Kinder- und Jugendhilfe in der Corona-Pandemie
Als BVkE Vorsitzender stehe ich an der Spitze des Verbandes, in dem sich bundesweit die gesamte Kinder- und Jugendhilfe organisiert, die durch katholische Träger erbracht wird. Der Verband vertritt mehr als 460 Einrichtungen und Dienste mit mehr als 25 Tausend Mitarbeitenden in Deutschland. Der BVkE hat sich im Herbst 2021 für die Zukunft neu ausgerichtet und heißt heute: Bundesverband Caritas Kinder- und Jugendhilfe (BVkE).
Als Einrichtungs-Fachverband des Deutschen Caritasverbandes ist der BVkE der Ort, an dem die Anliegen der Kinder- und Jugendhilfe fachlich fundiert bearbeitet werden. In den Einrichtungen und Diensten kommen die Notlagen und die Hilfebedarfe der betroffenen Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen und deren Familien an, dort werden sie angenommen und dort findet Hilfe, Beratung und Betreuung, Erziehung und Versorgung statt. Das ist auch der Blickwinkel, den ich als Geschäftsführer der Bethanien Kinderdörfer in meine Verbandsarbeit einbringe.
Im Verband werden diese Blickwinkel zusammengeführt, verdichtet und in die Arbeit der sozialpolitischen Vertretung eingebracht. Spannend an dieser Aufgabe finde ich, dass sich im BVkE Vorstand ein Bild der bundesweiten Entwicklungen bestimmter Themen sehr schnell ergibt und aus Herausforderungen dann klare Ziele für die sozialpolitischen Aktivitäten werden. Als Vorsitzender habe ich das Gefühl, durch einen guten Austausch innerhalb des Verbandes dazu beitragen zu können und auch Schwerpunkte setzen zu können.
Die Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe bewegen sich nicht im klimaneutralen Raum. Sie nutzen, bauen und renovieren Gebäude und Gelände, sie stellen Fahrzeuge zur Verfügung, sie halten Verwaltungen und Fachdienste vor und in allen Bereichen, in denen Kinder und Erwachsene leben, wird eingekauft, gekocht und alles im Rahmen einer alltäglichen Lebenshaltung getan, was für die Versorgung von Kindern und Jugendlichen notwendig ist. In allen diesen Bereichen gibt es viele Ansätze, klimaschädlich oder klimafreundlich zu handeln. Ein Bewusstsein für nachhaltiges Wirtschaften ist in unterschiedlicher Tiefe und Kompetenz bereits vorhanden. Oftmals existiert aber immer noch die Frage, ob man sich das teurere nachhaltige Produkt leisten kann. Das gilt sowohl für die großen Kostenposten im Rahmen von Bauen und Wohnen, bei der Wahl der Heizenergie.
Das gilt aber auch im Kleinen und Alltäglichen, bei der Kaufentscheidung für Lebensmittel und bei allen Fragen der Ernährung, die in Wohngruppen, in denen täglich zehn bis zwölf Personen versorgt werden müssen. Und bei Kleidung, Möbeln, Freizeitgestaltungen, Fahrten von A nach B. Am Ende der Betreuungszeit ziehen Jugendliche und junge Erwachsene aus den Kinderdörfern aus in eigene Wohnungen und nehmen dorthin alles Wissen und alle Erfahrungen mit, die sie in der Betreuungszeit erworben haben. Hier zeigt sich, ob sie gelernt haben, mit ihren beschränkten finanziellen Mitteln klimaschonende Entscheidungen für ihre Lebensführung zu treffen. Das ist die größte Nachhaltigkeit, die die Kinder- und Jugendhilfe erzeugt. Ich bin überzeugt, dass ein umfassendes Nachhaltigkeitsmanagement für die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe benötigt wird, und ich bin sicher, das ist eine der größten Aufgaben der kommenden zehn Jahre.
Ja, das können sie. Die soziale Mutterschaft oder auch Elternschaft – es gibt auch Paare, die in den Kinderdörfern als Kinderdorfeltern tätig sind – funktioniert und erzeugt lebenslange Bindungen. Die Voraussetzung dafür ist, dass die leiblichen Eltern wirklich ersetzt werden müssen. Wenn leibliche Mütter in Konkurrenz zur Kinderdorfmutter gehen, ist ein Ersatz schwierig oder unmöglich. Wenn leibliche Mütter ausfallen, weil sie z.B. schwer psychisch krank oder suchtkrank sind, dann ist tritt die soziale Mutterschaft an ihre Stelle. Dann kann es sein, dass die Kontakte zu leiblichen Eltern Irritationen auslösen, aber die Kinder realisieren, dass sie Verlässlichkeit, Zuwendung und Stabilität im Kinderdorf haben und dann finden sie dort eine Heimat, die über die Kindheit und Jugend erhalten bleibt. Von Seiten der Kinderdorfmütter ist die professionelle Aufgabe, den Kindern auf der einen Seite Bindung anzubieten und auf der anderen Seite den Kindern zu ermöglichen, ihre Beziehung zu den leiblichen Eltern zu erhalten und zu klären.
Diese Aufgabe stellt sich in jeder kindlichen Lebensphase neu. Manchmal kommt es zu einem Wunsch der Kinder und der leiblichen Eltern zur Rückkehr in den elterlichen Haushalt. In diesen Fällen ist die Erlaubnis der sozialen Mutter von großer Bedeutung für das Kind oder den Jugendlichen. Auch bei einer Rückkehr zu den leiblichen Eltern kann die Bindung zur sozialen Mutter eine lebenslange Bedeutung haben.
1. Wertschätzung. Wir vermitteln den Eltern, dass es keine Verurteilung ihrer Lebensgeschichte durch das Kinderdorf gibt. Den Kindern wird vermittelt, dass die Eltern alles getan haben, was ihnen möglich war. Dies gilt allerdings nur für die Fälle, in denen keine extreme Gewalt gegen Kinder oder sexueller Missbrauch durch Eltern stattgefunden hat.
2. Kooperation. Wir legen in den Hilfeplangesprächen mit den Eltern und den Kindern fest, welche Rollen die Eltern übernehmen, wo sie beteiligt sind, welche Besuchskontakte gewünscht sind und wie diese ablaufen.
3. Exklusive Besuche. Wir haben Besucherräume eingerichtet, die mit Küchen und Spielbereichen ausgestattet sind, in denen Eltern und Kinder Zeit verbringen und sich aufeinander einstellen können.
4. Einbeziehung bei wichtigen Ereignissen. Eltern haben bei besonderen Festen und Feiern, bei Einschulung, Kommunion und anderen wichtigen Ereignissen, einen Platz bei ihren Kindern.
In einer großen Befragung wurden von sechs Einrichtungen zwischen 2008-2010 mehr als 1.200 ehemalige Kinderdorfkinder und Heimkinder mit einem umfangreichen Fragebogen angeschrieben und nach ihren Erfahrungen befragt. 344 haben geantwortet, viele haben dem Fragebogen noch eigene Berichte hinzugefügt. Ich habe für meine Promotion diese Antworten ausgewertet. Die Ergebnisse wurden in dem Buch „Zwischen Albtraum und Dankbarkeit“ (Lambertus Verlag) veröffentlicht. Die ehemaligen Heim- und Kinderdorfkinder, die uns geantwortet haben, blicken mit gemischten Gefühlen auf ihre Zeit in der Jugendhilfe zurück, was ja auch der Tatsache, nicht in seiner Herkunftsfamilie leben zu können, angemessen ist. Die meisten sind in der Gesamtbewertung positiv.
Je kürzer der Kinderdorfaufenthalt zurück liegt, umso mehr geben an, eine Bindungsperson in der Einrichtung gefunden zu haben. Diejenigen, die keine Bindungsperson gefunden haben, haben die Zeit im Kinderdorf insgesamt schlechter bewertet. Bindung ist der Schlüssel zu einer gelingenden Hilfe in Kinderdorf und Heim. Auch zu Mitarbeitenden, die nicht in der Einrichtung leben wie eine Kinderdorfmutter, kann eine Bindung entstehen, die dem Kind in der Zeit der Trennung von den Eltern hilft. Freizeit und Förderung – Musik, Sport, Kunst und Kreativität, schulische und berufliche Förderung, Erlebnisse in der Gruppe z.B. Ferien und Naturerfahrung, der Umgang mit Pferden – spielen eine besonders heilsame Rolle in der Bewertung der Ehemaligen.
Positiv: Viele gelungene Lebensläufe, die ich über Jahre begleiten durfte. Eine Geschwistergruppe von neun leiblichen Geschwistern, die in einer Kinderdorffamilie aufgewachsen sind. Zu mehreren gibt es heute noch Kontakt, sie kommen mit ihren Kindern ins Kinderdorf, die nennen die Kinderdorfmutter selbstverständlich „Oma“ und ein Familientreffen ist immer ein großes Fest. Negativ: Eine Geschwistergruppe mit fünf Kindern, die aus einer desolaten Familie kam. Mit zunehmendem Vertrauen konnten sich die jüngeren Kinder den Pädagogen anvertrauen und von extremen Missbrauchssituationen berichten. Es ist nicht gelungen, die von den Kindern genannten Missbrauchssituationen strafrechtlich zu klären, die Eltern haben mit allen Mitteln den Zugriff zu den Kindern gesucht und am Ende sind die Kinder in eine andere Einrichtung gegangen und dann zurück zu den Eltern. Ich bin sicher, der Missbrauch ging dort weiter.
Der erste Lockdown war ein Schock, auf den niemand vorbereitet war. Die Kinderdorfgruppen blieben unter sich, es gab keinen Besuch von Schulen und Vereinen, von Freunden und sogar von Eltern mehr. Die Pädagogen haben den Kindern die Gründe erklärt und es gab zwischen Erwachsenen und Kindern ein Verständnis für die Notwendigkeit der Einschränkungen, so dass die ersten Irritationen gut bearbeitet werden konnten. Ich war trotzdem beunruhigt, wohin sich das Ganze entwickeln würde, und habe die ersten kreativen Ideen der Gruppen zum Anlass genommen, eine „Corona Smile Challenge“ ins Leben zu rufen. Die Gruppen sollten, da der persönliche Kontakt nicht mehr möglich war, sich gegenseitig auf einer digitalen Plattform erzählen, was sie für Ideen haben und was sie zusammen unternehmen.
Die pädagogischen Teams hatten sich sehr schnell überlegt, wie sie die neue Situation für die Kinder und Jugendlichen erträglich machen konnten und welche Angebote und Aktionen sie durchführen wollten. Es entstand ein reger Mail- und Fotoaustausch über Waldwanderungen, Gruppenabende am Feuer, Spiele für Drinnen und Draußen, kreative Aktionen mit allen möglichen Materialien, Tanzaktionen, Musikevents in der Gruppe und so vieles mehr. Auf den Fotos sind zufriedene Kinder und Erwachsene zu sehen, die Spaß miteinander haben. Als der erste Lockdown zu Ende ging, haben viele der Pädagoginnen in den Gruppen berichtet, dass es noch nie in ihrer Berufspraxis so eine dichte und schöne Zeit mit der Gruppe gegeben habe. „So familiär war es noch nie“. Gelitten haben die Kinderdorfkinder über die ausgesetzten Elternbesuche. Ich stelle heute in Frage, ob das so richtig war.
Hier wurde der Ausfall der Schulen dramatisch, wir haben in kurzer Zeit die Gruppen mit Laptops und Tablets ausgestattet. Nach unserer Erfahrung haben die einen Lehrer eine gute Form des digitalen Unterrichts gefunden, andere nicht. Diese Homeschooling-Phase hat die Erziehenden sehr an die Grenzen gebracht.
Die Corona Pandemie hat neue Verbindungen geschaffen, neue Solidarität aufgebaut, Binnen-Gemeinschaften geschaffen und gestärkt – und auf der anderen Seite neue Gräben aufgeworfen und Polarisierungen hergestellt, die vorher nicht so deutlich waren. Erzieher*innen und Sozialpädagog*innen (die ich im Weiteren einfach Pädagog*innen nenne) haben zu Beginn der Pandemie deutlich gespürt, dass sie in der Kinder- und Jugendhilfe nicht auf dem Schirm der Politik waren. Die Krankenpflegekräfte wurden (zurecht) beklatscht, die Kinder und Jugendhilfe musste sehr darum kämpfen, als „systemrelevant“ anerkannt zu werden. Während der Kontaktbeschränkungen haben die Pädagog*innen die Kinder und Jugendlichen eng begleitet, haben viel mehr Zeit mit ihnen in den Gruppen verbracht als je vorher, haben den Sinn der Einschränkungen vermittelt und zugleich mit Ämtern um sinnvolle Regelungen gerungen. In den stationären Hilfen sind alle enger zusammengerückt und viele Pädagog*innen haben die Freude am Zusammensein, am gemeinsamen Alltag zwischen Kochen, Spielen, Freizeit und Schule neu entdeckt.
Im zweiten Lockdown sind die Pädagog*innen zu Ersatzlehrern geworden und haben noch mal die Schule neu entdeckt: zwischen der Bewunderung für Lehrer*innen, die sich in der Distanz ganz intensiv um Einzelne gekümmert und die digitalen Formate mit Leben und Freude gefüllt haben und dem Entsetzen gegenüber Lehrer*innen, die Kinder einfach sich selbst überlassen haben und das gelegentliche Verteilen von Aufgaben als Schule definiert haben – und allen Schattierungen, die es dazwischen natürlich auch gibt.
Weil die Familien sich selbst überlassen waren, und es einfach nicht möglich war, sozialpädagogische Familienhilfe durch telefonische oder videogestützte Beratung zu ersetzen. Auch die Schulbegleitungen haben nicht adäquat arbeiten können und haben darunter gelitten, dass begonnene Hilfen nicht weitergeführt werden konnten. Viele Fachkräfte haben sich Sorgen um ihre Familien gemacht und auch Sorgen um den Schutz und die Versorgung der Kinder.
Die Einrichtungen haben täglich und wöchentlich die neuen Regelungen ausgewertet und für die einzelnen Arbeitsformen übersetzt. In den stationären Wohngruppen gab es völlig andere Problemstellungen als in den schulischen Hilfen oder den ambulanten Hilfen oder in den Kitas. In den Wohngruppen fehlten plötzlich Personal, weil die Kinder immer da waren und in den schulischen Hilfen und in den Kitas hatten die Mitarbeitenden plötzlich keine Arbeit mehr, weil Schließungen verhängt wurden. Das ging bis zu Regelungen für Kurzarbeit und keine Vertragsverlängerungen für Mitarbeitende mit befristeten Verträgen.
Auf verbandlicher Ebene haben wir für die frühe Impfung unserer Mitarbeitenden gekämpft. Der Kampf hat sich gelohnt, es zeigte sich schnell, dass in den Bethanien Kinderdörfern die Impfbereitschaft sehr hoch war. Im pädagogischen Bereich ist die Impfung keine reine Privatsache. Die Impfung hat Auswirkungen auf den Einsatz, die nichtgeimpften müssen sich derzeit täglich testen. Wenn sie positiv sind, fallen sie durch Quarantänereglungen länger aus. Fangen die Geimpften diesen Ausfall auf? Auf der anderen Seite fühlen sich die Nichtgeimpften derzeit diskriminiert und an den Pranger gestellt.
Dr. Klaus Esser (* 9. Dezember 1958) ist Diplom-Heilpädagoge, Geschäftsführer der Bethanien Kinderdörfer und seit 2017 Vorsitzender des Bundesverbandes katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen (BVkE), in dem er schon seit 1994 im Vorstand wirkt. Er studierte von 1983 bis 1986 Heilpädagogik an der Katholischen Fachhochschule Nordrhein-Westfalen. 1992 übernahm er die Pädagogische Leitung des Bethanien Kinder- und Jugenddorfes in Schwalmtal und war von 2001 bis 2018 Leiter dieser Einrichtung. Seit 2018 ist er Geschäftsführer der Bethanien Kinderdörfer Deutschland. Neben seinem Engagement als Vorsitzender des Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen (BVkE) ist er Mitglied in diversen Netzwerken. Von 1995 bis 2002 leitete er die Fachausschüsse „Qualitätsmanagement“ und „Standards und Qualitätsentwicklung“ im BVkE. Nach einem nebenberuflich absolvierten Promotionsstudium wurde er 2010 an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln promoviert mit der Dissertation zum Thema „Die retrospektive Bewertung der stationären Erziehungshilfe durch ehemalige Kinder und Jugendliche. Ein Beitrag zur Qualitätsentwicklung und Wirkungsorientierung.“
Esser setzt sich für die Fachkräfteförderung im Sozialwesen, speziell in der Kinder- und Jugendhilfe, ein. Er ist Referent in der Europäischen Akademie für Heilpädagogik und im Berufsverband der Heilpädagoginnen und Heilpädagogen sowie Mitglied der Arbeitsgruppe „Fachzentrum Erziehungshilfe“ an der Universität Köln. Er war zudem Gründungsmitglied der European Charity University e. V. die sich dafür einsetzt, dass Ethik in der Forschung und Lehre einen höheren Stellenwert erhält. Von 2002 bis 2004 hatte er einen Lehrauftrag an der Hochschule Niederrhein im Fachbereich Sozialwesen inne. Esser ist Autor, Mitautor und Herausgeber von Fachbüchern sowie zahlreichen Beitragen in Fachbüchern und Fachzeitschriften. Er ist Vater von zwei Kindern.
Helfen und wirken: Sinnstiftung im Beruf
„Die Würde anderer endet nie. Was aber endet, ist die Freiheit.“