Klar schaffen Sie das!
Viele Menschen meiden unbekannte Situationen – und übersehen dabei, welche Chancen sie bieten. Ein Guide durch Zeiten der Unsicherheit.
Von Nathan Furr und Susannah Harmon Furr
Der Mensch ist von Natur aus darauf programmiert, Unbekanntes zu fürchten. Das ist der Grund, warum Unsicherheit nervenaufreibend, anstrengend und sogar lähmend wirken kann. Das gilt unabhängig davon, ob es sich auf der Makroebene um eine globale Wirtschafts-, Gesundheits- oder geopolitische Krise handelt oder ob das Unbekannte auf der Mikroebene stattfindet, mit Fragen wie „Werde ich den Job bekommen?“, „Wird mein Vorhaben Erfolg haben?“ oder „Bin ich beruflich auf dem richtigen Weg?“. Diese Reaktion führt jedoch dazu, dass wir eine entscheidende Tatsache übersehen: Unsicherheit und Chance sind zwei Seiten derselben Medaille.
Denken Sie einmal an all die Erfolge, auf die Sie besonders stolz sind; an die Momente, die Ihr Leben verändert haben; an die Beziehungen, die Ihr Leben bereichern und lebenswert machen. Wir möchten darauf wetten, dass praktisch allen eine Zeit der Unsicherheit vorausgegangen ist, die Sie wahrscheinlich als schwierig empfunden haben. Trotzdem haben Sie sie durchgestanden, um etwas Großes zu erreichen.
Als wir beide beispielsweise ins Ausland umgezogen sind, wussten wir nicht, ob wir weniger verdienen, höhere Steuern zahlen oder eine anstrengendere Arbeit haben würden. Wir wussten nicht, ob es gut war, unsere Kinder in eine neue Schule zu schicken, eine neue Sprache zu lernen und uns an eine neue Kultur zu gewöhnen. Sieben Jahre später sind wir jedoch enorm dankbar für die vielen Chancen, die uns dieser Umzug eröffnet hat.
Alle unsere Helden der Neuzeit haben eine ähnliche Geschichte. Die US-Bürgerrechtlerin Rosa Parks war mit großer Unsicherheit konfrontiert, als sie sich weigerte, ihren Sitzplatz in einem Bus für einen weißen Fahrgast zu räumen. (Dies löste den Bus-Boykott im Städtchen Montgomery, Alabama, aus und ebnete den Weg für die Aufhebung der Rassentrennung.) Fast alle dachten anfänglich, dass Tesla-Chef Elon Musk und sein Team scheitern würden mit ihrem Konzept, E-Autos zu bauen und die Welt in eine umweltfreundlichere Zukunft zu führen. Der Durchbruch wäre nicht möglich gewesen, hätten sie das Ungewisse gefürchtet.
Unsicherheit sollte niemanden von uns lähmen. In den vergangenen zehn Jahren haben wir uns mit Innovatoren und Changemakern beschäftigt, die den geschickten Umgang damit gelernt haben. Und wir haben Untersuchungen zu Resilienz und Ambiguitätstoleranz studiert. Die Ergebnisse sind eindeutig: Jeder Mensch ist in der Lage, mit Unsicherheit zurechtzukommen. Jeder Mensch kann lernen, sich guten Mutes auf unbekanntes Terrain vorzuwagen und die Chancen zu nutzen, die sich dort bieten. Die folgenden vier Leitgedanken können Ihnen dabei helfen.
Die meisten Menschen haben Angst vor Verlusten. Zahlreiche Studien belegen, dass es Einfluss auf die Entscheidungsfindung hat, wie wir etwas formulieren. So zeigt die Forschung, dass die allermeisten Menschen eine Behandlungsmethode gegen eine neue Krankheit deutlich bevorzugen, wenn sie als „zu 95 Prozent wirksam“ beschrieben wird – verglichen mit einer Methode, die „zu 5 Prozent unwirksam“sei. Statistisch gesehen ist das natürlich das Gleiche.
Jede Innovation, jede Veränderung oder Umstellung – sei es im persönlichen oder beruflichen Bereich – birgt potenzielle Vor- und Nachteile. Auch wenn die meisten Menschen sich instinktiv auf die Nachteile fokussieren: Es ist möglich, diese Denkweise zu verändern und Ängste und Befürchtungen abzuschwächen.
Besonders gern nutzen wir dazu den Ansatz des „unendlichen Spiels“, den James Carse entwickelt hat. Der Professor von der New York University empfiehlt: Sehen Sie die üblichen Regeln, die Grenzen und den Zweck des „Spiels“, das Sie spielen – also den angestrebten Job, das Ihnen zugewiesene Projekt oder Ihren Karriereweg –, nicht länger als fix und unabänderbar an. Denn das bringt Sie in eine Win-or-lose-Mentalität, in der Unsicherheit Ihre Ängste verstärkt. Im Gegensatz dazu erkennen „unendliche Spieler“ Unsicherheit als wesentlichen Teil des Spiels an. Sie sehen sie als ein Element, das ihnen Überraschungen und Möglichkeiten eröffnet – und als etwas, durch das sie ihre eigenen Rollen und die Parameter des Spiels zu hinterfragen lernen.
Yvon Chouinard, Mitbegründer des Outdoorbekleidungsherstellers Patagonia, ist ein solcher unendlicher Spieler. Als Kind hatte er Schwierigkeiten, sich anzupassen. Einmal brach er die Schule ab, scheiterte fast in einer zweiten und wurde nach seinem Abschluss ein Dirtbag-Kletterer (Menschen, die nur für das Klettern leben, ein Nomadenleben führen und auf Komfort und Besitz verzichten – Anm. d. Red.). Doch statt sich als Versager zu sehen, so erzählt er in seinem Buch „Lass die Mitarbeiter surfen gehen“, wurde ihm schon früh klar, dass es besser ist, sein eigenes Spiel zu erfinden. „Dann ist man immer der Sieger.“
Chouinard hat nicht nur eine der weltweit erfolgreichsten Marken für Outdoorbekleidung geschaffen. Er hat auch die Produktionsnormen verändert, indem er nachhaltigere Materialien einsetzte. Er hat das Einzelhandelsmodell verändert, indem er alte Gebäude für neue Geschäfte umbaute. Und er hat die traditionelle Personalpolitik revolutioniert, indem er zum Beispiel eine hauseigene Kinderbetreuung einführte.
Einige dieser Innovationen brachten dem Unternehmen auch Unsicherheit. So stellte Patagonia auf Biobaumwolle um, bevor diese populär wurde, aber noch teuer und schwer zu bekommen war. In einem Finanztief rieten Außenstehende dem Unternehmen zum Kauf preiswerterer Rohstoffe. Da die Verwendung von Biobaumwolle jedoch den Werten des Unternehmens entsprach, hielt Patagonia trotz hoher Kosten und Beschaffungsrisiken daran fest. Letztlich konnte das Unternehmen seinen Umsatz steigern, während die Konkurrenten Rückgänge verkraften mussten.
Chouinard hat gelernt, Unsicherheit mit Mut zu begegnen, empfindet sie sogar als energetisierend. Das funktioniert, weil er das Spiel an sich verbessern will, anstatt einfach nur mitzuspielen. „Führungskräfte eines Unternehmens, das auch in hundert Jahren noch im Geschäft sein will, sollten Veränderungen lieben“, rät Chouinard in seinem Buch. „Und wenn es gerade keine Krise gibt, dann wird eine kluge Führungskraft eine erfinden.“
Doch wenn uns die Unsicherheit aufgezwungen wird, brauchen wir mitunter Hilfe, um die Situation für uns neu zu formulieren. Da sind zum Beispiel Amy und Michael, ein berufstätiges Paar mit vier Kindern, das 2017 wegen Michaels Job aus den USA nach Frankreich umgezogen war. Als die Pandemie ausbrach, wurde Michaels Stelle gestrichen. Unternehmen, die ihm ursprünglich Jobangebote gemacht hatten, hielten ihn hin. Im Juli 2020 sollten beide in die USA zurückfliegen, aber drei Tage vor ihrer Abreise hatten sie noch keine Arbeit und keine Wohnung in Aussicht. Familie und Freunde erkundigten sich immer wieder nach dem Stand der Dinge. Ihre Kinder im Teenageralter beschwerten sich: „Ihr seid die schlechtesten Eltern der Welt! Wie könnt ihr noch nicht mal eine Vorstellung davon haben, wo es hingehen soll?“
Zwei Tage vor ihrem Abflug vertraute Amy uns beim Mittagessen an, dass Michael ein Jobangebot bekommen hatte, aber beide dagegen waren, es anzunehmen. „Sollen wir uns wirklich damit zufriedengeben? Mit dem Spatz in der Hand?“, fragte sie sich laut. „Allmählich habe ich das Gefühl, wir sind absolute Versager.“ Wir ermutigten sie, ihre Situation einmal aus einer anderen Warte zu betrachten. Sie und Michael bewiesen Resilienz und Mut, indem sie alle möglichen nächsten Schritte ausloteten und die richtige Gelegenheit abwarteten.
Was für ein Glück für ihre Kinder, dass sie Eltern hatten, die genau wussten, was sie wollten, und couragiert genug waren, die Unsicherheit auszuhalten. Zuversichtlich kehrte das Paar in die USA zurück. Ende des Sommers hatten beide nicht nur einen Job gefunden, der ihnen gefiel, sondern auch ein renovierungsbedürftiges Haus in einer tollen Gegend.
Innovatoren behaupten ja oft, Unsicherheit sei ihr zweiter Vorname. Bei näherem Hinsehen entdeckt man allerdings häufig seltsame Gewohnheiten. Wenn Paul Smith – ein Designer, der für gewagte Farbkombinationen bekannt ist – auf Reisen geht, wohnt er immer im selben Hotel und wenn möglich auch im selben Zimmer. Andere buchen für jeden Flug denselben Sitzplatz, halten an bestimmten Tagesritualen fest oder tragen immer die gleiche Kleidung. Steve Jobs soll einen für das ganze Leben ausreichenden Vorrat an schwarzen Rollkragenpullis besessen haben.
Derartige Gewohnheiten schaffen gewissermaßen einen Ausgleich: Sie reduzieren die Unsicherheit in einem Bereich Ihres Lebens und sorgen so dafür, dass Sie in anderen Bereichen mehr davon zulassen können. Manche Menschen erden sich zum Beispiel durch feste, langjährige Beziehungen. Der Mehrfachgründer Sam Yagan, ehemaliger CEO von Match.com und laut „Time“-Magazin einer der hundert einflussreichsten Menschen der Welt, erklärt es so: „Meine besten Freunde stammen alle noch aus der Schulzeit. Ich habe meine Highschool-Liebe geheiratet. Angesichts der vielen Unsicherheiten, mit denen ich bei der Arbeit konfrontiert bin, brauche ich in anderen Bereichen meines Lebens Sicherheit.“
Sie können Ihre Risikotoleranz erhöhen, indem Sie ab und an kleinere Risiken eingehen.
Sie können sich auch gegen Unsicherheit wappnen, indem Sie herausfinden, gegen welche Art von Risiken Sie eine natürliche Abneigung haben und welche Sie möglicherweise reizen. Ein Beispiel: Als Nathan im Silicon Valley an seiner Dissertation arbeitete und Susannah gerade ein Modelabel gegründet hatte, das noch kein Geld abwarf, mussten wir vier Kinder ernähren und lebten immer noch von Studiendarlehen unter beengten Verhältnissen auf dem Universitätscampus. Eines Tages sagte Nathan beim Lunch zu seiner Mentorin Tina Seelig: „Seien wir doch mal ehrlich: Wenn ich den Mut dazu hätte, würde ich Unternehmer werden. Aber ich bin einfach nicht risikofreudig genug.“ Tina war da anderer Meinung. Sie erklärte, dass es viele Arten von Risiken gebe: finanzielle, intellektuelle, soziale, emotionale, körperliche und so weiter. In Nathans Situation sei es eine absolut kluge Entscheidung, finanzielle Risiken zu vermeiden, indem er eine akademische Laufbahn einschlug. Intellektuelle Risiken gehe er ja ohnehin ständig ein.
Letztlich geht es vor allem um eines: Wenn Sie wissen, welche Art Risiken Sie gut aushalten können, erkennen Sie auch eher, in welchen Bereichen Sie beherzt Neues wagen sollten. Und wenn Sie wissen, mit welchen Risiken Sie nicht so gut umgehen können, hilft Ihnen das, sich darauf vorzubereiten. So können Sie sie mit mehr Selbstvertrauen und Zuversicht angehen.
Ein anderer Aspekt ist nicht weniger wichtig: Sie können Ihre Risikotoleranz erhöhen, indem Sie ab und an kleinere Risiken eingehen, möglicherweise auf Gebieten, die gar nichts miteinander zu tun haben. Nehmen wir Piet Coelewij, einen Topmanager, der früher unter anderem bei Amazon und Philips gearbeitet hat. Als er überlegte, seine Konzernkarriere aufzugeben, um das Europa-Geschäft von Sonos – damals noch ein Start-up – zu begründen, fing er gleichzeitig mit dem Kickboxen an. Coelewij beschreibt sich selbst als „von Natur aus eher ängstlich“. Das Kickboxen half ihm, sich für den Umgang mit potenziell gefährlichen Situationen zu stählen. Dies wiederum ließ ihn „generell sicherer werden – und auch entscheidungsfreudiger in Situationen mit dünner Informationsbasis“, sagt er rückblickend. „Sobald die Angst weniger wird und der Mut wächst, entsteht eine Aufwärtsspirale, die dazu führt, dass man immer besser wird.“
3. Tun Sie etwas
Aktiv zu werden ist einer der wichtigsten Aspekte im Umgang mit Unsicherheit, denn Sie lernen mit jedem Schritt etwas hinzu. Untersuchungen der US-Wirtschaftswissenschaftler Timothy Ott und Kathleen Eisenhardt zeigen, dass die allermeisten Erfolge auf einer Folge kleiner Schritte basieren, nicht auf großen Sprüngen oder Gewaltanstrengungen. Klein anzufangen kann wesentlich effektiver sein und macht weit weniger Angst als der Versuch, alles auf einmal zu stemmen.
Jenn Hyman und Jenny Fleiss studierten noch an der Harvard Business School, als sie die Idee hatten, mit Rent the Runway Designerkleider online zu verleihen. Die beiden fingen jedoch nicht damit an, einen Businessplan aufzustellen, Gelder zu akquirieren und dann so schnell wie möglich zu wachsen. Sie machten zunächst einen kleinen Schritt: Sie besorgten sich ein paar Kleider, richteten vor einer großen Tanzveranstaltung auf dem Harvard-Campus einen Dressing Room ein und prüften, ob das Angebot überhaupt ankam. Schritt für Schritt bauten sie so ein großes, erfolgreiches Unternehmen auf.
Manchmal muss man extrem lern- und experimentierfreudig sein, um eine klare Sicht auf die nächsten Schritte zu gewinnen. Unternehmer stehen ständig vor solchen Herausforderungen. Studien zu den effektivsten Programmen von Start-up-Accelerators zeigen, dass Gründer vor allem so schnell wie möglich mit vielen Menschen mit unterschiedlichem Background ins Gespräch kommen sollten – statt ihre Ideen aus Angst vor geistigem Diebstahl für sich zu behalten. Führende Accelerators zwingen Jungunternehmer oft, sich in nur einem Monat mit mehr als 200 Personen zu treffen, darunter auch solche, die aus einem scheinbar komplett anderen Bereich kommen.
Fokussieren Sie sich auf Ihrem Weg zum Erfolg mehr auf Werte als auf Ziele.
Unschätzbarer Input kommt manchmal von völlig unerwarteter Seite. Der Gründer einer neuen Plattform zur Unterstützung von Wohltätigkeitsorganisationen (etwa Kirchengemeinden) sträubte sich zunächst gegen die Feedbacksitzung, die sein Accelerator mit dem Vice President (VP) Marketing des „Playboy“ vereinbart hatte. Zu seiner großen Überraschung erwies sich der VP nicht nur als Kirchgänger, sondern gab ihm auch einige der wertvollsten Ratschläge, die er bis dahin erhalten hatte.
Generell sollten Sie sich auf Ihrem Weg zum Erfolg mehr auf Werte fokussieren als auf Ziele. David Heinemeier Hansson hält Ziele für „hemmend“. Der Schöpfer des Webframeworks Ruby on Rails und Mitbegründer mehrerer Start-ups wie Basecamp und Hey.com glaubt, dass es nicht funktioniert – ja sogar kontraproduktiv sein kann –, sich Ziele zu setzen. „Ob man zehn Millionen Dollar schafft oder nicht, hat nichts damit zu tun, dass man sich das zum Ziel gesetzt hat“, erklärt er. Wenn Sie stattdessen immer Ihre Werte im Blick haben (wozu für ihn das Programmieren herausragender Software, faire Behandlung von Mitarbeitenden und ethisches Handeln am Markt gehören), dann haben Sie das nötige Selbstvertrauen, die entscheidenden Schritte zu tun. Die Reaktion der Umwelt spielt dabei keine Rolle. Sie haben ja schließlich selbst definiert, was Erfolg für Sie bedeutet. Selbst wenn ein großes Projekt scheitert, so Heinemeier Hansson, „würde ich immer auf den Weg zurückblicken – auf die zwei Jahre und Millionen von Dollar, die wir in die Entwicklung dieser Sache gesteckt haben – und mich dabei richtig gut fühlen.“
Diesem Ansatz blieb er auch treu, als Apple exorbitante App-Store-Gebühren für sein jüngstes Projekt Hey.com erheben wollte und damit drohte, den E-Mail-Dienst kurz nach dem Start zu schließen. Heinemeier Hansson gesteht, selbst er habe Angst vor der Unsicherheit gehabt. Aber sein Fokus auf Werte statt auf Ziele – insbesondere auf Fairness in der IT-Branche – „gab uns die Freiheit, uns mit aller Kraft zu wehren“. Das Ganze entwickelte sich zu einem Sammelbecken für Unternehmer. Und die Presseberichte, die daraus resultierten, waren „die beste Launch-Kampagne, die wir uns hätten vorstellen können“.
4. Sorgen Sie für sich
Ben Feringa hält Unsicherheit für die Voraussetzung wissenschaftlicher Entdeckungen. Das bedeute, dass man „mit der Frustration, die unweigerlich dazugehört, gut umgehen können muss“, sagt der niederländische Chemiker, der für seine Arbeit mit molekularen Maschinen (die eines Tages Nanoroboter antreiben, Rohre reparieren oder Krankheitserreger abtöten könnten) den Chemie-Nobelpreis erhielt. Sein Ansatz umfasst einerseits emotionale Hygiene, also die Pflege von Emotionen, damit diese nicht zu lähmenden Selbstzweifeln oder unproduktivem Grübeln werden. Andererseits empfiehlt er Realitätsprüfungen, die einem klarmachen, dass Scheitern nur Teil des Prozesses ist.
Scheitern tut weh, gibt Feringa zu. Auch er erlaube sich, frustriert zu sein, selbst über mehrere Tage hinweg. Aber dann reiße er sich am Riemen und frage sich: Welche Erkenntnisse kann ich daraus gewinnen? Was ist der nächste Schritt, den ich tun kann? Bewusst oder unbewusst setzt er eine der zahlreichen Brillen auf, die Menschen dabei helfen können, Rückschläge aus einer neuen Warte zu betrachten: die Lernbrille etwa (Was kann ich daraus lernen?), die Brille der Dankbarkeit (Was steht mir noch zur Verfügung? Statt: Was habe ich verloren?), die Timing-Brille (Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, aber vielleicht wird er noch kommen.) und unser Favorit, die Herausforderungsbrille (Eine Heldin oder ein Held wird nur, wer Hindernisse überwindet).
Die von uns untersuchten Wissenschaftler, Entwickler und Unternehmer haben eine weitere Methode zum Umgang mit Unsicherheit entwickelt: Sie konzentrieren sich auf die Menschen und Dinge, die ihnen wichtig sind. Wenn man sich an das hält, was einem wirklich wichtig ist, kann man alles überstehen – nicht nur die Angst vor potenziellen Verlusten, sondern auch den Schmerz realer Verluste.
Ein gutes Beispiel sind Jos und Alison Skeates. Das britische Ehepaar gründete eine kleine Kette von Schmuckgeschäften, eröffnete Läden in drei Londoner Stadtteilen – Clerkenwell, Notting Hill und Chiswick – und kümmerte sich gleichzeitig um die beiden kleinen Töchter. Doch dann traf sie eine Katastrophe nach der anderen: Zuerst hielten Bauarbeiten rund um das Geschäft in Notting Hill die Kundschaft fern. Als Nächstes ließ die Finanzkrise 2008 die Umsätze einbrechen, und – noch viel schlimmer – bei Alison wurde eine aggressive Krebserkrankung diagnostiziert. Sie mussten zwei Geschäfte schließen und Insolvenz anmelden. Doch sie überstanden diese schlimmen Zeiten, weil sie sich immer wieder bewusst machten, dass ihre Liebe und ihre Familie wichtiger waren als alles Geschäftliche.
Langsam besserte sich Alisons Gesundheitszustand, und der Krebs ging in Remission. Sie machten den kleinen Laden in Clerkenwell wieder auf und zahlten alle Schulden zurück, wurden sogar als Jewellery Boutique of the Year ausgezeichnet. Außerdem entdeckten sie für sich ein neues, bedeutsameres Ziel: Sie wollten eine der ersten zertifizierten B-Corp-Schmuckwerkstätten Großbritanniens werden, die ökologische und soziale Nachhaltigkeit großschreiben.
Letztlich stärkte die Umstellung auf nachhaltigen Schmuck sie selbst und ihr Business. Vor Kurzem entschied Jos sich, noch einmal zu studieren und seinen Master in Sustainability zu machen. Natürlich fragte er sich, ob er jetzt – nach mehr als 30 Jahren im Berufsalltag – die hohen Anforderungen des Studiengangs würde erfüllen können, parallel zur Leitung des Schmuckgeschäfts. Das Positive an dieser Unsicherheit? „Ich habe ganz viel Interessantes und Inspirierendes gelernt, und unser Umsatz ist gestiegen.“ Zwar haben er und Alison nicht das schicke Schmuckimperium aufgebaut, das sie sich vorgestellt hatten. Aber ihr Leben ist glücklicher und reicher – sicher nicht zuletzt aufgrund der vielen Herausforderungen.
Die Fähigkeit, Rückschlägen und Niederlagen standzuhalten – auch als Resilienz bezeichnet –, ist wichtig. Doch wir plädieren dafür, noch mehr zu tun: dass wir lernen, Unsicherheit als Chance zu sehen. Es gibt nur einen Weg, uns neue Möglichkeiten zu erschließen, und der führt durch das Tor des Unbekannten. Dies muss keineswegs ein schmerzhafter Prozess sein. Sie müssen nur daran glauben, dass Sie es schaffen können. Wir hoffen, unsere Tipps helfen Ihnen, das transformative Potenzial von Unsicherheit zu erkennen – und diese Inspiration auch an andere weiterzugeben. © HBP 2022
Autoren
Nathan Furrist Professor an der französischen Wirtschaftshochschule Insead und Co-Autor von „Innovation Capital, Leading Transformation“ und „The Innovator’s Method“.
Susannah Harmon Furrist eine in Paris ansässige Unternehmerin. Zusammen mit ihrem Mann Nathan Furr hat sie das Buch „The Upside of Uncertainty“ (Harvard Business Review Press 2022) geschrieben, auf dem dieser Artikel basiert.
Dieser Beitrag erschien erstmals in der August-Ausgabe 2022 des Harvard Business managers.
