Einmal Sozialhilfe, Hartz IV, Bürgergeld und zurück: der Leiter des Jobcenters im Kreis Düren, Karl-Josef Cranen. Foto: Marina Rosa Weigl
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Jobcenter-Leiter Cranen: Bürgergeld braucht Systemreform statt Sparillusionen

Hartz IV, Bürgergeld, bald Grundsicherung: ­Karl-Josef Cranen hat im Jobcenter alles erlebt – deshalb sollte die Regierung ihm jetzt zuhören.

Karl-Josef Cranen wippt von einem Turnschuh auf den anderen. Stillstehen ist seine Sache nicht. Aber er hat sich nun mal „maßlos aufgeregt“. Sagt er selbst. Über diese Studie. Einmal mehr wurde über sie geredet, nicht mit ihnen, und dann auch noch schlecht. Sie kennen das ja. Er kennt das. Aber gewöhnen will Cranen sich nicht daran.

Die Studie stammt von der Bertelsmann Stiftung. Im März kritisierte sie die deutschen Jobcenter: Die würden immer mehr Geld fürs Verwalten ausgeben. Wie viele Menschen sie in Arbeit bringen, spiele eine untergeordnete Rolle. Ein Befund, der all diejenigen bestärkte, die das Bürgergeld verdächtigen, eben doch eine Hängematte zu sein; ein System, in dem der Staat zu leichtfertig Geld verteilt und zu hohe Kosten verursacht.

Karl-Josef Cranen hält nichts davon. Und der Leiter des Jobcenters im Kreis Düren will seinen Leuten das nun deutlich sagen. Er steht und wippt vor sieben Mitarbeiterinnen seiner Rechtsstelle, zuständig dafür, die „vielen gesetzlichen Änderungen intern umzusetzen“, wie er gerade erklärt hat.

Tatsächlich war im Bundestagswahlkampf das Bürgergeld, neben der Zuwanderung, ein heftig diskutiertes Thema. Wer arbeiten kann, muss auch arbeiten, wiederholten Unionspolitiker bei jeder Gelegenheit. 400.000 Bürgergeldempfänger könne man in den Arbeitsmarkt zurückholen, rechnete CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz vor, pro 100.000 von ihnen, die wieder arbeiten, ließen sich mindestens 1,5 Milliarden Euro sparen.

Mehr Jobs, weniger Sozialstaat, fertig. Es klang so einfach.

In ihrem Koalitionsvertrag vereinbarten CDU, CSU und SPD dann, das Bürgergeld zu einer „neuen Grundsicherung“ umzubauen. „Wir müssen wirklich an die Substanz des Systems gehen“, bekräftigte gerade erst wieder besagter Herr Linnemann, Vorname Carsten und Generalsekretär der CDU. Das Bürgergeld sei „eine Chiffre für Ungerechtigkeit in Deutschland“ geworden.

Eingang zum Jobcenter Düren. Foto: Marina Rosa Weigl

Selbst die neue SPD-Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas klang zuletzt wie linnemannisiert: „Wer ernsthaft Unterstützung und Arbeit sucht, der muss auch mitmachen“, sagte sie kürzlich vor mehr als 800 Führungsleuten aus den Jobcentern und forderte „spürbare Konsequenzen“, wenn Bürgergeldbezieher Termine nicht wahrnehmen.

Die Botschaft der neuen Bundesregierung: Mit mehr Druck und Schärfe werde man diese Menschen schon dazu bringen, wieder eine Stelle anzunehmen.

Wer diejenigen besucht, die die markigen Worte umzusetzen haben – Menschen wie Karl-Josef Cranen –, der merkt schnell: Die Politik in Berlin macht es sich ein bisschen zu einfach.

Wahlkampf versus Wirklichkeit

Einen ersten ernüchternden Abgleich mit der Wirklichkeit hat gerade der Entwurf für den Bundeshaushalt 2025 gebracht. Folgt man Merz’ Wahlkampfkalkulation, hätte die Regierung weniger als 2024 budgetieren müssen. Stattdessen plant Schwarz-Rot knapp 52 Milliarden Euro für „Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende“ ein – das sind gut fünf Milliarden Euro mehr als im vergangenen Jahr, sogar ein neuer Höchststand. Man erwarte eine steigende Zahl von Leistungsbeziehenden, heißt es zur Erklärung im Haushaltsentwurf.

Karl-Josef Cranen sitzt jetzt in seinem Büro, Raum D 611, im sechsten – dem obersten – Stock des Jobcenters in Düren, einem grauen Kasten mit Blick auf einen Park mit viel Gras und wenigen Bäumen. Meist nimmt er die Treppen. „Zu sagen, im nächsten Jahr könnten so und so viele Bürgergeldbeziehende in Arbeit gebracht und damit so und so viele Milliarden Euro eingespart werden, ist unrealistisches Wunschdenken“, sagt er.

Der 57-Jährige hat früh in seiner Ausbildung zum Diplom-Verwaltungswirt gehört: Geht in den sozialen Fürsorgebereich. Da ist immer Bedarf. Er sei diesem Rat zunächst mit Widerwillen gefolgt und habe im Landessozialamt angefangen, das öffentliche Ansehen war schon damals mies. Heute, sagt er, schätze er sehr, „wie nah man an den Menschen ist und dass bei uns Teamarbeit wirklich gelebt wird“.

Sozialhilfe, Hartz IV, Bürgergeld, bald also Grundsicherung. Cranen hat alles gesehen, alles mitgemacht, alles durchgestanden. Der Sozialstaat – das sind Menschen wie er und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

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Vor mehr als 20 Jahren hat er das Jobcenter im Kreis Düren, zwischen Köln und Aachen, mit aufgebaut. Er nennt diese Zeit noch heute „das Highlight meines Berufslebens: Wann kann man als Verwaltungsmensch schon in ein leeres Büro kommen und die Organisation ganz neu aufsetzen?“

Es war die Zeit der Hartz-Reformen, der hohen Arbeitslosigkeit, in Düren lag sie bei fast 13 Prozent. Genau zu der Zeit übernahm Cranen die Amtsleitung. Er hat seitdem alle Reformen mitgemacht, 120 Änderungen am Sozialgesetzbuch II gezählt, die der Bund beschlossen hat, gemeinsam mit seinen Leuten Tausende Entscheidungen der Sozialgerichte umgesetzt. Und das, sagt Cranen, ist das eigentliche Problem: „Wir stecken in einer Komplexitätsfalle.“

Aber der Reihe nach. Als Hartz IV eingeführt wurde, erhielt die deutsche Sozialpolitik ein neues Leitmotiv: Fördern und Fordern. Arbeitslose sollten besser betreut und damit schneller zurück in eine Stelle gebracht werden.

Wartebereich des Jobcenters Düren. Foto: Marina Rosa Weigl

Cranen hält die umstrittene Reform bis heute für „absolut richtig“ und einen „Erfolg, was den Arbeitsmarkt angeht“. Als Sozialamtsleiter hatte er zuvor gesehen, dass es an Instrumenten fehlte, um Menschen wieder einen Job oder eine Ausbildung zu verschaffen. Sein Urteil ist mehr als nur ein Gefühl: Insgesamt sank die Arbeitslosenquote mit Hartz IV in Düren bis 2019 auf etwas mehr als sechs Prozent, den bislang niedrigsten Stand.

Nur gab es, so sieht Cranen das heute, einen Geburtsfehler: „Wir waren nicht mutig genug, was Pauschalisierungen angeht.“ Alles sollte gerecht sein, und zwar gemessen an jeder individuellen Lebenssituation. Es war die eingebaute Überforderung.

Beispiele rattert der Jobcenter-Chef mühelos herunter. Etwa bei den Miet- und Heizkosten, die das Jobcenter für Bürgergeldempfänger übernimmt: Wessen Warmwasser mit einem Boiler erhitzt wird, dem steht ein individueller Mehrbedarf zu. Wer in einer Wohnung mit Gasetagenheizung lebt, dem wird wiederum ein Anteil der Betriebsstromkosten zum Heizungsbedarf zugeschlagen. Wenn nun jemand in einem Haus mit Gasetagenheizung wohnt, im Bad der Wohnung aber einen Boiler hat, ist sowohl der Mehrbedarf als auch der Zuschlag zu gewähren.

Alles klar? Eben.

„Dieses Prinzip der Einzelfallgerechtigkeit halten wir und hält unser Sozialstaat die nächsten zehn Jahre nicht mehr durch“, sagt jedenfalls Cranen.

Zumal die Arbeit im Jobcenter heute eine völlig andere sei als 2005. Lag der Ausländeranteil unter den Kunden in Cranens Haus 2015 noch bei 15 Prozent, sind es heute 43 Prozent – ein bundesweiter Trend. Das geht einher mit Schwierigkeiten, sich zu verständigen und langwierige Anerkennungsprozesse ausländischer Qualifikationen zu begleiten. Kurz: Die Betreuung ist aufwendiger geworden.

Dazu kommt, dass mehr und mehr Betreute „multiple Vermittlungshemmnisse“ aufweisen, wie das im Behördendeutsch der Jobcenter heißt: keinen Schul- oder Berufsabschluss, körperliche oder psychische Krankheiten, Suchtprobleme, Verschuldung. Um das zu veranschaulichen, sagt Cranen, müsse man ein Kundengespräch miterleben.

Runter in den ersten Stock, Raum D 108. „Wie geht es Ihnen?“, fragt ein Mitarbeiter einen jungen Mann, der sich auf der anderen Seite des Schreibtischs hingesetzt hat. „Unseren letzten Termin mussten Sie absagen.“

Auf einem der beiden Bildschirme hat er den Lebenslauf seines Kunden aufgerufen: 30 Jahre alt, Hauptschulabschluss, dann als Produktions- und Umzugshelfer gejobbt. Pflegeausbildung begonnen und abgebrochen. Sprache: Deutsch. Seit drei Jahren keine Stelle mehr. Dass eines seiner Kinder verhaltensauffällig und das andere schwer erkrankt ist, wird der Vermittler erst später erzählen.

„Ich war gestern bei der ADHS-­Testung“, sagt der junge Mann.

„Wie lief das ab?“

„Ich musste ein paar Fragen beantworten, habe Elektroden an den Kopf bekommen für ein EEG. Das muss jetzt ausgewertet werden.“

„Sonst fühlen Sie sich fit?“

„Ich hatte wieder Probleme mit dem Mittelohr.“

So geht das weitere 20 Minuten. ­Zuletzt hat der 30-Jährige eine vom Jobcenter finanzierte Weiterbildung zur ­Betreuungsfachkraft gemacht. Für deren Gültigkeit fehlen ihm aber noch 14 Stunden Praxis. Er hat sich dafür in den vergangenen Monaten bei zehn Pflegeeinrichtungen beworben – und nur Absagen erhalten.

„Das wundert mich, der Bedarf ist da“, sagt der Mitarbeiter. „Wir müssen wissen, woran das liegt. Können Sie selbst mal in den Betrieben nachfragen? Sonst kann mein Kollege aus dem Arbeitgeberservice da für uns tätig werden.“

Am Ende vereinbaren sie eine „Rücksprache“ in der folgenden Woche, „wenn Sie das Ergebnis Ihrer ADHS-Testung ­haben. Damit wir wissen, was kommt auf Sie zu, therapietechnisch.“

Einfach mal machen? Wenn es denn so einfach wäre.

Probleme per Gesetz

Das eine sind also die Vorbelastungen, die viele der Bürgergeldbezieher mitbringen – und die Cranens Mitarbeiter erst einmal erkennen müssen. „Niemand kommt bei uns herein und sagt: Ich habe übrigens folgende Vermittlungshemmnisse“, sagt der Chef.

Das andere sind die Probleme, die vom Gesetzgeber gemacht sind. Und damit ist Cranen beim Bürgergeld. Wer das Sanktionsregime entschärfe beziehungsweise zeitweise komplett aussetze, müsse sich nicht wundern, wenn sich der öffentliche Eindruck verbreite, Bürgergeldempfänger seien faul.

Ein Eindruck, den Cranen ausdrücklich für falsch hält. Und trotzdem sagt er: „Das ist wie im Straßenverkehr mit dem Bußgeldkatalog. Wenn man den aussetzen würde, wäre ich morgens auch zehn Minuten schneller hier.“ Sein Verhalten anzupassen sei nur menschlich.

Und jetzt heißt es aus Berlin wieder: Rolle rückwärts. Im Herbst will sich Arbeitsministerin Bas der Bürgergeld-Reform zuwenden, mit schärferen Sanktionen. Cranen hält das für richtig – wenn seine Leute diese dann auch so anwenden können, dass Aufwand und Wirkung im guten Verhältnis zueinander stehen.

„Wir brauchen Reformen. In der Sache bin ich bei Carsten Linnemann“, sagt Cranen, dann doch etwas überraschend. Nur wehre er sich dagegen, Bürgergeldempfänger über einen Kamm zu scheren. Stattdessen wünscht er sich, dass „die Politik sich dazu bekennt: Es gibt auch viele Menschen, die niemals auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen werden – und die wir trotzdem weiter betreuen müssen.“

Kosten übersteigen Budget

Und damit noch einmal zurück zu Raum D 603, zu der Besprechung mit den Mitarbeiterinnen der Rechtsstelle. Cranen hat die Zahlen des Haushaltsjahrs 2025 zusammengetragen. Erforderliches Verwaltungskostenbudget: 23,3 Millionen Euro. Vom Bund zugewiesenes Budget: 20,5 Millionen Euro. Cranen muss also 2,8 Millionen Euro aus dem Eingliederungstopf umschichten, um die fixen Verwaltungskosten zu begleichen. Das bedeutet: weniger Schulungen, weniger Maßnahmen und Fortbildungen.

Hat die Bertelsmann Stiftung also doch recht? Sein Haus sei weder üppig ausgestattet noch ineffizient, sagt der Jobcenter-Chef. Stattdessen seien die Kosten für Tarifgehälter und Energie gestiegen, man brauche heute einen Sicherheitsdienst, „und die häufigen Gesetzesänderungen müssen wir auch umsetzen“.

„Ich schreie nicht nach mehr Geld“, sagt Cranen. „Aber würden bestimmte Leistungen pauschaliert, könnte eine künstliche Intelligenz den Großteil unserer Berechnungen erledigen – und könnten wir mit den Ressourcen, die wir haben, mehr erreichen.“ Dann denkt er groß: Eine Reform auf einem weißen Blatt Papier. Die doppelte Aufwände zwischen Behörden beseitigt. Die verschiedene Leistungskataloge vereinheitlicht. Ein System, das von den Kunden her denkt. Cranen wippt jetzt nicht mehr, aber er träumt.

Bald will der Bund eine Kommission zur Sozialstaatsreform einsetzen, die schon Ende des Jahres Empfehlungen abgeben soll. Vielleicht sollte sie Karl-Josef Cranen aus Düren in diesen Rat berufen.

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