John Strelecky über die Big Five for Life und Sinn im Job
Steckt wirklich Leidenschaft hinter der Mission eines Unternehmens, oder sind das alles nur Floskeln? Bestsellerautor John Strelecky rät: Wer eine neue Strategie sucht, sollte ohne Scham bei anderen Unternehmen abschauen.
Das Gespräch führte Ingmar Höhmann
Harvard Business manager: Herr Strelecky, die meisten Unternehmen haben so etwas wie ein Purpose Statement. Manche haben auch Vision Statements, Mission Statements, Leitbilder, all diese Dinge. Doch kaum ein Mitarbeiter lässt sich davon motivieren. Was läuft falsch?
John Strelecky: Es ist nicht die Frage, ob Sie ein Purpose Statement haben, sondern, ob Sie es leben. Steckt wirklich Leidenschaft dahinter, oder sind das alles nur Floskeln? Es gibt viele Studien, die zeigen, dass es den Menschen nicht nur ums Geld geht. Sie wollen ein Leben, das Bedeutung hat. Und da sie 80 Prozent ihres wachen Lebens von Montag bis Freitag in ihrem Job verbringen, sollte dieser Job besser auch mit einem größeren Zweck verbunden sein.
Hätten Sie ein Beispiel für ein Unternehmen, das dies gut hinbekommt?
Denken Sie an Ihr Lieblingsrestaurant, das immer überfüllt ist. Warum gehen die Leute dorthin? Ist es die Qualität des Essens? Ist es die Beziehung, die die Besitzer zu den Kunden haben? Ist es die Tischdekoration, das Ambiente? Kurzum: Was ist einzigartig und besonders? Ich vermute, es ist die Leidenschaft der Menschen, denen das Unternehmen gehört. Gehen Sie dann über das Restaurant hinaus und fragen Sie sich: Wo kaufe ich in meiner Umgebung am liebsten ein? Warum gehe ich dort so gern hin? Gibt es dort eine große Auswahl an Waren? Vielleicht finde ich in dem Geschäft einfach immer das, was ich gerade brauche. So kommen Sie auf Beispiele, die Sie auf Ihr eigenes Unternehmen anwenden können.
Restaurants und Einzelhändler sind sehr nahe an ihren Kunden dran. Aber wie geht das bei Konzernen mit Tausenden von Mitarbeitern?
Das bekannteste Beispiel in großem Maßstab ist Apple. Apple hat das Kauferlebnis neu erfunden. Zuerst hat das Unternehmen mit dem iPhone definiert, was überhaupt ein Smartphone ist. Dann hat Apple den Einkauf eines Smartphones oder Computers zum Erlebnis gemacht. Es führte die Genius Bars ein, die einen einzigartigen Kundenservice in den Stores bieten. Früher saßen Menschen frustriert zu Hause, weil sie ihren neuen Computer nicht zum Laufen bekamen. Apple versprach plötzlich: Wir zeigen Ihnen kostenlos, wie Sie das Gerät, das wir Ihnen verkaufen, benutzen können.
Wie gelingt es, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mitzunehmen – sie müssen den Purpose ja umsetzen und mit Leben füllen?
Sie müssen es ihnen demonstrieren – durch Ihre Worte und Anerkennung, durch Ihre Vergütungsstruktur, durch die Art und Weise, wie Sie mit Ihrem Kundenstamm umgehen. Ich würde sogar sagen, dass Sie sich für jeden Aspekt Ihres Unternehmens fragen sollten: Wie zeigen wir den wichtigsten Stakeholdern – seien es die Menschen, die hier arbeiten, unsere Kunden und Kundinnen oder unsere externen Partner –, dass wir wirklich das sind, was wir zu sein behaupten? Wenn Sie nicht mit guten Beispielen für jeden einzelnen Ihrer Stakeholder aufwarten können, werden sie Ihnen den Purpose auch nicht abnehmen.
Wie gelingt es, aus dem Purpose des Unternehmens eine Strategie abzuleiten?
Strategie ist für mich eine Kombination: aus einer kreativen Übung – und anschließend der Aufgabe, jemanden zu finden, der bereits das tut, sieht und erlebt, was Sie auch tun wollen. Zahllose Organisationen machen den Fehler, ihr Blickfeld nicht dafür zu öffnen, was andere machen. Wir alle kennen die Redewendung: Man kann das Rad nicht neu erfinden. Das ist genau das, worum es hier geht. Finden Sie ein Unternehmen, das Ihr Ziel bereits auf eine Art und Weise erreicht, die auch für Sie funktioniert.
Finden Sie ein Unternehmen, das Ihr Ziel bereits auf eine Art und Weise erreicht, die auch für Sie funktioniert.
Wie sähe so etwas dann im konkreten Fall aus?
Ein Teil des Purpose Ihres Unternehmens könnte etwa sein, den bestmöglichen Kundenservice im Bereich der Telekommunikation zu bieten. Dann könnten Sie sich die Unterhaltungsbranche ansehen und fragen: Wer schafft dort ein großartiges Kundenerlebnis? Disney sticht seit jeher heraus. Aber wer noch? Sie würden vermutlich vier oder fünf gute Beispiele finden. Die Hälfte der Ansätze im Kundenservice werden sich nicht auf Ihre Branche übertragen lassen, die andere Hälfte schon. Oder Sie suchen einen Einzelhändler, der für seinen herausragenden Kundenservice berühmt ist. Mir fallen auf Anhieb Nordstrom und Neiman Marcus ein. Aber es gibt unzählige Beispiele.
Wo liegt hier die Kreativität, wenn es nur ums Nachmachen geht?
Der kreative Teil besteht darin, sich so weit zu öffnen, dass Sie Aspekte aus einer beliebigen anderen Branche übernehmen können. Fragen Sie sich: Was tut der berühmteste Zoo der Welt, um ein großartiges Kundenerlebnis zu schaffen? Und wie kann ich diese Erkenntnisse auf unsere Arbeit übertragen? Ich kenne die Antwort darauf nicht, aber ich kann Ihnen sagen, dass es eine faszinierende Denkübung ist. Die Antwort wird Sie von Ihren Mitbewerbern abheben, weil sich niemand sonst diese Gedanken macht.
Haben Sie ein Beispiel, wie das Ergebnis einer solchen Denkübung aussieht?
In den Vereinigten Staaten, wo ich lebe, bekommt man in jedem mexikanischen Restaurant Chips und Salsasauce kostenlos auf den Tisch. Das ist ein Grund, warum diese mexikanischen Restaurants so erfolgreich sind. Als Manager könnten Sie nun ein paar kreative und intelligente Leute in einem Raum zusammenbringen und fragen: Okay, sagt mir, was wir aus diesem Beispiel mitnehmen können?
Die Kunden durstig machen und so dazu bringen, mehr Getränke zu bestellen?
Darum geht es bei den Restaurants, richtig. Sie schenken ihren Kunden etwas, auf eine positive Art und Weise, und regen sie dadurch zu einer größeren Beteiligung an. Die Überlegung für das Telekommunikationsunternehmen wäre etwa: Wir geben den Kunden ein Produkt oder eine Dienstleistung als Geschenk. Sie können es kostenlos ausprobieren, und wenn sie es mögen, bleiben sie länger bei uns. Sie verbringen mehr Zeit mit unseren Produkten und geben mehr Geld aus. Vielleicht bestellen sie am Ende eine höhere Bandbreite für ihren Internetanschluss. Ich bin kein Branchenexperte, aber ich kann mir vorstellen, dass dieser Gedanke eine interessante Diskussion auslösen könnte. Aus dieser Art von kreativen Übungen können spektakulär erfolgreiche Unternehmen entstehen.
Ist das eine Aufgabe für das Topmanagement?
Unterschätzen Sie niemals den kreativen Beitrag jedes einzelnen Mitarbeiters. Die besten Ideen kommen oft von den Mitarbeitenden, die direkt mit den Kunden interagieren. Dieser enge Bezug geht oft verloren, wenn jemand höher in der Hierarchie steht. Auch hier das Beispiel von Disney: Wer hat den besseren Blick dafür, wie ein tolles Kundenerlebnis aussieht – die Mitarbeiterin, die am Dumbo-Karussell steht und täglich mit Kunden in Kontakt steht, oder der Manager, der in der Zentrale hinterm Schreibtisch hockt?
Wie motiviert man als Führungskraft die eigenen Teammitglieder dazu, sich Gedanken über solche Themen zu machen – statt nur die täglichen Routineaufgaben abzuarbeiten?
Ich habe mit einer inspirierenden Leiterin eines Patent- und Markenamtes gearbeitet. Das Umfeld war eine Behörde, die Beschäftigten waren nicht sehr motiviert. Die Leiterin hatte mein Buch „The Big Five for Life“ gelesen. Eines Tages nahm sie es mit ins Büro und stellte ihren Leuten einige Prinzipien vor. Im Grunde beschrieb sie das Konzept der Museumstage ...
... die Idee, dass man jeden Tag mit schönen Momenten füllen sollte. Am Ende des Lebens sollte dann jeder Tag so außergewöhnlich gewesen sein, dass man ihn wie ein Bild in einem Museum betrachten könnte (siehe Kasten „Die Idee der Museumstage“ unten). Das ist eine schöne Metapher, aber wie kann das einem Patentamt helfen?
Die Leiterin sagte zu ihren Mitarbeitern: „Hört zu, wir können hier weiter einfach von Montag bis Freitag unsere Stunden absitzen, kaum etwas bewirken und mit 65 in Rente gehen. Oder wir können uns fragen: Was würde diese Erfahrung zu etwas machen, auf das wir stolz sind?“ Sie hat eine Weile gebraucht, etwa sechs Monate, aber es gelang ihr, die Kultur in der Organisation zu verändern.
Was waren die Ergebnisse?
Das Team straffte unter anderem die Prozesse von der Patentanmeldung bis zu den Rückmeldungen an die Patentanmelder. Diese bekamen früher gar keine Rückmeldung, ob ihre Anmeldung geklappt hatte. Die Leiterin sagte: „Ich will nicht, dass das unser Vermächtnis wird. Lasst uns Erfinder begleiten und ihnen wirklich helfen, von einer Idee hin zu einem Patent zu gelangen.“
Was genau hat das Team verändert?
Einige der Änderungen waren technischer Natur. Die Amtsleiterin schaute sich dafür auch an, wie andere Branchen das Kundenerlebnis verbessert hatten. Getreu der 80/20-Regel suchte sie gezielt nach Änderungen, die schon mit wenig Aufwand eine große Wirkung erzielen. Sie fand dann eine Idee bei Fluggesellschaften: Wenn sich der Flug ändert, erhält man heute ganz automatisch eine Benachrichtigung per SMS.
Eine SMS reicht wahrscheinlich bei technisch komplexen Patentangelegenheiten nicht aus.
Die Überlegung war jedoch die gleiche. Die SMS ermöglichte zum Beispiel, Patentanmelder schnell zu benachrichtigen, wenn etwas fehlte. Durch die Rückmeldung über die Prüfung und ihren Grund konnten die Erfinder oft schnell einen Absatz nachschicken und offene Fragen klären. Mit einfachen Mitteln ließ sich das Kundenerlebnis sofort verbessern.
Wenn es um Motivation geht: Was halten Sie davon, Mitarbeitenden freie Zeit einzuräumen, damit sie sich um Herzensprojekte kümmern können? Google war lange dafür berühmt, dass jeder Beschäftigte 20 Prozent der Arbeitszeit mit Innovationsprojekten verbringen durfte.
Der Technologiekonzern 3M ging ähnlich vor und gab dafür den Freitag frei. Die Praxis ist nicht schlecht, aber die Frage ist doch: Warum sind die Leute nicht von Montag bis Donnerstag mit Leidenschaft bei der Arbeit? Es ist schön, wenn sie sich freitags engagieren, um an ihrem eigenen Projekt zu arbeiten, aber das Ziel sollte doch sein, dass sie auch die normale Arbeit mit Begeisterung erledigen. Sie müssen dafür sorgen, dass Sie überhaupt erst die richtigen Leute einstellen. Mir wäre es viel lieber, wenn ich eine unerfahrene Mitarbeiterin hätte, die sich für den Purpose meiner Organisation begeistert, als jemanden, der zehn Jahre Erfahrung mitbringt, dem der Purpose aber völlig egal ist. Unternehmen wählen ihre Mitarbeiter leider nach anderen Kriterien aus.
Woran erkennt man im Bewerbungsgespräch, ob jemand wirklich vom Unternehmenszweck begeistert ist oder nur so tut?
Ein Teil davon ist ein guter Bewerbungsprozess, der andere Teil ein guter Entlassungsprozess. In der Regel zeigen Menschen sehr schnell, ob sie engagiert sind oder nicht. Eine der besten Organisationen, über die ich im „The Big Five for Life“-Buch geschrieben habe, ist das Softwareunternehmen DLGL in Kanada. Es hat ein Mentorenprogramm. Wenn Sie neu im Unternehmen sind, werden Sie für bis zu zwölf Monate mit einem erfahrenen Mitarbeiter zusammengebracht. Dieses Tandem arbeitet jeden Tag zusammen. Nach dieser Zeit hätte ich als Neuling alles gelernt, was ich lernen muss, um ein produktiver Mitarbeiter zu sein. Und Sie als Mentor würden mit Sicherheit schon innerhalb der ersten Woche feststellen, ob ich wirklich von der Arbeit begeistert bin oder ob das, was ich im Vorstellungsgespräch gesagt habe, gelogen war. Wenn jemand nicht engagiert ist, müssen Sie ihn entlassen. Nichts zerstört die Moral mehr, als so jemanden im Team zu haben. © HBm 2023
Profil
John Streleckywuchs in der Nähe der US-Metropole Chicago auf. Nach einer Ausbildung an der Kellogg School of Management der Northwestern University arbeitete er als Unternehmensberater. Als er 32 Jahre alt war, nahm er sich für eine Weltreise ein Jahr Auszeit. Nach seiner Rückkehr schrieb er das Buch „Das Café am Rande der Welt“, das zu einem Bestseller wurde. Es wurde in 43 Sprachen übersetzt und fand mehr als vier Millionen Leser. Ein weiteres Buch, das ebenfalls sehr erfolgreich wurde, war „The Big Five for Life: Was wirklich zählt im Leben“.
Die Idee der Museumstage
Das Konzept der Museumstage stammt aus John Streleckys Buch „The Big Five for Life“. Er selbst sagt, sein persönliches Ziel sei es, Museumstagmomente für sich und für andere zu schaffen.
Stellen Sie sich vor, dass jeder Moment Ihres Lebens aufgezeichnet wird. Am Ende Ihres Lebens wird ein Museum errichtet, in dem alle Momente ausgestellt sind. Wenn Sie nur 5 Prozent Ihrer Zeit mit Dingen verbracht haben, die Ihnen Freude bereitet haben, sind später auch nur 5 Prozent der Ausstellungsfläche mit freudigen Erinnerungen belegt.
Ein Museumstagmoment ist ein Moment, den Sie gern immer wieder erleben möchten, wenn Sie bis in alle Ewigkeit durch das Museum Ihres Lebens wandern würden. Es können Momente der Freude sein, aber auch solche, in denen Sie für andere dagewesen sind, die Ihre Unterstützung brauchten. Es geht also nicht darum, Ihr Leben nur mit glücklichen Momenten zu füllen, sondern auch mit solchen, in denen Sie sich von Ihrer besten Seite zeigen. Auch an diese Ereignisse lohnt es sich schließlich, sich später wieder zu erinnern.
Wenn Sie dieser Idee folgen wollen, könnten Sie sich beispielsweise jeden Tag fragen: Ist heute ein guter Museumstag? Wenn Sie dies Tag für Tag verneinen, sollten Sie wahrscheinlich etwas an Ihrem Leben ändern. Sonst wird das Museum am Ende Ihres Lebens ziemlich traurig aussehen.
Für Führungskräfte bedeutet dies, dass sie ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Chance geben sollten, Dinge zu tun, die die Kriterien eines guten Museumstags erfüllen. Routineaufgaben und Dienst nach Vorschrift gehören wahrscheinlich nicht dazu – wohl aber Interaktionen mit Kunden oder Kollegen, die positiv und besonders sind.
Dieser Beitrag erschien erstmals in der Januar-Ausgabe 2023 des Harvard Business managers.
