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"Irrationales Verhalten"

Herr Simon, was sind die aktuellen Trends im Preismanagement?

Simon: An erster Stelle ist das die Digitalisierung. Der zweite Punkt, der damit zusammenhängt, ist die weitaus verbesserte Informationslage durch Big Data. Durch die Digitalisierung sind viele neue Preismodelle entstanden – Freemium, Pay-per-Use und so weiter. Das ist eine methodische Erweiterung. Das Zweite ist eine analytisch-inhaltliche Weiterentwicklung. Wenn Unternehmen direkt das Kundenverhalten beobachten können, sind sie in der Lage, die Preise besser zu differenzieren. Früher lief der Großteil der Verkäufe über Händler ab, und Hersteller hatten keinen direkten Zugang zum Kunden. Das hat sich fundamental verändert.

Die Digitalisierung hat viele Produkte günstiger gemacht. Manches gibt es kostenlos – etwa Speicherplatz in der Cloud oder Ähnliches.

Simon: Da kommt der dritte Trend ins Spiel: die Globalisierung. Heute ist es auch für das kleinste Unternehmen möglich, an jedem Ort der Welt Waren anzubieten – und sie über Transportdienstleister dorthin liefern zu lassen. All das mit globaler Preistransparenz. Und viertens: Digitale Produkte lassen sich unendlich vervielfältigen, ohne dass dabei zusätzliche Kosten entstehen. Das heißt: Die Grenzkosten tendieren gegen null. Was das bedeutet, versteht die Preisforschung noch nicht ganz. Es handelt sich um ein völlig neues Phänomen, das zu irrationalem Verhalten führt.

Wieso das?

Simon: Die kurzfristige Preisuntergrenze bestimmt sich immer über die Grenzkosten, zusätzlich brauchen Unternehmen eine Marge, von der sie leben können. Wir erleben aber in der digitalen Welt, dass Unternehmen nur zu Grenzkosten anbieten oder mit dem Preis sogar daruntergehen. Wir haben im Internet schon früh negative Preise gesehen, etwa als Paypal früher jedem Neukunden 20 Dollar schenkte. Heute kommt das häufiger vor, weil Unternehmen mit dem entsprechenden Kapital im Hintergrund schnell Marktanteile erobern wollen. Der chinesische Mietfahrradanbieter Mobike bezahlt seine Kunden sogar dafür, dass sie seine Fahrräder nutzen.

Was bedeutet diese Entwicklung für Unternehmen? Wie sollten sie auf sinkende Grenzkosten reagieren?

Simon: Sie sollten als Erstes verstehen, welchen Kundennutzen ihre Produkte und Dienstleistungen haben. Wenn sie kaum noch Grenzkosten haben, dann können sie daraus auch keine Schlüsse mehr für das Pricing ziehen. Heute orientieren sich Unternehmen zu 80 bis 90 Prozent an den Kosten – das funktioniert in Zukunft nicht mehr. An diese Stelle muss eine wertorientierte Preisbildung treten. Und Manager müssen dabei die Konkurrenz im Auge behalten.

Wie wirkt sich das auf deutsche Unternehmen aus?

Simon: Deutsche Produkte haben meist eine hohe Qualität und sind sehr wettbewerbsfähig. Die entscheidende Frage ist, wie groß der Vorsprung vor der Konkurrenz ist – nur aus diesem Wissen lässt sich der Preis ableiten. Die Unternehmen müssen dazu den Wert ihrer Marke genau kennen und herausfinden, wie sie diesen unter den neuen Bedingungen erhöhen können.

Nun gibt es nicht nur Premiumanbieter in Deutschland, sondern auch Unternehmen, die mit günstigen Preisen werben.

Simon: Wenn ich im Niedrigpreissegment mithalten will, muss ich zum Chinesen oder Inder werden. Das beobachte ich bei Unternehmen aus bestimmten Branchen, die global aufgestellt sind. Für ein Premiumauto "made in Germany" brauche ich einen Standort in Deutschland, chemische Produkte hingegen sind oft weniger differenziert – die muss ich eventuell in China produzieren.

Heißt das, BASF sollte seinen Standort in Ludwigshafen dichtmachen?

Simon: So weit würde ich nicht gehen. Die BASF hat in Ludwigshafen enorme Verbund- und Größenvorteile, zudem sind durch das Werk die Transportkosten in die europäischen Märkte gering.

Sagten Sie nicht, sogar Kleinunternehmen könnten heute überall auf der Welt liefern lassen? Welche Rolle spielen die Transportkosten in einer globalen Welt noch für die Preisbildung?

Simon: Das hängt vom jeweiligen Produkt ab. Wenn ich in China oder Japan unterwegs bin, fasziniert mich immer wieder, dass es in jedem Hotel Wasser von Evian gibt. Wasser ist vielleicht der Prototyp einer Commodity, und doch schafft es Evian, sein Wasser zum fünf- bis zehnfachen Preis der lokalen Anbieter zu verkaufen. Offensichtlich ist das Marketing in der Lage, einen Wert zu schaffen, der die Transportkosten übersteigt. Ökologisch ist es natürlich Wahnsinn, Wasser von Europa nach Asien zu verschiffen, zumal bei einem Blindtest vermutlich niemand ein Evian-Wasser von einem anderen Wasser unterscheiden kann.

Evian gehört zum französischen Danone-Konzern. Der hat wohl nicht nur die Mittel für ein geniales Marketing, sondern vermutlich auch für eine fortschrittliche Pricing-Software. Der Studie der Beratungsgesellschaft Bain zufolge, die wir in diesem Heft vorstellen, nutzen aber nur 26 Prozent der Unternehmen solche Programme. Woran liegt das?

Simon: Mein Eindruck ist, dass standardisierte Pricing-Software in der Regel zu massiven Enttäuschungen führt. Den Kundennutzen zu verstehen ist eine komplexe Angelegenheit und setzt bereits in der Produktentwicklung an. Sie müssen sich dort die Frage stellen: Wie schaffe ich es, ein Produkt zu entwickeln, das den Kunden einen höheren Nutzen bringt? Außerdem: Wenn ich eine Commodity oder eine einfache Dienstleistung anbiete, hilft mir auch keine Pricing-Software – der Preis ist ohnehin durch den Markt bestimmt.

Da Sie so viel Wert auf den Kundennutzen legen: Wie lässt sich dieser zuverlässig bestimmen?

Simon: Software bringt Sie da nicht weiter. Solche Programme analysieren Abnahmemengen, Kaufintervalle und Ähnliches, aber nicht den Nutzen Ihres Produkts für den Kunden. Es hat auch keinen Zweck, den Kunden direkt nach dem Nutzen oder seiner Preisbereitschaft zu fragen, weil der diese Aspekte nicht direkt und präzise beziffern kann. Die wichtigste Methode, um Nutzen und Preisbereitschaft zu quantifizieren, ist die Conjoint-Analyse, auf Deutsch: Verbundmessung. Sie konfrontieren den Kunden dabei mit unterschiedlichen Produktkonfigurationen. Er gibt nur an, welches Angebot er jeweils bevorzugen würde. Wenn Sie systematisch vorgehen, können Sie so den Wert einzelner Merkmale berechnen. Sie können dann bestimmen, wie sehr sich die Zahlungsbereitschaft erhöht, wenn Sie etwa den Benzinverbrauch eines Autos von sechs auf fünf Liter senken. Dies müssen Sie durch qualitative Interviews ergänzen, um zu verstehen, was wirklich in den Köpfen der Leute vorgeht.

Kann das Software nicht besser erledigen? Digitale Dienstleistungsunternehmen verfügen heute über riesige Datenmengen zum Einkaufsverhalten, die sich dafür heranziehen lassen.

Simon: Mit Big Data geht eine große Gefahr einher. Neulich habe ich eine Studie gelesen, für die die Autoren Daten von 50 Millionen Uber-Fahrten analysiert hatten. Das Ergebnis war eine extrem geringe Preiselastizität. Wer sich damit auskennt, hat sofort erkannt, dass die Zahlen nicht stimmen können. Am Ende stellte sich heraus, dass die Autoren Aufschläge analysiert hatten: Wenn die Nachfrage steigt, gehen bei Uber automatisch die Preise hoch. Aber wenn der Kunde zum Flughafen will, hat er keine Wahl – er akzeptiert auch einen sehr hohen Preis. Nur: Beim nächsten Mal nimmt er nicht mehr Uber, sondern ein anderes Verkehrsmittel. Die Big-Data-Analyse hat die langfristigen Wirkungen völlig außer Acht gelassen.

Dann war aber nicht nur die Analyse kurzsichtig – auch der Algorithmus zur Preisbildung braucht eine Nachbesserung.

Simon: Nicht nur das: Automatisierte Preise können noch ganz andere Probleme hervorrufen. Vor einiger Zeit gab es einen Terroralarm in Australien. Sofort bestellten viele Australier Uber, und automatisch vervielfachten sich die Preise. Am nächsten Tag stand etwas in der Zeitung wie "Uber missbraucht Notsituation". Das war ein PR-Gau sondergleichen. Wenn Algorithmen die Preise festlegen, sollte ein Mensch immer noch einmal drüberschauen, bevor wirklich umgesetzt wird.

Gleichzeitig nutzen auch die Kunden Algorithmen, um das günstigste Angebot zu finden – über Preissuchmaschinen im Internet. Viele scheinen nur noch zu kaufen, wenn ihnen ein hoher Rabatt gewährt wird. Macht das Internet die Preise kaputt?

Simon: Die stärkste Wirkung des Internets ist die erhöhte Transparenz. Das begünstigt Niedrigpreisanbieter. Ich würde das Thema aber in Richtung Differenzierung erweitern. Die Rabatte sind eine Facette davon. Das Internet gibt Unternehmen die Möglichkeit, Zielgruppen anzusprechen, die sie vorher nicht erreichten. Priceline ist ein Beispiel dafür, es ist sozusagen ein Portal zur Resteverwertung. Fluggesellschaften können hier Tickets loswerden, die sie sonst nur schwer an den Mann bringen könnten, und so ihre Kapazitäten auslasten. Umgekehrt sind die Preise für Onlinebuchungen in letzter Minute sehr viel höher, als wenn Sie drei Monate im Voraus buchen. Das Internet macht also nicht alles billiger, sondern differenziert stärker.

Für Kunden ist die Preisdifferenzierung nicht immer schön. Flugreisende sind oft genervt, weil die vielen unterschiedlichen Preise und Preiskomponenten für Gepäck, Beinfreiheit und Klasse schwer zu durchschauen sind. Ganz zu schweigen vom Sammeln und Einlösen von Meilen.

Simon: Das Problem kenne ich. Wenn ich nach China reise, fliege ich immer in der ersten Klasse, weil ich nur dort schlafen kann. Ich habe zwar so viele Meilen gesammelt, dass ich viele Flüge zum Economy-Preis buchen und die Meilen zum Upgrading nutzen könnte. Aber das geht nur, wenn es auf dem jeweiligen Flug noch freie Plätze gibt. Oft ist das nicht der Fall. Bei manchen Flügen erfahre ich erst am Vortag des Fluges, ob das Upgrade klappt. Weil ich vermeiden will, am Ende gerädert in China anzukommen, zahle ich lieber direkt den vollen Preis für einen Erste-Klasse-Flug. So habe ich am Ende wenig von meinen vielen Meilen.

Das ist ärgerlich. Auf der anderen Seite bieten sich Schnäppchenjägern im Internet tolle Chancen, günstiger einzukaufen.

Simon: Wenn man die Zeit dafür hat. Ich nehme beispielsweise viele Nahrungsergänzungsmittel und habe mehrfach festgestellt, dass die bei Amazon deutlich teurer sind. Aber es ist mir zu lästig, mich jedes Mal bei einem neuen Anbieter zu registrieren und meine Kreditkartendaten anzugeben. Also zahle ich die fünf Euro mehr, weil es bequemer ist. In vielen Fällen vergleiche ich Preise nicht, weil es mir einfach zu lästig ist.

Das ist ein typisches Beispiel für die Marktmacht eines Plattformanbieters im Internet. Der Preiswettbewerb wird hier ein Stück weit außer Kraft gesetzt. Wie können Unternehmen gegen einen übermächtigen Konkurrenten wie Amazon bestehen?

Simon: Amazon konnte so groß werden, weil Investoren bereit waren, sein Wachstum über viele Jahre zu finanzieren. Gegen einen Monopolisten, der sich Verluste leisten kann, haben Unternehmen, die kostendeckend arbeiten müssen, keine Chance. Die einzige Möglichkeit sehe ich darin, in eine Nische auszuweichen, in der der Monopolist noch nicht ist.

Und wenn das nicht geht?

Simon: Dann hilft wohl nur noch beten.

Profil

Der Experte

Hermann Simon gilt als der bekannteste Pricing-Experte weltweit. Als Wirtschaftsprofessor lehrte er unter anderem in Bielefeld, Mainz, an der Harvard Business School und der London Business School. Er hat die Bahncard erfunden und den Begriff "Hidden Champions" geprägt. Vor Kurzem erschien im Campus-Verlag seine Autobiografie "Zwei Welten, ein Leben: Vom Eifelkind zum Global Player".

Der Berater

Simon ist Gründer und Honorary Chairman von Simon-Kucher & Partners, eine der wenigen international erfolgreichen Unternehmensberatungen aus Deutschland. Ihr Spezialgebiet ist das Pricing.

Mit Hermann Simon sprach HBM-Redakteur Ingmar Höhmann.

© HBM 2018

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