Ist unser Weltbild nur eine Ein-Bildung?
Mittlerweile haben wir so viel Wissen angehäuft, dass kaum noch jemand einen Überblick darüber hat. Vielleicht ist deshalb die Sehnsucht nach einem „Universalgelehrten“ wie Goethe besonders ausgeprägt. Der Dichter könnte seinen „Faust“ heute allerdings gar nicht mehr schreiben, „denn der könnte nicht mal behaupten, er habe nun, ach, alles studiert. Das wäre eine glatte Lüge“, bemerkt der britische Philosoph und Autor A. C. Grayling. In seinem aktuellen Buch „Die Grenzen des Wissens“ stellt er fest, dass mit dem zunehmenden Wissen auch unser Wissen über unser Unwissen wuchs. Aber was wissen wir? Was sind die Grenzen des Wissens, und wie können wir sie überschreiten? Was beobachten wir eigentlich? Was unterscheidet Wissen von Glaube und Meinung? Was verstehen wir überhaupt unter Wissen? Wie entsteht Bewusstsein? Diese und weitere Fragen reflektiert Grayling, der als Direktor der Fakultät für Geisteswissenschaften am New College und am St Anne's College in Oxford tätig ist. Er unterzieht ausgewählte Kernbereiche der Forschung einer Bestandsaufnahme. Drei Wissensgebiete stehen dabei im Fokus:
Physik und Kosmologie
Geschichte und Archäologie
die Neurowissenschaften.
Diese Vernetzung zeigt zugleich, dass unser Geist mehr ist als das Gehirn. Die Größe der Aufgabe, einen Bestandteil geistigen Lebens (das Treffen von richtigen Entscheidungen) zu verstehen, wird dadurch besonders deutlich. Der neurowissenschaftliche Ansatz bewegt uns dazu, neu darüber nachzudenken, welche Fragen wir stellen und welche Phänomene untersucht werden sollten. Auf allen drei Wissensgebieten gab es in den letzten 100 Jahren enorme Erkenntnisfortschritte, und es wurden die Grenzen des Wissens mit modernen technischen Möglichkeiten immer weiter hinausgeschoben.
Auf 1543 datieren die meisten Historiker das Geburtsjahr der modernen Naturwissenschaft, als das Hauptwerk von Nikolaus Kopernikus (1473-1543) über die Kreisbewegungen der Himmelskörper erschien. Kopernikus leitete das Umdenken in einer Zeit ein, in der sich die Gesellschaft im Wandel befand und althergebrachte Vorstellungen angezweifelt, ja zuweilen sogar über Bord geworfen wurden. Seither hat die Menschheit ihren Horizont enorm erweitert. Unser Bild von der Welt ist allerdings eine Ein-Bildung. Bereits in der Schule erwähnen viele Lehrer oft nicht, dass das, was wir heute als Wissen über die Naturwissenschaften verstehen, vor allem (aus Thesen gebaute) Modelle sind, mit denen sich Vermutungen überprüfen lassen. Dadurch verbessern sich zwar die Modelle, aber das bedeutet nicht, den Weg zur (ewigen) Wahrheit gefunden zu haben. „Wahrheit ist der Begriff für ein Ideal, auf das die Forschung mit allen Kräften hinarbeitet und an dem wir das Maß an Vertrauen messen, das wir zu unseren Erkenntnissen und unseren Thesen haben“, sagt A. C. Grayling.
Er warnt vor falschen Interpretationen dessen, was wir messen und wahrnehmen. Aktuelle Entdeckungen bestätigten beispielsweise Einsteins Relativitätstheorie erneut. Andere wiederum haben Zweifel: Gibt es doch noch Phänomene, die Einsteins Theorien nicht erfassen? Die Forschenden kommen an die Grenzen dessen, was die bisher von erdachten Theorien wussten. Das deckt sich auch mit den Erkenntnissen des Physikers Gerd Ganteför, der ebenfalls kritisiert, dass heute der Eindruck erweckt wird, dass alles Wichtige bereits erklärt ist: Die Realität wird von Naturgesetzen geregelt, die letztlich alles erklären können, so die gängige Auffassung. Doch dieses Bild ist falsch, denn viele grundlegende Fragen sind noch immer nicht beantwortet. In seinem Buch „Das rätselhafte Gewebe der Wirklichkeit und die Grenzen der Physik“ zeigt er, dass sich moderne Physik und Religion keineswegs ausschließen und aus ihrem Spannungsfeld womöglich sogar ein neues Verständnis der Wirklichkeit entstehen kann. Wenn wir die Grenzen des Wissens nach außen verschieben und in das Unbekannte vorstoßen, entdecken wir dabei vielleicht „eine Brücke in andere Wirklichkeiten.“
Die Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit sind immer wieder spürbar – trotz fortschreitender Technik und neuer Erkenntnisse. Denn auch im Umgang mit ihnen geht der Mensch gern irrational vor. Vor allem auch dann, wenn dies mit einem Vorteil für sich verbunden ist. „Selbst dann, wenn sie wissen, dass es katastrophale Folgen hat und künftige Generationen das alles ausbaden müssen“, sagt Grayling im Kontext der Klimakrise. Er ist skeptisch, ob es die Menschheit schaffen wird zu überleben, denn „sie steckt ganz offensichtlich mehr Energie und Geld in zerstörerische Waffensysteme und einen destruktiven fossilen Wohlstand, als alle Kräfte auf die Lösung ihrer Überlebensprobleme zu richten.“
Das Aufbauschen von Sachverhalten oder der Verschleierung von Fakten, die Beeinflussung und Manipulation von Meinungen sind von der Politik, der Werbung bis zur Wissenschaft ersichtlich. Extreme Ausprägungen zeigten sich während der Corona-Pandemie und nun in der aktuellen Klimapolitik und der Atomenergie-Diskussion. Es wird beispielsweise der Eindruck vermittelt, dass sich auf Knopfdruck von heute auf morgen eine Wasserstoffwirtschaft herbeizaubern ließe. Deutschland soll künftig fast ausschließlich durch Wind- und Solarkraft mit Elektrizität versorgt werden. Doch eine solche Transformation scheint unbezahlbar zu sein, weil viele Parallelstrukturen sowie hochkomplexe, multiple Systeme benötigt werden (Materialmengen unter Rückgriff auf seltene Erden, Flächenverbrauch, Produktion hochproblematischer Industrieabfälle, noch nicht gelöste Entsorgungsprobleme von Windradflügeln, Solarmodulen und Batterien).
Hier braucht es die Bereitschaft zu einer fairen und „rationalen“ Debatte. Der Begriff „rational“ (ratio-nal = verhältnis-mäßig) spielt auch bei Greayling eine wichtige Rolle: „Rationale Überzeugungen sind in der Regel in hohem Maße kohärent, d. h. miteinander vereinbar, und stützen sich oft gegenseitig, was umgekehrt bedeutet, dass Inkohärenz dazu führt, dass eine Theorie nicht für wahr gehalten werden kann.“ Auch Forschende verhalten sich oft so, als wäre ihre Meinung in Stein gemeißelt. In wissenschaftlichen Scheindebatten werden dann Thesen verteidigt, „als wären es Bollwerke.“ Auch die Wissenschaft – vor allem verstanden als das Bemühen zu erkennen, warum die Dinge so sind, wie sie sind - muss ihre Erkenntnisse immer wieder in Zweifel ziehen und stets nur als augenblicklichen Stand des Wissens begreifen. Wissenschaftler:innen, die ihre Mission ernst nehmen, wissen um die Vorläufigkeit allen menschlichen Wissens sowie um die Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit. Das wussten schon die Autoren der Antike. Sokrates wird der Satz „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ zugeschrieben. Die Dialoge, in denen Platon ihn auftreten lässt, erzählen vom unermüdlichen Hinterfragen und In-Frage-Stellen.
Er war allerdings nicht der Erste, der Kritik an der katholischen Kirche übte. Doch lebte er im neuen Zeitalter des Buchdrucks, und dreihunderttausend Exemplare seiner Protestschriften zirkulierten in Europa, von denen die meisten durch lautes Lesen in Gruppen und Gemeinden weiter „reproduziert“ wurden. Noch vor seinem Tod waren zweihunderttausend Exemplare seiner Übersetzung des Neuen Testaments im Umlauf. Nachdem Gutenberg zwischen 1440 und 1450 den Buchdruck mit beweglichen Lettern erfunden hatte, wurden sie das erste Massenmedium der Neuzeit. Die Erfindung des modernen Buchdrucks war eine medientechnische Revolution mit nachhaltigen Konsequenzen. Lehrbücher für Zeichenkunst und Mathematik trugen das Wissen in Europas Gelehrtenstuben, und Dürers sensationelle Druckgrafiken gewannen durch Vervielfältigung ihre Breitenwirkung.
Grayling zeigt auch, dass technologische Errungenschaften und Hervorbringungen menschlicher Erfindungsgabe eine bedeutende Rolle beim Aufstieg der Naturwissenschaft spielten. In diesem Zusammenhang hebt er zwei weitere technologische Errungenschaften hervor, die beim Aufstieg der Naturwissenschaft eine bedeutende Rolle gespielt haben: das Teleskop und das Mikroskop. Das Verdienst, das Teleskop erfunden zu haben, schreibt die „Geschichte“ dem Brillenmacher Hans Lipperhey aus Zeeland in den Niederlanden zu. 1608 ließ er als Erster ein solches Instrument patentieren. Das von ihm als kijker bezeichnete Fernrohr bestand aus einem konkaven Okular, das auf eine konvexe Linse ausgerichtet war und eine dreifache Vergrößerung ermöglichte. Galileo Galilei erfuhr 1609 durch seinen Pariser Freund Jacques Bovedere von der Existenz des Fernrohrs. Unverzüglich baute er ein eigenes Instrument, das die Dinge auf das mehr als 20-Fache vergrößerte.
„Die Himmel hab' ich gemessen, jetzt meß' ich die Schatten der Erde." So lautet die Grabinschrift des Mathematikers und Astronomen Johannes Kepler (1571-1630), dessen Leben und Werk bis heute prägend ist: Jede Digitalkamera verfügt über ein (stark modifiziertes) Keplersches Fernrohr, und künstliche Satelliten bewegen sich auf „Kepler-Bahnen" um die Erde, die auf ihrem jährlichen Umlauf um die Sonne den Keplerschen Gesetzen folgt. Zweifellos wirkte auch er bahnbrechend auf viele Bereiche der modernen Naturwissenschaft und Technik ein. Keplers Brief vom 2. März 1629 an Jacob Bartsch ist noch immer hochaktuell: „Wenn der Sturm tobt und den allgemeinen Schiffbruch androht, können wir nichts Würdigeres tun, als den Anker unserer friedlichen Studien in den Grund der Ewigkeit einzusenken."
Was es heute aber auch braucht, ist eine gute Allgemeinbildung in den Naturwissenschaften, der Geschichte (der Ideen) und den Künsten. Die Hochschulbildung wird kritisiert, weil sich hier eine umgekehrte Entwicklung vollzog: Einst war das Ziel Allgemeinbildung. Spezielles Fachwissen sollte sich später als Ergebnis des Interesses und der Erfahrung des Individuums herausbilden. Heute wird zuerst „spezielles Fachwissen eingetrichtert“. Es braucht Bildungssysteme, in denen sich Allgemeinbildung und Fachwissen gegenseitig befruchten. Wenn Spezialisierung und Ausbildung statt Bildung so sehr im Mittelpunkt stehen, dass die Verbindungen zwischen den Forschungsbereichen unsichtbar werden, wenn die Kluft zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften noch größer wird, „dann besteht die reale Gefahr, dass das menschliche Miteinander unbeherrschbar wird.“
A.C. Grayling: Die Grenzen des Wissens. Was wissen wir von dem, was wir nicht wissen? Aus dem Englischen von Jens Hagestedt. Hirzel Verlag. Stuttgart 2023.
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