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KI im Personalwesen: Sind wir tatsächlich schon so weit?

Ach war das schön… Und auch irgendwie ein bisschen traurig. Dienstag und Mittwoch fand es nun nach langem Hin- und Her doch statt: Das HR Barcamp.

Eigentlich sollte es das 2020er Barcamp sein, das aus bekannten Gründen letztes Jahr ausfiel, mehrfach und mit Hoffnung auf eine spätere Durchführbarkeit verschoben wurde, um dann jetzt doch als Onlineevent über Hopin stattzufinden.

Nun, Christoph und Jannis haben das dem Umständen entsprechend wirklich super hinbekommen, die inhaltliche Qualität der Sessions war erstaunlich gut und ein ganz klein wenig Barcamp-Feeling kam am Dienstagabend auch auf, als Nina, Jan Kirchner und ich irgendwann feststellten, die letzten Partygäste (in wonder.me) zu sein.

Aber frei nach Franz Müntefering:

“Online ist Mist!”

Darum freue ich mich wie Bolle darauf, wenn wir uns alle mal wieder “in echt” sehen können und dann hoffentlich an das “Online-HR Barcamp” als eine einmalige Ausnahme zurückdenken…

Ein Schwerpunktthema: KI im Personalwesen – und was sagt die Ethik?

Eines der Themenfelder, um die sich gleich mehrere Sessions drehte, war – kaum überraschend – der Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Personalwesen. Sowohl die Session der werten Gattin zum Thema Datenschutz drehte sich sehr stark um dieses Themenfeld als auch – logisch – die Session von Stellenanzeigen.de, bei der sie ihre neue – stark auf Machine Learning aufbauenden Job-Plattform “It-Jobs.de” vorstellten.

Und so schloss sich dann meine Session zu der ethischen Bewertung von KI im Personalwesen da irgendwie nahtlos an.

Beitrag in der Zeitschrift für das Recht der digitalen Wirtschaft: KI im Personalwesen – Sind wir tatsächlich schon so weit?

In diesem Zusammenhang passte es dann sehr gut, dass Nina und ich uns verschiedene Fragen im Zusammenhang mit dem Stand des Einsatzes von KI im Personalwesen vor kurzem mal etwas intensiver vorgeknöpft haben. So entstanden zwei Beiträge für die unter anderem von Nina herausgegebenen Zeitschrift für das Recht der digitalen Wirtschaft.

Das Gespräch / Interview, das Nina und ich dazu geführt haben, habe ich nachfolgend noch einmal zusammengefasst. In diesem Fall hatte Nina die Rolle des Fragenstellers und ich die des Antwortenden, nur damit Ihr es einsortieren könnt.

Wer danach noch nicht genug von uns beiden hat oder wer lieber hört statt liest, dem sei auch der kürzlich erschienene Podcast ans Herz gelegt. Auch da geht es unter anderem um KI…

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Nina: Beginnen wir mit den Begrifflichkeiten. Gibt es »künstliche Intelligenz« tatsächlich schon? Oder sind damit bislang doch »nur« außerordentlich gute Algorithmen und Machine Learning gemeint?

Jo: Wenn über den Einsatz von »algorithmischen Entscheidungssystemen« – um den Begriff »künstliche Intelligenz« zunächst bewusst zu vermeiden – in der Personalgewinnung gesprochen wird, dann meist im Kontext des Recruitings bzw. der Personalauswahl durch Unternehmen.

Mit dem Schlagwort des »Robo-Recruitings« wird dabei die Assoziation hervorgerufen, eine Maschine prüfe umfassend die Eignung von Kandidaten und nehme unmittelbar Einstellungszusagen bzw. -absagen vor. Tatsächlich ist die Bedeutung von Algorithmen im Rahmen der einer Bewerbung vorgelagerte Prozesse noch wesentlich größer. Ebenso wie bei Facebook oder Google entscheiden in Stellenbörsen oder auf Karriere-Netzwerken inzwischen Algorithmen in erheblichem Maße darüber mit, welche Inhalte bzw. Stellenangebote den Nutzer:innen angezeigt werden. Das Stichwort lautet hier Programmatic Advertising. Von dem Einsatz von Algorithmen zur Bewertung von Menschen im Rahmen des Einstellungsprozesses geht jedoch eine gewisse dystopische Faszination aus. Vermutlich stehen sie deswegen mehr im Fokus der Diskussion.

Doch gleich welcher Anwendungsfall – am Ende ist alles reine Mathematik. Merkmale werden miteinander verglichen und auf Muster untersucht. Das führt zu dem Begriff der »künstlichen Intelligenz«. Man könnte argumentieren, dass es so etwas gar nicht gibt und auch nicht geben kann, weil Intelligenz nicht künstlich ist. Aber das ist aus meiner Sicht ein wenig zu »akademisch«. Denn der Begriff ist in der Welt, er wird nicht aufgegeben werden und deswegen sollten wir auch mit diesem arbeiten. Es ist nur wichtig zu verstehen, dass sich unter dem Schlagwort mittlerweile sehr vieles sammelt:

Es beginnt bei Algorithmen, die automatisiert gewisse Bewertungen vornehmen, dabei aber letztlich fix definiert sind. So könnte ein solcher Algorithmus bspw. automatisiert entscheiden, dass alle Bewerber mit einer Fünf in Mathematik eine Absage erhalten. Das kann bei Berücksichtigung mehrerer Merkmale und dynamischer Bedingungen zwar weit komplexer werden, folgt aber immer einer definierten und jederzeit nachvollziehbaren Logik. Insofern reden wir hier bestenfalls über eine »schwache KI«.

Am anderen Ende des Spektrums stehen Algorithmen, die sich selbsttätig verändern. Auch hier steht am Anfang eine Wenn- Dann-Beziehung, aber das Ergebnis der auf Basis dieser Wenn- Dann-Beziehung vorgenommenen Bewertung fließt wiederum als neuer Datenpunkt in den Algorithmus ein und führt zu einer neuen Wenn-Dann-Berechnung. Man könnte es auch ein permanentes Trial-and-Error des Algorithmus nennen. Das ist der Bereich, der als Machine-Learning bezeichnet wird. Hier ist mit heutiger Rechnerleistung bereits Erstaunliches möglich. Dabei besteht die Gefahr, dass Algorithmen selbsttätig in die falsche Richtung laufen. Gemeint ist das Folgende: Hat die Maschine eine Bewertung aufgrund eines sinnvollen und auch »vertretbaren « Zusammenhangs vorgenommen oder auf Basis von Scheinkorrelationen? Ist der Zusammenhang zwar mathematisch »richtig«, aber ethisch und/oder juristisch ungewollt oder sogar unzulässig? Je komplexer die Mathematik, je autonomer lernend das System, desto weniger bestehen Nachvollziehbarkeit und damit Interventionsmöglichkeiten.

Hinzu tritt ein weiteres Problem: Lernende Algorithmen müssen trainiert werden. Hierfür werden sehr viele Daten benötigt. In der Theorie gibt es bei der Personalgewinnung unendlich viele Datenpunkte. In der Praxis sprechen wir aber bei den meisten Unternehmen noch über »Small Data«. Es gibt oft kaum verwertbare Informationen darüber, wer als »erfolgreicher Mitarbeiter« zu definieren oder nach welchen Kriterien das Attribut »erfolgreich« überhaupt zu bestimmen ist. Oder die benötigten Daten liegen nur analog vor, so dass sie für eine maschinelle Verarbeitung schon rein technisch unbrauchbar sind. In all diesen Fällen verhält sich ein lernender Algorithmus wie ein Schwimmer, der in einem Becken ohne Wasser trainieren soll.

Und selbst wenn Daten in hinreichender Quantität und Qualität vorliegen, so handelt sich dabei notwendig um vergangenheitsbezogene Daten. Damit daraus eine verlässliche Projektion für die Zukunft abgleitet werden kann, müssten die vergangenheitsbezogenen Daten typisch für die Gegenwart und Zukunft sein. Würde man heute einen Algorithmus im Recruiting einsetzen, der mit Daten aus den Jahren vor Corona trainiert wurde, dann dürfte jedem Laien einleuchten, dass in diesen Daten wahrscheinlich keine Effekte eines

»pandemiebedingten exogenen Schocks« enthalten sein können. Um in dem Bild vom Schwimmer zu bleiben: Dieser hat fleißig im Schwimmbecken bei 20 Grad Wassertemperatur trainiert und soll nun bei 2 Grad und 10 Windstärken auf offener See ein Rennen schwimmen.

Fortsetzung hier: https://blog.recrutainment.de/2021/05/15/ki-im-personalwesen-sind-wir-tatsaechlich-schon-so-weit/

Joachim Diercks schreibt über Recruiting, Online-Assessment, Personalmktg.

Gründer und Geschäftsführer von CYQUEST. Entwickelt Instrumente für Personalauswahl ("Online-Assessment", "Matching"), Employer Branding und Personalmarketing. Gastdozent für Eignungsdiagnostik an der HS Fresenius. Buchautor, Referent und Keynote-Speaker. Herausgeber Recrutainment Blog.

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