Gefangen im goldenen Käfig des Geldes. Foto: DMITRI BROIDO
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Jobwechsel: Wie sich Spitzenverdiener aus dem goldenen Käfig des Geldes befreien

Spitzenverdiener fühlen sich an ihren Job gekettet – selbst wenn dieser sie unglücklich macht. Wie es gelingt, die Angst vor dem finanziellen Abstieg zu überwinden.

Es ist vier Uhr in der Nacht – und Tim Meiser sitzt hellwach auf dem Sofa. Ihm ist übel, wenig später muss er sich übergeben. Er zittert am ganzen Körper. Eine Panikattacke. Nicht die erste. Er denkt an seinen Job – und das macht ihn fertig. Ein Private-Equity-Investor aus den USA zieht im Hintergrund die Strippen bei dem großen Mittelständler, den er seit einigen Wochen führt. Die Gedanken an die täglichen Aufträge, die er als Erfüllungsgehilfe vor Ort erledigen muss, lassen ihn nicht los. Eine harsche  Ansage, dass die Präsentation morgen fertig sein muss, obwohl doch Weihnachten ist. Oder die, dass die Sachbearbeiterin am Standort Erlangen mit 3500 Euro im Monat zu viel verdiene.

„Ich wollte eigenbestimmt und eigenverantwortlich arbeiten“, erinnert sich Meiser, der eigentlich anders heißt, „und plötzlich haben mich die Turbo-Kapitalisten aus den USA nur noch aktionistisch durch die Gegend gescheucht.“ Meiser musste Aufgaben erfüllen, die ihm zutiefst widerstrebten. Und er spürte in dieser Nacht vor zweieinhalb Jahren wieder einmal deutlich: Er muss da dringend raus.

Nur konnte er nicht.

20 Jahre lang hat der Manager seine Altersvorsorge auf Immobilieninvestments aufgebaut, Häuser gekauft, Kredite aufgenommen. Seine Schulden beliefen sich zu diesem Zeitpunkt auf einen zweistelligen Millionenbetrag. Kein Problem, solange es mit seinen rund 80 Wohnungen gut lief. Doch dann, im Frühjahr 2022, stiegen die Bauzinsen. Die Immobilienwerte sanken. Und kurz danach schien es, als ob das anstehende Heizungsgesetz große Investitionen erfordern würde. „Das war der Punkt, an dem mein komplettes Kartenhaus zusammengebrochen ist“, sagt der heute 48-Jährige. Deshalb traf er die fatale Entscheidung: Er nahm das Jobangebot des Private-Equity-Investors an. Nur das siebenstellige Vergütungspaket, das er dort bekam, konnte ihn retten. Davon war Meiser damals fest überzeugt.

Und war es auch noch Wochen später, als er zitternd auf dem Sofa saß.

Goldene Handschellen

Derartige Panikattacken mögen selten sein. Dass aber Manager und Geschäftsführerinnen, Anwälte oder Ärztinnen sich durch horrende Gehälter an ihre Arbeitgeber gekettet fühlen, kommt häufig vor. Ein hohes Gehalt schützt keineswegs vor Frust im Job. Eine Befragung der Stellenplattform Stepstone unter 8100 Arbeitnehmern ergab kürzlich, dass 42 Prozent derjenigen, die mehr als 120.000 Euro im Jahr verdienen, unzufrieden mit ihrem Job sind. Eine Auswertung von 1,7 Millionen Datensätzen der US-Beratung Great Place to Work, die regelmäßig Angestellte von mehr als 1100 Unternehmen befragt, unterstreicht dies. Auf die Frage, was das Beste an ihrem Job sei, antworteten diejenigen, die sich ausgebrannt fühlten, am häufigsten: „die goldenen Handschellen“. Diese Bezeichnung umschreibt im Englischen ein Vergütungspaket, das so üppig ist, dass Arbeitgeber damit ihre Top-Talente an sich binden können – oder gar fesseln.

Derzeit ist es besonders schwer, so etwas auszuschlagen. In der Krise kürzen viele Unternehmen ihre Budgets. Die Chancen auf einen lukrativen Wechsel sind damit noch niedriger.

Auch die Finanzpsychologin Monika Müller erkennt bei ihrer Kundschaft die goldenen Handschellen immer wieder. Zu oft würden sie sich im Lauf ihrer Karriere für das höhere Gehalt entscheiden, ohne dies zu hinterfragen. Viele von ihnen, berichtet die Coachin, hätten nie gelernt, auf ihre eigenen Bedürfnisse zu achten. Sich zu fragen, was ihnen wirklich Freude mache. Stattdessen zähle das Geld. Laut Müller fange dies häufig schon damit an, dass die Eltern sagen: „Studiere lieber nicht Sozialpädagogik. Da verdienst du doch nichts!“

Und so kommen viele Führungskräfte erst zu Müller, wenn eine konkrete Karriereentscheidung ansteht: Sie etwa ihren Traumjob angeboten bekommen, aber zu einem deutlich niedrigeren Gehalt. Erst dann hadern sie mit sich. Müller empfiehlt in solchen Situationen eine gedankliche Reise zurück, an den Punkt im Lebenslauf, wo das Geld zum ersten Mal wichtiger war als der innere Antrieb. „Wie würden Sie heute Ihre Eltern überzeugen, um das geliebte Studium anzutreten?“, fragt Müller ihre Klienten. Und schafft so die Grundlage für deren Diskussion mit sich selbst.

Mit 40 pro Jahr 400.000 Euro

Heute kann Tim Meiser klar sagen, worauf es ihm immer ankam im Job: Entscheidungsfreiheit. Nach seiner Promotion in Wirtschaftsinformatik steigt er bei einem IT-Dienstleister ein, übernimmt schnell Projekte und Führungsverantwortung, wechselt nach einigen Jahren zu einem Finanzdienstleister. Schon mit 33 wird er dort Geschäftsführer einer Tochtergesellschaft. Von da an arbeitet er wie ein Unternehmer, trifft  Entscheidungen, ohne diese absprechen zu müssen. Mit 40 verdient er pro Jahr 400.000 Euro. Zusammen mit dem Gehalt seiner Frau und den ersten Mieteinnahmen kommt die zu dieser Zeit  vierköpfige Familie auf ein Bruttoeinkommen von etwa 600.000 Euro im Jahr. Ein Eigenheim in bester Münchener Lage, ein paar Mietwohnungen, zwei Autos.

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Vor sieben Jahren will Meiser noch mal was Neues wagen. Er macht sich selbstständig als Berater. Ein Jahr später merkt er zum ersten Mal, wie es sich anfühlt, wenn der Lockruf des Geldes stärker ist als der Wunsch nach Selbstverwirklichung. „Um ansatzweise das Gleiche zu verdienen wie vorher, musste ich ganz schön viel Akquise machen“, sagt Meiser. Er war viel unterwegs, bei Kunden in ganz Deutschland – ausgerechnet als er zum dritten Mal Vater wurde.

Lebensstandard und Lebensmodell passen plötzlich nicht mehr zusammen. Die Zuversicht, beides vereinen zu können, verlässt ihn. Meiser kehrt zurück in eine Festanstellung, verantwortet die IT eines Immobilienunternehmens in Süddeutschland. Er tauscht Freiheit gegen Sicherheit, auch finanzielle. Das fällt ihm schwer. Schon ehe er den neuen Posten antritt, weiß er, dass der ihn nicht erfüllen wird. „Ich musste die Probleme lösen, die ich in meinem alten Job schon vor zehn Jahren gelöst hatte, das war wertvoll für das Unternehmen, aber langweilig für mich“, beschreibt er seine Aufgabe. Dazu noch in enger Abstimmung mit den anderen Geschäftsführern. Freiheit? Fehlanzeige. „An dem Tag der Vertragsunterzeichnung spürte ich: Jetzt habe ich die Chance auf meinen Lebenstraum verkauft.“ Mindestens zwei Jahre will er bleiben, auch weil er den Eigentümer kennt. Um das durchzustehen, malt er zwei Kreise auf ein Blatt, jeweils geviertelt. Wenn drei Monate vorbei sind, streicht er ein Viertel durch. Häftlinge zeichnen jeden Tag einen Strich an die Zellenwand.

Anderen aus solchen Situationen heraus zu helfen, ist der Job von Sabine Votteler. Zu der Karriereberaterin kommen oft Manager jenseits der 50 mit einem Gehalt zwischen 100.000 und 300.000 Euro - und dem Bedürfnis, sich neu zu erfinden. „Die Angst vor dem finanziellen Abstieg, oder zumindest davor, dass es nicht mehr reicht, trägt jeder mit sich herum“, sagt sie. Den Lebensstandard passen die meisten Menschen fast unbemerkt dem Einkommen an. Mit der Beförderung heißt es: Jetzt können wir uns doch auch die größere Wohnung leisten, etwas exklusivere Reisen - oder zumindest den einen oder anderen Impulskauf ohne schlechtes Gewissen. Davon wieder runterzukommen, scheint vielen schlicht unmöglich. „Sie erzählen mir lang und breit, warum es nicht möglich ist, mit nur einem Auto auszukommen“, berichtet Votteler aus ihren Gesprächen. „Aber sie verwenden keine Minute darauf zu überlegen, wie es doch klappen könnte.“

Auch das Konto von Tim Meiser ist am Ende des Monats immer leer. Ein fünfstelliger Betrag, einfach weg. „Es war unglaublich zu sehen, dass das Geld immer weg war, egal wie viel man mehr verdiente“, sagt der Manager.

Finanzpsychologin Müller empfiehlt, sich den Finanzplan unbedingt gemeinsam mit dem Partner oder später auch mit den Kindern anzuschauen: Welche Versicherung braucht es wirklich? Kann der Sohn nicht selbst 200 Euro zu seinem Studentenzimmer beisteuern? „Niemand sollte mit einem solchen Druck allein sein“, sagt Müller. „Man sollte nie vergessen: Die Familie will ja auch, dass es einem gut geht.“ Und doch beobachtet Sabine Votteler oft das Gegenteil. Vor allem Führungskräfte hätten so sehr verinnerlicht, Verantwortung zu übernehmen, dass sie gar nicht auf die Idee kommen, den Partner zu fragen, ob er einen Teil des finanziellen Ausfalls auffangen könne. Dabei sei ein offener Dialog wichtig. Psychologin Müller rät Paaren, genau zu ergründen, was das hohe Gehalt für den Partner bedeutet. Hängt sein Selbstwertgefühl stark davon ab, gilt es finanzielle Rückschritte besonders behutsam anzusprechen.

Vorgeschobene Verpflichtungen

Wie solch ein Rückschritt gelingt, hat Aurelia Hölzer erlebt. Sie war Oberärztin für Gefäßchirurgie an einer Uniklinik., vverdiente monatlich eine Summe im hohen vierstelligen Bereich, doch der Druck im OP und die langen Schichten lasteten auf ihr. Sie beschloss, ein Sabbatjahr in der Arktis einzulegen. Um ihren Traum zu finanzieren, stellte Hölzer ihre Ausgaben um, verkniff sich teure Kleider, ging seltener essen, selbst Belohnungen zwischendurch wie ein Wellnesswochenende waren nicht mehr drin. Sie zog vorübergehend sogar zu ihrer Schwester. „Diese Reise in die Arktis war ein Traum und alles andere zweitrangig“, sagt Hölzer heute, sechs Jahre später. Dafür war sie bereit, Sicherheit aufzugeben.

Genau daran scheitern in Hölzers Augen viele Top-Verdiener, das weiß sie aus Gesprächen mit ihren Kollegen. Viele hätten ihr versichert, wie sehr sie ihren Schritt bewundern und dass sie eigentlich auch gerne mal die Welt umsegeln würden. Nur leider ginge das nicht. Der Kredit für das Haus, das Studium der Kinder, lauter Verpflichtungen. „Diese äußeren Zwänge sind aus meiner Sicht oft vorgeschoben“, sagt Hölzer. „Das bekannte Elend ist immer noch sicherer als das Ungewisse.“

Auch Beraterin Votteler sieht in den vermeintlichen finanziellen Zwängen  den wesentlichen Grund dafür, dass viele Spitzenverdiener so lange in ihre lukrativen Falle bleiben. Das Gehalt, auf das sie mit einer Kündigung verzichten, lässt sich exakt benennen. „Was sie auf der anderen Seite der Waagschale alles opfern, lässt sich schwer beziffern.“ Schwierig sei vor allem der Schritt in die Selbstständigkeit, weil die Einnahmen vorab kaum einzuschätzen seien. In solchen Situationen rät Votteler ihren Klienten, sich mit anderen Selbstständigen auszutauschen: „Oft kommt dabei heraus, dass die Angst gar keine reale Grundlage hat.“

Für wen ein niedrigeres Gehalt tatsächlich keine Option ist, der kann sich immerhin weitere Fragen stellen: Warum bin ich unglücklich mit meinem Job? Und kann ich daran etwas ändern? Zum Beispiel durch eine Versetzung oder einen neuen Aufgabenzuschnitt? „Wir haben mehr Möglichkeiten etwas zu verändern, als wir denken“, resümiert Finanzpsychologin Müller.

So hat es auch Tim Meiser versucht. Nach zwei Jahren und acht durchgestrichenen Vierteln gab er einen Teil seiner Aufgaben an einen Kollegen ab, reduzierte seine Stunden in der Immobilienfirma, übernahm zusätzlich einen Lehrauftrag an der Uni und zwei Beiratsmandate.

Finanziell passte es jetzt, bis eben 2022 sein Immobilienmodell ins Wanken geriet. Aus Panik nahm er das Jobangebot des Private Equity Investors an,  und verdiente exorbitant gut. „Das waren emotional die schlimmsten Monate meines Berufslebens“, erinnert sich Meiser. Meetings überstand er nur noch, weil er davor meditierte, Körper und Geist unter Kontrolle brachte. So konnte es nicht weitergehen.

Einige  Monate nach der Panikattacke auf der Couch kündigte Meiser und entwickelte einen Karriereplan, der auch finanziell aufgehen musste. Die Meisers verkauften ihr Haus, auch die Wohnung, in die sie im Alter einziehen wollten. Sie mussten Kapital freimachen für die nächste Stufe der Operation. Meiser erkundigte sich bei seinen Mietern, für welche Annehmlichkeiten sie bereit wären, einen Mietaufschlag von zwei, drei Euro pro Quadratmeter zu akzeptieren. Er baute Küchen ein, sanierte Balkone. Mit den Banken verhandelte er günstige Konditionen für Anschlusskredite.

Heute, eineinhalb Jahre später, sind seine Immobilien und deren Entwicklung sein Business. Ob der Plan aufgeht? Ganz sicher könne man sich da nie sein. Beruhigt schlafen kann Meiser trotzdem. „Ich weiß jetzt, was mir wichtig ist, und dass ich für alles eine Lösung finde, wenn ich nur anpacke.“

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Jobwechsel: Wie sich Spitzenverdiener aus dem goldenen Käfig des Geldes befreien

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