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Greenpeace-Aktivisten demonstrieren Anfang April vor der bayerischen Landesvertretung in Berlin | © dpa
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Ist „Klimaneutral 2045“ nur noch eine Illusion?

Gerade werden die Klimaziele neu bestimmt – in den Koalitionsverhandlungen (dort werden sie aufgeweicht) und in der EU (dort werden sie gestreckt). Mit dem aktuellen politischen Kurs ist das Ziel ganz offensichtlich nicht zu erreichen. Das sagt aber kaum jemand.

Die Website mit der prominenten Adresse energie.de nennt sich „Portal der Energiewirtschaft“. Ende März wurde dort eine bestürzende Botschaft verkündet: „Aus heutiger Sicht ist das Ziel ‚Klimaneutralität 2045‘ kaum noch zu erreichen. Die Verantwortlichen wissen das. Darüber wird aber nicht gesprochen.“

Der Autor, Knut Kübler, war einmal Referatsleiter im Bundeswirtschaftsministerium, zuständig für Energieforschung. Seine Grundannahme – dass nämlich die Stimmung im Land ehrgeizigere Maßnahmen verhindert – kann man womöglich bezweifeln. Dass wenig über Realitäten gesprochen wird, hingegen nicht.

Das Ziel pflichtschuldig „fest im Blick“

Dafür verstärken sich gerade die Anzeichen, dass man an den 2021 beschlossenen Weg zur Klimaneutralität bis 2045 nicht mehr ernsthaft glaubt. In den Wahlprogrammen von SPD und CDU/CSU wurde noch pflichtschuldig festgehalten, man habe dieses Ziel „fest im Blick“. Am 18. März fand das Vorhaben mit der Mehrheit von Union, SPD und Grünen im Bundestag sogar ins Grundgesetz – wie bindend, ist umstritten, aber da steht es.

Kernfusion in Aussicht

Schon das Abschlusspapier der Verhandlungsgruppe Klima und Energie zwischen Union und SPD machte aber deutlich, in welche Richtung es geht: mehr neue Gaskraftwerke, weniger Geld für den Netzausbau, mehr Möglichkeiten zum Emissionshandel, um sich Zeit zu erkaufen. Als Lösung wird „Kernenergie der neuesten Generation“ in Aussicht gestellt: „Small Modular Reactors“ und Fusionskraftwerke. Technologien, die, wenn überhaupt, in ferner Zukunft einen Beitrag leisten könnten.

Härten nach hinten schieben

Auf Ebene der EU ist ein neues Klimagesetz überfällig, das die Kommission bis März vorlegen wollte. Damit die konservative EVP im Parlament zustimmt, sind offenbar Zugeständnisse nötig, die das Reduktionsziel „90 Prozent bis 2040“ aufweichen werden. Der CDU-Klimapolitiker Peter Liese sagte „Tagesspiegel Background“, er halte 70 Prozent bis 2035 für realistisch, „ohne die Gefahr einer Deindustrialisierung heraufzubeschwören“.

Der Effekt ist der gleiche wie auf Bundesebene: Härten nach hinten schieben, um vorerst wie gewohnt weiterzumachen. Die drohende „Deindustrialisierung“ war schon im Wahlkampf eine beliebte Drohkulisse, um Stimmung gegen die Grünen zu erzeugen.

Die Lücke steigt immer stärker an

Dabei hat das Umweltbundesamt in seinen Projektionsdaten für 2025 vorgerechnet, dass Deutschland seine Ziele deutlich zu verfehlen droht: „Die projizierte Lücke zu den errechneten Zielvorgaben steigt immer stärker an.“ Zwar werden Emissionen eingespart, aber bei Weitem nicht genug. Besonders die Sektoren Gebäude und Verkehr hinken hinterher – gerade jene Bereiche, wo viel leichter Fortschritte zu machen wären als in der Industrie oder der Landwirtschaft.

Wenn die Realität sich manifestiert

Der Eindruck, die Klimaziele würden stillschweigend aufgegeben, macht Sorgen. „Sobald die breite Bevölkerung bemerkt, dass ständig ‚geschwindelt‘ wird (...), besteht das Risiko eines grundlegenden und weitreichenden Vertrauensverlustes“, schreibt Kübler.

Auch der Expertenrat für Klimafragen verlangt mehr Offenheit: Zielkonflikte sollten „transparent benannt und offengelegt und damit dem gesellschaftlich-politischen Diskurs zugeführt“ werden. Andernfalls würde „die durch die Realität eintretende Manifestierung der Zielkonflikte die Akzeptanz der zum Erreichen der gesetzten Klimaschutzziele notwendigen Maßnahmen gefährden“.

Man könnte es auch einfacher formulieren: Wenn die Menschen mittels der „Realität“ mitbekommen, dass sie getäuscht wurden, werden sie weniger motiviert sein, die nötigen Einschränkungen und Belastungen zu tragen. Der „Zielkonflikt“, den die Klimaexperten ansprechen, lautet: mehr Klimaschutz, vermutlich weniger Wachstum. Das ist nicht populär, wenn die Bundeswehr aufgerüstet werden muss und Menschen um ihre Jobs fürchten.

Klimaanlagen im Kommen

Anfang dieses Jahres bestätigten die Klimastatistiker, dass das 1,5-Grad-Ziel aus dem Pariser Abkommen von 2005 überschritten ist. Kaum jemand bezweifelt, dass es dauerhaft weiter nach oben geht. Über die Frage, welche verfehlten Ziele man sich sonst noch leisten kann, sollte offen – und bald – diskutiert werden. Das tun übrigens, ganz unverhohlen, die großen Investmentbanken: In diesen Kreisen, berichtet der „Guardian“, hält man das Pariser Abkommen für „effectively dead“, erwartet Katastrophen jeder Art, dafür aber beachtliche Gewinne für die Hersteller von Klimaanlagen.

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Raimund Witkop schreibt über Politik & Gesellschaft

Lange Erfahrung als Journalist, gern im Sport unterwegs (WamS, FAZ), aber auch im Bereich Technik und Wissenschaft. Energie und Umwelt sind, vor dem Hintergrund des Klimawandels, die wichtigsten Themen unserer Zeit - deshalb sind sie seit Jahren mein Schwerpunkt.

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