Kein Klischee: Heimat als unverzichtbarer Wert
In Zeiten fortschreitender Mobilität und schwindender Sesshaftigkeit brauchen wir für unsere Identität eine Positivbewertung des Begriffs Heimat, der auch für Authentizität und Regionalität steht. Die meisten Deutschen verbinden mit Heimat weniger eine nationale denn eine regionale Identität.
Trendforscher sprechen sogar von der „Generation Biedermeier“. Der 1994 geborene Philipp Riederle, der mit seinem Videopodcast „Mein iPhone und Ich…“ bekannt wurde, schreibt in seinem 2013 erschienenen Buch „Wer wir sind und was wir wollen“, dass der Platz der Generation Y in der Welt keine E-Mail-Adresse und kein Facebook-Account ist, sondern ein Häuschen mit Gartenzaun. Bereits 2006 hatte der Wirtschaftsjournalist Christian Rickens in seinem Buch „Die neuen Spießer“ die sich abzeichnende neue Bürgerlichkeit erahnt, die allerdings nichts mit Gartenzwergidylle zu tun hat. Mit dem großen Traum verbindet Riederle Heimat und persönliche Bindungen, die für ihn wichtige Werte sind. Er liebt seine schwäbische Heimat Burgau genauso wie seinen Geburtsort München: „Sie haben sicher ihre Spuren hinterlassen. Im globalen Dorf aber verwischen sie: Moskau und New York liegen direkt neben Burgau, das Museum of Modern Art kann ich genauso besuchen wie das Ulmer Münster.“ Solche Heimatgefühle haben etwas Versöhnliches. Dennoch sollte Heimat nicht überschätzt werden, denn das birgt, besonders in Deutschland, auch Gefahren. Positive Heimatgefühle haben mit der „Blut und Boden“-Ideologie allerdings nichts zu tun.
Das Heimatbuch (der Begriff tauchte erstmals 1904 auf) als geschichtskulturelle Schriftenklasse wurde im 20. Jahrhundert zu einem Massenmedium. Heute ist der Begriff Heimat auf den Titelblättern auflagenstarker Zeitschriften wie „Landlust“, „Servus“, „LandLeben“ oder „Land & Leute“. Das Heimatbedürfnis wird auch durch Fernsehserien wie „Der Bergdoktor“ und zu befriedigen versucht. Lokalgeschichten im Dialekt wie „Der Bergdoktor“ erleben auch im TV ein Revival. Für die ARD-Krimireihe „TATORT“ hat das Regionalprinzip seit Beginn des Sendeformats im Jahr 1970 eine zentrale konzeptionelle Bedeutung. Auch in Rosenmüllers Heimatfilm „Wer früher stirbt, ist länger tot“ (2006) wird ein Fokus auf das Heimische und Heimelige gesetzt. In Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung identifizieren sich immer mehr Menschen mit regionalen Problemen. Das weisen auch die Herausgeber Magdalena Marszałek, Werner Nell und Marc Weiland in ihrem Sammelband „Über Land“ nach, der sich aktuellen literatur- und kulturwissenschaftlichen Perspektiven auf Dorf und Ländlichkeit widmet. Gezeigt wird, dass derzeit eine gewisse Konjunktur der Dorfgeschichten und Provinzromane zu beobachten ist. Zudem bietet es viele Beispiele, wie Dörfer überleben können, wenn sie nicht stagnieren, sondern Impulse aufnehmen, weiterdenken und weitermachen.
„Wir leben in der Heimat, überblicken aber einen weiten Horizont. Aufs Land ziehen ist kein Umzug mehr zurück in die Provinz, sondern nach vorne in die Zukunft“, sagt Daniel Dettling, Gründer des Thinktanks „re:publik – Institut für Zukunftspolitik“. Der Tübinger Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger definiert Heimat als eine innere Einstellung, bei der es nicht um eine Mia-san-mia-Mentalität geht. Vielmehr müssen den vorhandenen Werten immer wieder neue hinzugefügt werden, so dass sich das Eigene und das Fremde auf nachhaltige Weise verbinden und als Bereicherung gesehen werden. Heimat ist also kein Klischee, sondern ein unverzichtbarer Wert.
Bewahrt wird Heimat in der Regel in drei Formen (nach Georg Seesslen):
• Als Reenactment von Sitten und Gebräuchen (Abfolge von Opfern und Festen)
• Definition eines sozialen Raums
• Sammlung von Objekten, Bildern und Zeichen.
Dafür zuständig ist unter anderem ein Heimatmuseum. Um zu erahnen, wie unverrückbar Menschen einst an ihre Scholle gebunden waren, muss man sich beispielsweise nur an oberbayerischen Schliersee begeben. Am südlichsten Zipfel des Sees steht das Bauernhof- und Wintersportmuseum von Markus Wasmeier, Doppelolympiasieger von 1994 im Skirennlauf. Die Gebäude wurden an ihren ursprünglichen Standorten abgetragen und im Freilichtmuseum wieder aufgebaut: vier historische Höfe mit Stallungen, eine alte Schöpfbrauerei und ein Handwerkerhaus, alle aus der Zeit um 1700. Seit 2007 können sie besichtigt werden. Gezeigt wird hier aber auch altes Handwerk, es wird Brot gebacken und Bier gebraucht. Bereits 1997 gründete Wasmeier mit Freunden und Nachbarn den Museumsverein. Auch die nachfolgenden Generationen sollen sehen, wie die Bauern und Handwerker zwischen Inn und Isar vor 300 Jahren gelebt haben: „Ich möchte mit unserem Museum das kulturelle Erbe pflegen und für kommende Generationen bewahren – damit die Kinder wissen, dass die Kühe nicht lila sind“, sagt Wasmeier.
Er wollte schon immer mit seinen Händen etwas schaffen und Schreiner werden, aber der Betrieb gab ihm im Winter nicht zum Skifahren frei, deshalb stieg er auf Maler um - im Betrieb, wo schon sein Vater Günther gelernt hatte und er im Winter freibekam. Sein Vater war Lüftlmaler und Restaurator. Beide verfügten über das nötige Handwerkszeug und wussten genau, was beim Translozieren der historischen Gebäude beachtet werden musste. Mit der zunehmenden Kritik an einer Technologie, die immer komplexer wird, ist auch der Wunsch nach Stabilität und Dingen verbunden, die eine lange Haltbarkeit und Geschichte haben, einfach zu verstehen und leicht zu benutzen sind.
Ein Kleidungsstück, das Jahrhunderte überlebt hat und auch im Zeitalter der Digitalisierung nicht an Bedeutung und Beliebtheit verloren hat, ist die alte und speckige Lederhose, die auch im altbayerischen Dorf von Markus Wasmeier ihren Platz gefunden hat. Die kurze Lederhose war früher eine unzerstörbare Rüstung, die nicht einmal Schaden nahm, wenn Glutspritzer vom Lagerfeuer darin erloschen. Die Lederne musste weder gewaschen, genäht noch gebügelt werden. In krisenhaften Zeiten ist die emotionale Bindung an nicht kopierbare und konkurrenzlose Dinge, die mit den eigenen Händen zusammengefügt wurden, besonders ausgeprägt. Deshalb wird auch verstärkt in Lederhosen investiert, die entsprechende Qualitätsmerkmale aufweisen und mit billigen Lederteilen aus Pakistan, die streng riechen und sehr hart sind, nichts zu tun haben. Die erste Lederhose schneiderte Lukas Meindl 1935. Sein Enkel Markus begann mit acht Jahren. Heute ist das Unternehmen Weltmarktführer für Lederhosen. Bis zu 60 Stunden Handarbeit sind für eine Hirschlederne notwendig.
In seiner Studie "Geliebte Dinge” (1996) untersuchte der Frankfurter Psychologe Tilmann Habermas die Bedeutsamkeit von persönlichen Objekten für das Selbstverständnis eines Menschen und bemerkte, dass es häufig sogenannte autobiografische Souvenirs sind, „die den entscheidenden Wert in sich verkörpern". Das kann eine alte Geldbörse sein, ein Schmuckkästchen, ein Foto – oder eine Lederhose. Die Geschichten über diese Dinge helfen uns, unsere eigene Lebensgeschichte zu konstruieren. Sie sind eine Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart.
Heimat bedeutet für Uwe Johänntgen, Leiter Business Development bei der memo AG, „Ort meines Ursprungs, meiner Kindheit, Jugend, Schul- und Studienzeit – Erinnerungen an meine Eltern, Großeltern und Freunde, an erste Entdeckungen mit süßen und bitteren Erfahrungen, der Ort meiner Sozialisation, der meine Weltanschauung prägte. Heimat ist der vertraute Ort, mit dem ich mich verbunden fühle, an den ich immer wieder gerne zurückkehre.“ Als New Business Development Manager verantwortete er zuvor einige Jahre in einem amerikanischen Konzern die Entwicklung innovativer Sortimente zur Erschließung neuer Märkte in Europa. Die Geburt seiner Tochter 2007 und die mehrjährige berufliche Tätigkeit im europäischen Ausland und mit den USA veränderten seine persönlichen Wertevorstellungen, die für ihn mit der Frage verbunden war, was ihm im Leben wichtig ist: „Wohlergehen der Familie! Plus Zeit füreinander!“ Er fragte sich aber auch: „Was will ich in meinem Leben und im Job bewirken? Wozu ist meine Arbeit gut? Welchen Wert bzw. Beitrag leiste ich damit für die Gesellschaft?“ So fand er zum Thema Nachhaltigkeit. Mit dem Jobwechsel und dem neuen Wohnumfeld Main-Franken änderten sich auch die Konsumgewohnheiten: Die Familie bevorzugt vielfach regionale Produkte. Dabei ist es auch ein wichtiges Anliegen, die Tochter mit den Konsequenzen des Konsums vertraut zu machen. Die Familien gehört zu den „Öko-Normalverbrauchern“, die vor allem auf gute und möglichst langlebige Qualität setzen und vorhandene Dinge lange verwenden. Bis zu diesem Zeitpunkt war sein Leben „auf Reisen“ und von langen Auslandsaufenthalten und 12- bis 14-Stunden-Arbeitstagen geprägt. Es war eine bewusste Entscheidung, in einem Öko-Unternehmen zu arbeiten.
• Die Menschen können zwar nicht im Internet wohnen, aber sie gehen hier auf Sinnsuche.
• Je weiter wir reisen (und in virtuellen Welten surfen), desto mehr wollen wir geerdet sein. Identität braucht Begrenzung, Geborgenheit und eine Konstante im Leben.
• Innere und äußere Stabilität, die mit Freundschaften und familiären Bindungen einhergeht, benötigt einen sinnerfüllten Lebensraum, der nicht in der virtuellen Welt zu finden ist.
• Die Verankerung in einer lokalen Gemeinschaft ist wichtig, weil wir zwar global kommunizieren und unterwegs sind, aber nicht im Globalen wohnen können.
• Die Fähigkeit, Räume langsamer zu durchschreiten, ist wichtig, weil es nicht nur darum geht, physisch von A nach B zu kommen, da auch die Seele mitreisen muss.
• Erst der lokale Bezug zu bestimmten Kontexten, die an vielen Orten mit internationalen Aktivitäten vernetzt sind, macht Engagement authentisch und nachhaltig.
Daniel Dettling: Stadt, Land, Flucht? In: DIE ZEIT (24.5.2018).
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Nachhaltigkeit begreifen: Was wir gegen die dummen Dinge im Zeitalter der Digitalisierung tun können. In: CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. 2. Auflage. SpringerGabler Verlag 2021.
Magdalena Marszałek, Werner Nell, Marc Weiland (Hg.): Über Land. Aktuelle literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Dorf und Ländlichkeit. Transcript Verlag, Bielefeld 2018.
Georg Seesslen: Gefährliche Sehnsuucht. In: DIE ZEIT (12.5.2021), S. 72.