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Klimakrise, Generationenkonflikte und Zukunftsangst: Eine „Halbinsel“ als Übergangszeit

Veränderungen geschehen immer an den Rändern, nie in der Mitte – doch aus ihr kommt oft jene Energie, die nach außen drängt und Grenzen verschiebt. Das zeigt auch der neue Roman von Kristine Bilkau, der zugleich ein anderes Bild der Nachhaltigkeit vermittelt und für den die Hamburger Autorin im März mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde.

Linn hatte die Halbinsel im Norden von Schleswig-Holstein vor einigen Jahren verlassen, um die große Welt zu retten und Ideale verwirklichen. Sie studierte Umweltwissenschaften in Freiburg, dem schottischen Edinburgh und dem schwedischen Lund, engagierte sich in schwedischen und rumänischen Wäldern als Klimaaktivistin, bevor sie ihre erste Stelle bei einem Unternehmen antrat, das weltweit Aufforstungen und Klimatagungen organisiert sowie Öko-Hotels betreibt.

Während des Vortrags bei einem Umweltkongress erleidet sie einen Schwächeanfall. Zuerst fährt sie für eine Woche zu ihrer Mutter, doch dann gibt sie ihre Wohnung in Berlin auf und bleibt für längere Zeit. Ihre Mutter, fast fünfzig, leitet eine Bibliothek in der nahen Kleinstadt und lebt noch immer hier allein in einem kleinen Haus an der Nordsee (seit zwanzig Jahren ist sie Witwe) und geht von einer erfolgreichen Karriere der Tochter aus, die seit fünf Jahren fort ist. Plötzlich zieht die Tochter wieder bei der Mutter ein, weil sie sich nach Ruhe sehnt. Inzwischen haben sie auch wieder einen gemeinsamen Alltag, doch ihre Perspektiven auf die andere und die Welt haben sich verändert.

Das zeigen auch ihre Wanderungen in der Weite und Stille des Wattenmeers. Der Nachbar Levin ist fasziniert davon: „Das ganze System, die Organismen, die Geschichten dazu. Zum Beispiel die Krebse, denen ihr Panzer zu klein wird“, sagte er. „Sie müssen ihn loswerden und warten, bis ein neuer wächst – und so lange sind sie butterweiches Freiwild. Was für ein riskantes Dasein. Ich habe Sympathie für sie.“ Die Symbolik des Krebes steht auch für die Übergangszeit, in der sich die beiden Frauen befinden.  

Die Nordsee als eine Naturgewalt steht auch für ihre Verletzlichkeit und Widerstandskraft.  

„Gehen, immer weiter gehen, nichts spüren, nicht stehen bleiben, die Füße in den Schlick hineinsinken lassen und wieder rausziehen. Nicht straucheln, nicht das Gleichgewicht verlieren, Schritt für Schritt, gegen den Wind.“ In der Sinnkrise der Tochter sieht die Mutter auch eine Chance für sich. Sie wird wieder stärker und neugieriger: „Wie sehr ich mein Leben heruntergedimmt habe in den vergangenen Jahren, denke ich nun. Wie hatte mir das passieren können? Ich stehe auf, atme einmal tief durch und frage mich, was ich am liebsten tun würde, ich, heute, jetzt.“

Mutter und Tochter ringen vor dem Hintergrund der Klimakrise um Verständigung: „Einerseits tut man alles, um sein Kind zu beschützen und drumherum passieren Dinge wie die Klimakrise, auf die wir alle einwirken. Und davor können wir unsere Kinder nicht schützen“, sagt die Autorin Kristine Bilkau in einem Interview. Schicht um Schicht wird in ihrem Roman „Halbinsel“ etwas freigelegt, das auch ein anderes Bild von Nachhaltigkeit offenbart, in dem sich viele Menschen wiederfinden, die sich in ihrer jeweiligen Rolle eingerichtet haben und plötzlich einschneidende Veränderungen bewältigen müssen.. Annett funktionierte – auch um ihrer Tochter eine gute Zukunft zu ermöglichen. Sie fürchtet sich allerdings vor Entscheidungen wie dem Hausverkauf: „Wo würde die Einsamkeit lauern? Hinter der Veränderung oder dem Vertrauten?“

Nach dem Einzug ihrer Tochter fragt sie sich, was für eine Mutter sie jetzt ist. Wieder übernimmt sie die Rolle der Fürsorgenden, die erst sehr viel später enttäuscht erfährt, dass ihre Tochter bereits vor dem Vortrag ihre Stelle gekündigt hat. „[D]as Großziehen eines Kindes glich einem Bergaufstieg, mit aller Kraft hatte ich meine Tochter hochgehievt, um ihr die Chance zu geben, weiterzukommen als ich. Damit sie es leichter haben würde, bei allem, was ihr wichtig wäre. Und sie? Ließ sich einfach wieder herunterrutschen, hockte sich neben mich und sagte, zu anstrengend, und außerdem – nicht so wichtig.“  

Linn zieht sich aus ihrem bisherigen Leben zurück: Sie wollte die Welt retten und ist nun selbst in Not.

Müde und lustlos verbringt sie viel Zeit in ihrem alten Kinderzimmer. Die Mutter kann ihre Mutlosigkeit und Erschöpfung zunächst nur schwer akzeptieren, entwickelt mit der Zeit aber ein gutes Gespür für die Bedürfnisse ihrer Tochter: Die imaginierten Kommentare ihres verstorbenen Ehemanns Johan sind nichts anderes als ihre innere Stimme, die ihr hilft, di jüngsten Ereignisse nicht überproportional viel Gewicht beizumessen, sondern Ereignisse in längeren Zeiträumen zu betrachten und sich ein Urteil zu bilden: „Warum denkst du so viele Schritte im Voraus?, hörte ich Johan sagen. Sei doch fürs Erste froh, dass sie Energie hat, überhaupt etwas zu tun.“

Auf der „Halbinsel“ ohne Namen geht ihr auch das Wort Halbwahrheit durch den Kopf: „Dem Kind etwas vorenthalten, einen Teil der Geschichte, der Umstände, der Realität. Der Begriff an sich ist eigentlich schon täuschend und irreführend…. Halbwahrheiten können keine Wahrheiten sein, auch keine halben.“ Die Wahrheit erschließt sich durch die Erfahrungen der Tochter, die sich nach einer „Sprache der Aufrichtigkeit“ sehnt - im öffentlichen und politischen Miteinander, im privaten Raum, bei ihrer Mutter und im großen Nachhaltigkeitskontext, der häufig mit dem Begriff „authentisch“ verbunden ist. Linn kann damit nicht viel anfangen. Denn Wellen von Marketingmaßnahmen ohne Berücksichtigung einer nachhaltigen Relevanz haben zu einer Überschwemmung geführt, die den Begriff der Authentizität verwässert haben.  

Sie erkannte, dass in der Umweltagentur, für die sie arbeitete, alles auf Lügen aufgebaut war.  

„… das, was dort dargestellt und besprochen wird, deckt sich nicht mit dem, was wir wirklich tun. Ich brauchte ein paar Wochen, um das zu durchschauen.“ Auch, dass zur Holding nicht nur ein Hotel, sondern auch eine Charterfirma für Privatflugzeuge gehört. Scharfe Kritik übt sie vor allem an den Lügen von vermeintlich wohltätigen Firmen und Organisationen, die Moral und ihre Inszenierung zum Selbstzweck werden lassen: „Sie treten als Wohltäter auf, während sie aus dem größten Notstand unserer Zeit ein Geschäftsmodell machen.“

In ihrem Vortrag heißt es dazu: „Die Performance von Wohltätigkeit, während es im Gewinnmaximierung geht, ist Hoffnungskitsch – aber vor allem eine Ablenkung davon, was wirklich geschieht, zu wessen Vorteil und zu wessen Nachteil.“ Sie denkt auch an das Theaterstück „Ein Volksfeind“ (1882) von Henrik Ibsen, der vom Kurortarzt Dr. Thomas Stockmann handelt: Er entdeckt, dass das Wasser des örtlichen Kurbades verunreinigt ist und eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit darstellt. Er will die Wahrheit ans Licht bringen und eine Sanierung des Bades durchsetzen, stößt damit aber auf den Widerstand der Stadt, die ihren wirtschaftlichen Wohlstand mit dem Bad verbindet. Die Stadt erklärt ihn schließlich zum „Volksfeind“, weil er die Interessen der Gemeinschaft zu gefährden scheint.

Linn versteht sich ebenfalls als Verkünderin der Wahrheit, deren Aussprache nicht ohne folgen bleiben wird. Die Klimasünden solcher Organisationen und Unternehmen werden mit CO2-Zertifikaten reingewaschen und erwirtschaften mit angeblich ökologischen Vorzeigeprojekten enorme Profite: „Bäume speichern CO2, das ist ja was Gutes. Doch Inverstmentfonds, Firmen und Stiftungen kaufen Wälder und Flächen zum Aufforsten, wo es nur geht. Dier Erde wird inzwischen förmlich abgescannt, auf der Suche nach brauchbarem Land.“

Wer nur an Aufforstungsprojekte bezahlt, dekoriert zudem nur das eigene Schaufenster.

Das macht es schwierig für glaubwürdig ambitionierte Unternehmen, sich abzusetzen von jenen, die eigentlich nur Greenwashing betreiben, indem sie ihren Fokus lediglich auf Ausgleichszertifikate setzen und nicht auf kurzfristige Reduktionen des CO2-Ausstoßes. Aus einem Umfeld der Unaufrichtigkeit konnte Linn keine Kraft mehr beziehen. Ihr Energiehaushalt reichte nicht mehr aus zur Regeneration.

Zu den Energiefressern gehörten auch die täglichen schlechten Nachrichten, die sie mutlos machten. Auch der Hoffnungsschimmer - ein Online-Seminar eines Professors mit dem Titel „Die Pandemie als Klimachance“ – trübte sich rasch wieder ein: Im ersten Corona-Jahr 2020 sanken die Treibhausgasemissionen um etwa 80 Mio. t CO2_eq. Sie lagen damit etwa 42,3% unter dem Niveau von 1990. Etwa zwei Drittel des Rückgangs ist auf die Corona-Wirtschaftskrise zurückzuführen, aber danach stiegen sie wieder an. Alle Begriffe um Nachhaltigkeit scheinen ihr verbraucht zu sein.

Umso klarer wird ihr die Notwendigkeit des Handelns – im besten Wortsinn.

Um die aktuellen Probleme und Herausforderungen „anzupacken" und nicht nur darüber zu reden, sollten wir in der Lage sein, im Kleinen ans Werk zu gehen und zu handeln – sonst können wir auch die großen Aufgaben nicht bewältigen. Die Arbeit in der kleinen Dorfbäckerei auf der Halbinsel symbolisiert für Linn das engagierte Tun vor Ort, bevor sie wieder in die Welt reist. Ohne Handwerk können wir auch technologische Möglichkeiten nicht nachhaltig nutzen, denn dazu braucht es Können und Meisterschaft, die sich aus Übung und Wiederholung speisen. Schon als Kind hielt sie lange an einer Sache fest, wollte abends immer die eine Geschichte erzählt bekommen. „In der Wiederholung“, erkannte die Mutter, „schien für Linn eine Art Geborgenheit zu liegen.“

Der Roman - mehr als nur eine Mutter-Tochter-Geschichte – umschließt den Kern echter Nachhaltigkeit: Sich auf das Machbare und auf einen unaufgeregten Pragmatismus zu konzentrieren, auf Aktivitäten, die wir selbst gestalten können. 

Das Buch:

  • Kristine Bilkau: Halbinsel. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2025.

Weiterführende Informationen:

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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