K 2022: Europäische Kunststoffindustrie rüstet sich für zunehmende Instabilität, höhere Preise und geringeres Wachstum
Die europäische Kunststoffindustrie steht an etlichen Fronten vor Herausforderungen. In der Verpackungsbranche, ihrem bei weitem größten Markt, ist sie als Lieferant des idealen Materials für Einweganwendungen und Menschen, die viel unterwegs sind, zum Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden. Im Baugewerbe könnten einige Infrastrukturprojekte auf Eis gelegt werden, da die Regierungen einen Teil der Mittel von Infrastrukturprojekten auf die Verteidigung umleiten, obwohl die Geschäfte dadurch angekurbelt werden, dass die Verbraucher Unterstützung bei der Verbesserung der Energieeffizienz ihrer Häuser erhalten. In der Automobilbranche leiden die Zulieferer unter den Produktionskürzungen der Autohersteller - nicht etwa als Reaktion auf rückläufige Nachfrage, sondern weil sie die Chips, die sie für ihre Elektronik benötigen, nicht bekommen können.
Seit Anfang 2019 hat sich COVID-19 stark auf die Produktion ausgewirkt, gelegentlich positiv, meist aber negativ. Und jetzt, wo Europa und der Rest der Welt dabei sind, sich von den verheerenden zwei Jahren der Pandemie zu erholen, kommt die Tragödie des Ukraine-Konflikts hinzu.
Martin Wiesweg, Executive Director Polymers EMEA beim Beratungsunternehmen IHS Markit, sagte zur Lage Ende März, dass die Krise nicht nur eine humanitäre Katastrophe verursache, sondern auch die Kunststoffbranche schwer belaste, da sie die Kosten in die Höhe treibe, Engpässe in der Versorgungskette, einschließlich der Energieversorgung, verschärfe und das Gespenst eines Nachfrageschocks aufkommen lasse, da eine weltweite Stagflation befürchtet wird.
In der EU hat die Inflation im März mit 7,5 % ein Allzeithoch erreicht. Laut Aussage von S&P Global Economics am 30. März wird das Wachstum in der Eurozone in diesem Jahr voraussichtlich 3,3 % betragen, gegenüber 4,4 % laut einer früheren Prognose, und die Inflation in diesem Jahr 5 % erreichen und auch 2023 über 2 % bleiben.
"Die hohen Rohölpreise haben sich in der Vergangenheit negativ auf die europäische Kunststoffnachfrage ausgewirkt (siehe Grafik)", so Wiesweg. Wenn die Preise weiter steigen, könnte das verfügbare Einkommen der Verbraucher einbrechen, was sich auf die Einzelhandelsumsätze auswirken würde. Segmente, die abhängig von Verbraucherausgaben sind, die nicht zwingend notwendig sind, wie Haushaltsgeräte, Konsumgüter und Autos, würden schlecht abschneiden, da die Käufer versuchen, Geld zu sparen. "Kurz- bis mittelfristig könnte es in Europa zu einem Nachfragerückgang bei Polymeren kommen".
Kunststoffverarbeitung auf Kurs zur Kreislaufwirtschaft
Deutschland ist nach wie vor die "Kraftzentrale" der europäischen Kunststoffindustrie mit seinen vielfältigen Stärken bei Werkstoffen, Ausrüstung und Verarbeitungsmöglichkeiten. Aber einige Sektoren sind dennoch angeschlagen. Nach Angaben des GKV (Gesamtverband Kunststoffverarbeitende Industrie) stieg der Umsatz der Branche im Jahr 2021 um 12,6 % auf 69,4 Mrd. Euro, aber die Mitgliedsunternehmen stehen weiterhin unter starkem Ergebnisdruck. Der Verband verweist dazu auf eine "exorbitante Kostenexplosion" bei Rohstoffen und Energie sowie auf die vielen Lieferverzögerungen und daraus resultierenden Auftragsstopps, vor allem in der Automobilzulieferung.
Die Automobilbranche bringt dabei eine einzigartige Problemstellung mit sich. Mehrere europäische Automobilhersteller haben in den letzten Monaten ihre Produktion vorübergehend eingestellt, was erhebliche negative Auswirkungen auf die Lieferkette hatte, einschließlich der dauerhaften Schließung einiger Verarbeitungsbetriebe. Gemäß Angaben des Europäischen Verbandes der Automobilhersteller (ACEA) gingen die Pkw-Zulassungen in der EU-27 im Jahr 2021 um 2,4 % auf knapp unter 10 Mio. Einheiten zurück. Zwar prognostiziert Jincy Varghese, Nachfrageanalystin bei ICIS, dass die Automobilproduktion in der EU im Jahr 2022 um 17 % steigen wird, aber sie wird damit immer noch 26 % unter dem Niveau von 2019 liegen. Eine gesunde Erholung sei erst in der zweiten Jahreshälfte zu erwarten, sagte sie im Februar.
Die gesamtwirtschaftlichen Aussichten bleiben für das Jahr 2022 sehr heterogen, sagte GKV-Präsident Roland Roth auf der jährlichen Bilanzkonferenz des Verbandes Anfang März. Rund die Hälfte der im Vorfeld der Konferenz befragten Verbandsmitglieder rechnete mit einem Umsatzwachstum, ein gutes Viertel erwartete jedoch weitere Rückgänge. Mehrere dächten über Produktionsverlagerungen oder -stilllegungen nach.
Roth forderte eine Senkung der staatlichen Zuschläge auf die Energiepreise. In Bezug auf die Werkstoffpreise sagte er, dass die jüngsten Erhöhungen "fast irrsinnig" seien. Im Durchschnitt stiegen die Preise für Kunststoffe in Europa in der ersten Jahreshälfte 2021 um mehr als 50 % im Vergleich zum Vorjahr und sind so hoch geblieben. Im Februar 2021 wurde beispielsweise PET-Primärrohstoff für rund 1 €/kg verkauft. Im März dieses Jahres lag der Preis bei etwa 1,7 €/k. Die Preise für lineares PE niedriger Dichte stiegen im selben Zeitraum von etwa 1,2 €/kg auf etwa 1,9 €.
Doch der GKV-Präsident bleibt optimistisch: "Wir werden auch im Jahr 2022 als Kunststoffverarbeiter das Beste aus den polymeren Werkstoffen herausholen und die anstehenden Aufgaben erfolgreich bewältigen", sagte er.
Bei Unionplast, dem Verband der italienischen Kunststoffverarbeitenden Unternehmen, läuten wegen der Energiepreise die Alarmglocken. "Die Krise bei den Energiepreisen hat schwerwiegende Auswirkungen auf eine Branche mit über 5.000 Unternehmen und mehr als 100.000 Beschäftigten", sagt Marco Bergaglio, Präsident des Verbandes.
"Der unkontrollierte Anstieg der Energiekosten und die zunehmenden Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Rohstoffen sind eine tödliche Mischung für unsere Branche und bergen die Gefahr, dass wir die Anforderungen unserer Kunden tatsächlich nicht erfüllen können. Diese Situation hat unweigerlich auch Auswirkungen auf die Preise unserer Produkte."
Europäische Maschinenbauer in guter Verfassung
Bei den europäischen Kunststoffmaschinenherstellern sieht es besser aus. Thorsten Kühmann, Generalsekretär von EUROMAP, dem europäischen Verband der Hersteller von Kunststoff- und Gummimaschinen, erklärte im März, dass die Auftragsbücher der Mitgliedsunternehmen "bis zum Rand gefüllt seien. Das laufende Jahr wird daher wieder ein sehr gutes Jahr werden. Wir erwarten eine Umsatzsteigerung von 5 bis 10 %." Allerdings sorgen auch hier steigende Preise und jetzt der Krieg in der Ukraine für Unsicherheit.
Dario Previero ist Präsident von Amaplast, dem Verband der italienischen Hersteller von Kunststoff- und Gummimaschinen und -formen. Ende des letzten Jahres sagte er: "Unseren Schätzungen zufolge dürfte die Produktion Ende 2021 nur noch um Haaresbreite von den Werten vor der Pandemie entfernt sein und gegenüber 2020 um 11,5 % steigen. Die deutliche Erholung im Jahr 2021 lässt uns für 2022 eine Leistung erwarten, die über dem Vorkrisenniveau liegt".
Ulrich Reifenhäuser, CSO der Reifenhäuser-Gruppe und zugleich Vorsitzender des K-Ausstellerbeirats, spricht von einem "außerordentlich positiven" Auftragsbestand für das laufende Jahr. "Wesentlich dazu beigetragen hat die extrem hohe Nachfrage nach unseren Meltblown-Vliesstoffanlagen, die weltweit entscheidend dazu beigetragen haben, dass ausreichend medizinische Schutzmasken zur Pandemiebekämpfung produziert werden können - insbesondere in Europa mit lokalen Produktionskapazitäten."
Rückblickend auf das abgelaufene Geschäftsjahr des Spritzgießtechnikunternehmens Engel sagte Geschäftsführer Stefan Engleder Mitte März: "Wir beenden ein Jahr mit großen Herausforderungen, aber auch großen Chancen. Wir werden das Geschäftsjahr 2021/2022 mit einer deutlichen Steigerung gegenüber dem Vorjahr abschließen. Materialengpässe sind derzeit eine der größten Herausforderungen. Bisher ist es uns gelungen, Lieferverzögerungen so weit wie möglich zu vermeiden."
Gerd Liebig, CEO eines anderen großen Herstellers von Spritzgießtechnik, Sumitomo (SHI) Demag, sagt, dass die Verbrauchszahlen insgesamt gut seien. "Dennoch hat sich die Coronavirus-Situation deutlich auf die Nachfrage ausgewirkt. Wir rechnen aber aufgrund unserer starken Geschäftsstrategie mit einer schnellen Erholung." Auch bei diesem Unternehmen sind die Maschinenverkäufe auf dem besten Weg, das Niveau vor der Pandemie zu übertreffen. "Die Nachfrage nach vollelektrischen Modellen nimmt weiter zu, und wir gehen davon aus, dass dieser Anteil weiter steigen wird", so Liebig.
Und bei Arburg berichtet Gerhard Böhm, Geschäftsführer Vertrieb und Service: "Wir haben 2021 so viele Maschinen verkauft wie nie zuvor - und auch in diesem Jahr haben wir einen guten Auftragseingang." Er weist aber auch darauf hin, dass die Materialpreise und Lieferzeiten Anlass zur Sorge geben. "Es ist klar, dass die Lieferengpässe unsere Kunden in einigen Fällen von Investitionen abhalten, aber die Nachfrage ist sicherlich vorhanden", meint er.
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