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Intuition und Entscheidungsfindung: Worauf es ankommt

Der portugiesische Neurowissenschaftler António Damásio beschreibt Emotionen als unbewusste Körperreaktionen auf äußere Reize. Gefühle entstehen dagegen im Verstand, wenn diese Körperreaktionen bewusst wahrgenommen werden. 1994 schrieb er in seinem Buch „Descartes‘ Irrtum“ über den Patienten und erfolgreichen Geschäftsmann Elliot, dem ein Tumor aus dem Gehirn entfernt wurde. Nach der OP war er zwar noch immer überdurchschnittlich intelligent (sein Verstand wurde nicht in Mitleidenschaft gezogen), aber seine Persönlichkeit hatte sich radikal verändert. Er war emotional völlig erkaltet, konnte auch keine Traurigkeit empfinden und war nicht mehr in der Lage, Entscheidungen zu treffen. Er verzettelte sich ständig bei Erledigung seiner Arbeit. Grund für sein Zögern war ein „Entscheidungszentrum“ im Gehirn, das bei der Operation vermutlich beschädigt wurde. Damásio suchte nach ähnlichen Fällen und fand weitere Menschen, die ihre Emotionen verloren hatten – und damit auch ihre Fähigkeit, sich zu entscheiden. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Forscher davon überzeugt, dass Entscheidungen ausschließlich rational getroffen würden.

„Das zentrale Thema bei Managemententscheidungen ist das Unterbewusstsein, dieses Sediment alles aufgesogenen Wissens und Erfahrung. Maximen, um es zu stärken, sind Neugier und unablässiges Lernen. Das Beste, was aus dem Unterbewussten fließt, ist meiner Meinung nach nicht die intuitive Entscheidung, sondern die Kreativität. Das versuche ich in meinem Unterricht auch rüberzubringen“, sagt der Schweizer Manager und Publizist Benedikt Weibel. Intuition und Erfahrungswissen verbindet er mit dem Bauchgefühl. Es ist für ihn „mit Mustern verbunden, die im Unterbewusstsein gespeichert sind - durch jahrelang erworbenes Wissen und Erfahrung. Mittlerweile weiß ich, in welchen Bereichen ich der Intuition misstrauen muss - zum Beispiel bei Personalentscheidungen.“ Dr. Benedikt Weibel, Jahrgang 1946, wuchs in Solothurn auf, wo er die Matura absolvierte. Anschließend studierte er Betriebswirtschaft an der Universität Bern. Zwischen 1971 und 1978 war er als Assistent am Betriebswirtschaftlichen Institut der Uni Bern tätig. 1978 erfolgte sein Wechsel zu den SBB als Sekretär des damaligen Präsidenten der Generaldirektion, Roger Desponds. Mit der Ernennung zum SBB-Generalsekretär 1983 begann seine berufliche Karriere. 1986 wurde Weibel Direktor des Marketingbereichs Personenverkehr, 1990 Leiter des Departements Verkehr. Von 1993 bis 2006 war er Vorsitzender der Geschäftsleitung der SBB.

Neben seiner Tätigkeit als SBB Chef präsidierte er 2003 bis 2006 den Weltverband der Eisenbahnunternehmungen UIC (Union International des Chemins de Fer). Von 2003 bis 2007 war er Verwaltungsrat der französischen Staatsbahn, 2007/08 Delegierter des Bundesrates für die EURO 2008. Von 2007 bis 2016 war er Honorarprofessor an der Universität Bern für Praktisches Management. Er ist Präsident des Aufsichtsrats der WESTbahn in Österreich. Am 26. Februar 2013 wurde er in Brüssel mit dem European Railway Award 2013 ausgezeichnet. Heute ist er Publizist und Mitglied verschiedener Gremien. Die Frage, ob es Unternehmensentscheidungen gab, die er intuitiv getroffen hat, lässt sich für Benedikt Weibel nicht leicht beantworten: „Nach dem dritten großen Bahnunfall 1994 wusste ich, dass wir jetzt etwas tun müssen. War das Intuition? Die einsame Entscheidung, die ich getroffen und gegen alle internen und externen Widerstände durchgesetzt habe, basierte jedoch auf rationalen Überlegungen.“ Auf die Frage, ob er sein Bauchgefühl auch ignoriert hat, antwortet er: „2017 wurde ich angefragt, ob ich kurzfristig für 14 Monate das Präsidium des Verwaltungsrates der Industriewerke Basel übernehmen würde. Die Firma war in einer Notsituation, weil sie den Präsidenten und CEO gleichzeitig verloren hatte. Mein Bauchgefühl sagte mir: ‚Das solltest du nicht machen.‘ Ich habe es doch getan, weil ich mich dem Regierungsrat, der mich angefragt hatte, verpflichtet fühlte. Und habe es nicht bereut.“ Was oft als unreflektierte Bauchentscheidung gilt, erweist sich seiner Meinung nach als unbewusste Reflexion aufgrund von gespeicherten Mustern. Intuition basiert für ihn auf der Fähigkeit, mithilfe von Erfahrungen Situationen wiederzuerkennen. „Die spontane Erkennung eines Musters aktiviert die Reaktion. Intuition führt dazu, dass Dinge erkannt werden, ohne dass man sich bewusst wird, wie sie erkannt werden.“

Das althochdeutsche „gewizzan“ geht auf das lateinische „conscientia“ zurück, das so viel wie Bewusstsein oder Mitwissen heißt. Auch im alten Griechenland existierte die Vorstellung, dass es für sämtliche Handlungen gegenüber Göttern und Menschen einen inneren „Mitwisser“ (Gewissen) gibt. Sokrates spricht in der platonischen Apologie von einer „inneren Stimme“, die vor falschen Entscheidungen warnt. Von Kindheit an will er sie gehört haben - „eine Stimme nämlich, welche jedes Mal, wenn sie sich hören lässt, mir von etwas abredet, was ich tun will, zugeredet aber hat sie mir nie“. Sokrates nennt sie sein daimonion, eine Art „geistige“, möglicherweise „göttliche“ Eingebung, von der er sicher ist, dass sie ihm durch ihr Abraten immer den richtigen Weg weist – besser als es sein Verstand je könnte. Diese Vorstellung einer inneren Stimme ist auch mit Wahrheit und Erkenntnis verbunden. Sie schaltet sich immer dann ein, wenn wir eigentlich wissen, was das Gute ist, aber anders handeln. Sokrates ging davon aus, dass wir es hier mit einer Art Eingebung zu tun haben, mit etwas, das von außen zu unserem Inneren spricht und uns den richtigen Weg weist. Der Philosoph war davon überzeugt, dass wir durch intensives Nachdenken zu moralisch guten Entscheidungen kommen können und übertrug dem Menschen die Verantwortung für sein Tun.

Immanuel Kant - der wichtigste Philosoph der deutschen Aufklärung, der wie Sokrates die Vernunft pries - erhob den kategorischen Imperativ zum Grundprinzip des ethischen Handelns: "Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne."

  • António Damásio: Descartes’ Irrtum. Fühlen, denken und das menschliche Gehirn. List Verlag, München 2004.

  • Nicole Grün: Wut als Wegweiser. In: Süddeutsche Zeitung (2./3.10.2021), S. 59.

  • Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller: Vorwort. In: Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.

  • Benedikt Weibel: Simplicity. Die Kunst, die Komplexität zu reduzieren. Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich 2014

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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