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Wie Manager ihr Bauchgefühl schulen und Milliardenentscheidungen treffen. - Bild: Getty Images, Illustration: Marcel Reyle
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Intuition: So setzen Sie Ihr Bauchgefühl richtig ein

In einer Welt voller Krisen ist Intuition der beste Stratege. Nur: Wie können Manager ihr Bauchgefühl schulen und es einsetzen, selbst wenn Milliarden auf dem Spiel stehen?

Alexandra Knauer hätte viele gute Gründe gehabt, die Anfrage aus den USA abzuschmettern. Im Frühjahr 2020 erkundigte sich der Pharmakonzern Pfizer nach Labormischgeräten, die das von Knauer geführte gleichnamige Familienunternehmen mit damals rund 150 Mitarbeitern im beschaulichen Berliner Stadtteil Zehlendorf entwickelt und fertigt. Pfizer arbeitete mit Biontech an einem Coronaimpfstoff und benötigte Geräte, die den mRNA-Wirkstoff in Kapseln aus Fetten einschließen. Knauer sollte entwickeln und liefern.

Machen oder nicht machen?

Viele Fragen waren offen: Wird es jemals einen Impfstoff geben? Funktioniert die neuartige mRNA-Technologie? Was sagen die Kunden, die Knauer wegen des aufwendigen Pfizer-Projekts nun vertrösten muss? Werden die Geräte in der Massenproduktion standhalten? Knauer entschied sich schließlich fürs Machen. Nicht weil Berater ihr das nahegelegt hatten oder irgendwelche Kalkulationen dafürsprachen. „Sondern weil es sich richtig angefühlt hat“, sagt Knauer.

Der Umsatz war 2019 im Vergleich zum Vorjahr gesunken – und so drängte sich die Frage nach der nächsten Innovation auf. „Mit der Anfrage von Pfizer öffnete sich eine neue Tür einen kleinen Spalt“, sagt die Firmenchefin. Und Knauer und ihr Team schritten hindurch. „Wir sind damals echt ins Risiko gegangen.“ 2021 setzte das Unternehmen beinahe doppelt so viel um wie 2019. „Plötzlich sind wir viel bekannter in der Pharmabranche“, sagt die Unternehmerin.

Alexandra Knauer entwickelte 2020 mit ihrem Team Geräte für die Produktion des Coronaimpfstoffs von Pfizer und Biontech. - Gene Glover für WirtschaftsWoche
Alexandra Knauer entwickelte 2020 mit ihrem Team Geräte für die Produktion des Coronaimpfstoffs von Pfizer und Biontech. - Gene Glover für WirtschaftsWoche

Mehr Bauch wagen

Was sich damals richtig angefühlt hat? Alexandra Knauer, die das Unternehmen in zweiter Generation führt, kann es gar nicht genau sagen. Intuition. Und auf die kommt es jetzt an. Die Pandemie mag besiegt sein. Doch die Welt plagen andere Krisen: Inflation, Haushaltsmisere, Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten. „Omnikrise“ nannte Trendforscher Matthias Horx die „ineinander verzahnten Krisen“ jüngst. Der Zustand der Omnikrise, er könne für 10, ja gar 20 Jahre anhalten.

Im Fahrwasser, durch das Manager ihre Firmen lenken, türmen sich immer höhere Wellen. Sie müssen schneller entscheiden. „Manager können es sich nicht mehr leisten, wochenlang über eine Entscheidung zu sinnieren und etliche Gutachten erstellen lassen“, sagt Klaus Schweinsberg, der Manager berät und an der ESCP Business School in Paris lehrt. Bedroht ein Cyberangriff die Firma, geht ein Lieferant bankrott, bietet sich die Chance, in ein spannendes Start-up zu investieren, müsse es zügig gehen. Keine Zeit für Kostenplan und Entscheidungsmatrix. Höchstens für Gespräche mit Kollegen, das Besinnen auf Erfahrungen, das eigene Gefühl. „Je mehr Bauchentscheidungen Manager treffen, desto sicherer werden sie darin. Sie trainieren ihren Entscheidungsmuskel“, sagt Schweinsberg.

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Nur lässt sich Intuition eben nicht anordnen. Wie also helfen Entscheider ihr auf die Sprünge?

Intuition ist „nichts sehr Mysteriöses“, wie es Herbert Simon, Träger des Wirtschaftsnobelpreises, 1992 formulierte. „Es ist dasselbe, was uns in die Lage versetzt, einen Freund auf der Straße zu erkennen. Und es basiert auf einer enormen Anhäufung von Erfahrung.“ Dieses gefühlte Wissen gelange zügig ins Bewusstsein, sagt auch Gerd Gigerenzer. Der Psychologe ist Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz an der Universität Potsdam, hat jahrzehntelang zu Intuition geforscht. „Wir wissen relativ schnell, ob wir eine Idee verfolgen oder besser die Finger davonlassen sollten.“

Intuition sei nicht begründbar, jedoch auch „nicht das irrationale Gegenteil von durchdachten Entscheidungen“. Gigerenzer hat viele Unternehmer gefragt, wie viele Entscheidungen sie letztendlich aus dem Bauch heraus treffen. „Die Antwort, die ich am häufigsten gehört habe: in etwa die Hälfte. Nur würden die Manager und Führungskräfte das niemals öffentlich zugeben.“ Klaus Schweinsberg beobachtet gerade bei börsennotierten Konzernen eine, wie er es nennt, „Ex-Post-Rationalisierung“. Bei vielen Entscheidungen habe der CEO ein Gefühl, „wohin die Reise gehen soll, und braucht dann Futter für die Gremien“, sagt Schweinsberg. „Dann finden Mitarbeiter oder Berater viele Argumente für den Weg, den der Chef gehen will.“ Ins Protokoll des Aufsichtsrats könnten sie schlecht schreiben, dass sich die Expansion in neue Märkte einfach gut anfühle.

In Familienunternehmen ist das einfacher. So wie bei Knauer. Seit 23 Jahren gehört Alexandra Knauer das Unternehmen, das ihre Eltern 1962 gegründet haben. Allein. Die Entscheidungswege sind kurz, im Zweifel steht das eigene Vermögen auf dem Spiel. Auch Schweinsberg sagt: „Alleinherrscher wie etwa Martin Herrenknecht operieren sehr intuitiv und müssen sich vor niemandem rechtfertigen, weil sie ja fast immer richtig lagen.“

Lehren fürs CEO-Leben

Christoph Werner ist zwar erst seit vier Jahren Chef der Drogeriekette dm, trainierte sein Bauchgefühl allerdings schon früh. Sein Vater Götz gründete dm 1973. Den Sohn nahm er mit in die Märkte, als der noch Schulkind war. Später sprachen sie über so manche Entscheidung. Auch mal in der heimischen Sauna. Etwa als Götz Werner die Rolle des Vertriebsprokuristen abschaffte und jeder Geschäftsführer Verantwortung für eine Region übernahm. „Wenn der Chef ganz oben plötzlich kein ausschließlicher Vertriebsexperte mehr ist und auch noch ein zentrales Ressort verantwortet, müssen die Führungskräfte in den Gebieten sehr gut sein“, sagt Christoph Werner. Der Vater erzählte dem Sohn, dass die Manager überlegten, welchen Führungskräften sie das zutrauen. Bei rund 70 Prozent hatten sie Bedenken. „Mein Vater sagte damals zu mir, dass sie die Pläne eigentlich hätten verwerfen müssen“, erzählt Werner. Und doch zog er die Sache durch. „Weil er sich intuitiv sicher war, dass ein überwiegender Teil unserer Führungskräfte in ihre neuen Rollen hineinwachsen würde.“

Werner selbst musste als CEO früh Krisenentscheidungen treffen. Während der Pandemie besprach das Management mit dem damaligen Gesundheitsminister Jens Spahn, wie dm helfen könne. Masken waren knapp, Hygieneartikel begehrt. Dann erhielt Werner abends einen Anruf. Am Apparat: Spahn. „Er wollte wissen, ob wir als Einzelhändler prinzipiell Schnelltestzentren eröffnen könnten.“ Kurze Abstimmung mit der Geschäftsführung, Entscheidung gefallen: 2021 betrieb dm Hunderte Testzentren. Filialen, die während der Lockdowns einen Bruchteil ihres üblichen Umsatzes machten, ließ Werner kurzfristig zu kleinen Logistikzentren umbauen. Mitarbeiter verpackten Onlinebestellungen der Kunden. „Das brachte uns einen enormen Schub im Onlinegeschäft.“

Die Vorhaben waren ambitioniert. Doch der Sache war sich Werner sicher. Damit eine Firma mit Veränderung umgehen könne, brauche es eine beherzte Haltung. Zuversicht. Und die erwächst nicht, wenn Leute reihenweise gehen müssen, weil der stationäre Handel kriselt.

Schon als Kind verbrachte Christoph Werner viel Zeit in den Filialen von dm. Heute leitet er die Drogeriekette. - sz photo/Max Brugger
Schon als Kind verbrachte Christoph Werner viel Zeit in den Filialen von dm. Heute leitet er die Drogeriekette. - sz photo/Max Brugger

Stress im Flieger

In der Geschäftsführung von dm sitzen acht Personen. Acht Bauchgefühle. „Und bei jeder Entscheidung achte ich auf Konsens, damit sie auch mitgetragen wird“, sagt Werner. Hat ein Geschäftsführer kein gutes Gefühl, beraten die Manager darüber. Bei der Diskussion über Workation, der Arbeit vom Urlaubsort, gab es Bedenken wegen der Regularien. Kompromiss: „Das machen wir jetzt mal ein Jahr und prüfen dann genau, ob es funktioniert oder nicht.“ Eine Bauchentscheidung entbinde nicht davon, regelmäßig zu überprüfen, „ob Sie damit richtig lagen“, betont Werner. Bauch ja, aber nicht ohne Kopf.

Psychologe Gigerenzer, der auf zwei Führungskräftetagungen von dm als Redner zu Gast war, würde zu noch mehr Pragmatismus raten: Wer die meiste Erfahrung mit einer Problemstellung besitzt, sollte entscheiden. „Plumpe Mehrheitsentscheidungen führen häufig zu schlechteren Entscheidungen“, sagt Gigerenzer, der das vor einigen Jahren in einer Bank beobachtete. Vier Vorstände berieten über die Expansion nach Taiwan. Der erfahrenste Vorstand, so erzählt es Gigerenzer, hatte ein schlechtes Gefühl. Als ihn die Kollegen nach den Gründen fragten, „musste er die Argumente erfinden“. Intuition ist eben nicht begründbar. Die anderen Chefs schmetterten die Argumente ab, und die Expansion in das Land, das China immer aggressiver für sich beansprucht, war beschlossen. Und? „Jetzt verlassen sie Taiwan wieder“, sagt Gigerenzer.

Klaus Schweinsberg weiß, dass häufig der CEO eine Entscheidung an sich reißt, wenn die Zeit drängt. Das beobachtet der Berater in Experimenten mit Managementteams im Flugsimulator. Sie sollen eine A380-Maschine landen. „Der CEO setzt sich meist auf den Pilotensitz, macht den CFO zum ersten Offizier – das ist ganz typisch“, sagt Schweinsberg. Plötzlich treten Turbulenzen auf, ein Passagier erleidet einen Herzinfarkt. Dann tun sich häufig die stilleren Manager hervor, kritisieren den überforderten Chef und greifen beherzt ein, wie Schweinsberg sagt. „Statt dass der Ranghöchste das Kommando übernimmt, sollte der CEO fragen, ob jemand im Team einen Flugschein hat oder daheim am Rechner Flugsimulator spielt.“

Unter Zeitdruck, sagt Gerd Gigerenzer, komme Intuition eine viel größere Bedeutung zu als im alltäglichen Geschäft. „Und häufig sind Bauchentscheidungen unter Zeitdruck die besseren.“ Wenn denn genug Erfahrung vorhanden ist. In Experimenten mit Golfspielern, die innerhalb weniger Sekunden einen Ball ins Loch putten mussten, konnten Forscher zeigen, dass die erfahrenen Spieler öfter treffen als ohne Zeitbegrenzung. Anfänger allerdings verfehlen das Ziel häufiger.

Stets vor Augen

Um Bauchentscheidungen nicht nur auf dem Golfplatz zuzulassen, braucht es eine Unternehmenskultur, in der Fehler nicht bestraft werden. So wie Gigerenzer sie in einem Medizintechnikunternehmen einführte, wie er erzählt. Die Chefin verteilte an ihre Manager eine Karte des Brettspiels Monopoly: „Du kommst aus dem Gefängnis frei“. Die Manager sollten sie auf ihren Schreibtisch legen. Erwies sich eine wichtige Entscheidung als falsch, mussten sie die Karte abgeben. Klingt albern? Mag sein. Doch zeigt Wirkung, wie Gigerenzer sagt: „So wissen die Entscheider, dass es gewünscht ist, Risiken einzugehen, und werden daran Tag für Tag erinnert.“

Manchmal braucht es ein Erweckungserlebnis. So wie bei Knauer, wo sie nach der Erfahrung mit Pfizer den Mut zum Risiko bewahren wollen. Knauer wechselt das Warenwirtschaftssystem, über das Mitarbeiter Einkauf, Lagerhaltung, Produktion steuern. „Microsoft hat für die Umstellung 18 bis 24 Monate veranschlagt, das war uns zu lange“, erzählt Alexandra Knauer. Mit Co-Geschäftsführer Carsten Losch entschied sie sich für die Software eines Start-ups. „Microsoft wäre der sicherere Weg gewesen, ja. Aber auch teurer, langwieriger und weniger innovativ“, sagt Knauer. „Wenn wir stets nur das tun, was andere auch machen, können wir nicht mehr erreichen.“

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