Aber ich möchte mich doch entspannen!
Sabine Votteler: Das schließt sich ja nicht aus. Man muss im Urlaub nicht jeden Tag Bewerbungen schreiben. Aber viele Menschen sagen sogar nach mehrmonatigen Sabbaticals: Ich hätte die Zeit besser nutzen können.
Wie merke ich, dass ich mich umorientieren muss? Vor dem Urlaub sind wir ja alle gestresst.
Ich würde es deshalb nicht an der Situation vor dem Urlaub festmachen. Nur: Gedanken wie „Im Urlaub habe ich endlich meine Ruhe, aber danach geht der Mist von vorne los“ sind ein Signal, dass Sie ernst nehmen sollten. Wenn ich am zweiten Tag nach der Rückkehr bereits alles am liebsten hinschmeißen würde, ist es Zeit für eine Veränderung.
Welche Signale gibt es noch?
Mir gehen Dinge immer wieder gegen den Strich, meine Werte werden verletzt. Etwas tun sollten Sie vor allem, wenn Sie bereits körperliche Konsequenzen spüren: Ich schlafe schlecht, habe keinen Appetit.
Neuorientierung klingt immer gleich nach Jobwechsel. Und damit nach einem Schritt, der vielen zu groß erscheint. Muss es womöglich gar nicht so fundamental sein?
Genau, das sehen die meisten nicht. Vieles lässt sich auf der aktuellen Position verbessern oder innerhalb der Firma.
Aber warum muss ich darüber im Urlaub nachdenken?
Klar kann ich wochenlang mit einem Coach reflektieren, was meine Stärken und Ziele sind. Aber ohne Druck und den Alltagsstress macht es im Urlaub oft eher Klick.
Allein schon durch den Abstand?
Ja, aber damit das gelingt, muss ich offen für neue Eindrücke und Erfahrungen sein. Wir können nur das denken, was wir kennen. Damit ich meinen Horizont erweitern kann, muss ich mich also anderswo umsehen. Meiner Erfahrung nach kommen die Gedanken und Impulse dann von selbst. Viele Menschen bleiben aber auch im Urlaub in ihrem gewohnten Trott. Wenn man so handelt, ist der Urlaub eine verpasste Chance.
Wie gehen Sie die Sache persönlich an?
Was bei mir gut funktioniert, woran man sich aber gewöhnen muss: Tagebuch schreiben. Dieses tägliche Schreiben – egal, ob morgens oder abends – hilft dabei, die Gedanken zu ordnen. Beim Schreiben kann man besser denken und kommt auch auf Gedanken, die man vorher nicht hatte. Eine gute Fragestellung dabei: Womit stehe ich mir eigentlich selbst im Weg?
Berufliche Neuorientierung klingt nach einem Projekt, das mir bei der Erholung im Weg steht.
Es reichen schon einige Minuten am Tag. Ich muss nicht Kitesurfen lernen oder im australischen Outback eine Survival Tour machen. Aber während die Kinder am Strand spielen, kann ich kurz mal die Gedanken schweifen lassen und mich fragen „Was stört mich wirklich an meinem Job und was macht mir Spaß?“ oder „Was würde ich machen, wenn mir alles offen stünde?“
So wenig reicht schon?
Ja, denn es geht im Urlaub darum, wirklich Abstand zu gewinnen. Aber nicht, indem man sagt „Ich lege mich die ganze Zeit an den Strand oder plane jeden Tag voll mit Ausflügen“ und sich dann am Ende des Urlaubs wundert, dass nichts dabei herumgekommen ist. Der Urlaub ist eine wahnsinnig wertvolle Zeit. Aber man muss sie zu nutzen wissen.
Wie denn? Jenseits der Gedankenspiele am Strand.
Natur und Bewegung sind immer gut, da reicht schon ein kurzer Morgenspaziergang. Lesen Sie ein Buch zu einem Thema, das Sie schon immer interessiert hat – aber nicht vom Stapel mit den Büchern, zu denen Sie ewig nicht gekommen sind. Das verursacht nur wieder Druck. Bei der Neuorientierung ist es wichtig, dass es Spaß macht und ungezwungen ist.
Muss es immer etwas Neues sein?
Es ist sinnvoll, etwas Neues auszuprobieren. Aber Sie können auch Dinge, die Sie im Urlaub gern machen, etwas abwandeln. Auf dem Campingplatz können Sie statt im Wohnwagen mal unter freiem Himmel am Strand schlafen.
Oder mal in eine Galerie gehen, obwohl man das eher langweilig findet?
Genau. Wichtig dabei ist, sich wie von außen zu beobachten und zu fragen: Was macht das mit mir? In der Galerie haben mich vielleicht die Bilder gelangweilt – aber ich fand es spannend, Leute zu beobachten. Das könnte man weiterspinnen.
Und nach dem Urlaub?
Man wird nach zwei Wochen nicht die Lösung haben. Es geht vor allem darum, gute Angewohnheiten anzustoßen und beizubehalten. Schaffen Sie sich kleine Inseln der Auszeit, und wenn es nur fünf Minuten sind. Wenn wir Routinen unterbrechen, macht das was mit uns.
Und das schafft auch im Job mehr Klarheit?
Ja, denn wir lernen uns wieder besser selbst kennen. Das können Kleinigkeiten sein. Ich habe durch Zufall kürzlich zum ersten Mal seit dem Kindergarten gebastelt. Und war erstaunt: Kreative Sachen machen mir doch Spaß. Lassen Sie mehr Spielerei zu! Wir sind durch den Job in der Regel sehr ferngesteuert und verlieren uns dabei selbst aus dem Blick.
Dieses Interview ist zuerst im Juli 2024 in der WiWo erschienen.