Könnte sich Deutschland im Ernstfall selbst versorgen?
Krieg in Europa, Klimawandel, Corona und Zollstreit haben gezeigt, wie fragil globale Lieferketten für Agrargüter sind. Wie ließe sich die Abhängigkeit von Importen verringern?
Düsseldorf. München zum Beispiel. Sollten in der Bundesrepublik die Lebensmittel knapp werden, weil irgendein Krieg, eine Katastrophe, was für eine Krise auch immer, Lieferketten reißen lässt, wäre München theoretisch fein raus. Und das Umland der bayerischen Landeshauptstadt auch. Denn München, der Süden Bayerns sowie Schwaben und Niederbayern können, was längst nicht allen Regionen in Deutschland gelingt: Sie könnten sich im Fall der Fälle selbst versorgen – hätten sogar noch etwas für darbende andere Landstriche übrig.
So hat es das Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (Zalf) im Auftrag des Bundestagsabgeordneten Karl Bär (Die Grünen) ausgerechnet. Bei rein konventioneller Bewirtschaftung läge der Selbstversorgungsgrad bei 160 Prozent mit einem Radius von 114 Kilometern um München. Für rein ökologische Bewirtschaftung immerhin noch 117 Prozent. Und selbst die Anbaufläche für Hopfen, den es für das mehr oder weniger lebensnotwendige bayerische Bier braucht, könnte erhalten bleiben.
Ein Gedankenspiel – oder nicht doch etwas mehr?
Jahrzehnte war die Versorgung mit Lebensmitteln in Deutschland kein Thema. Im Gegenteil. Dank Importen aus der ganzen Welt sind Nahrungsmittel erschwinglich und selbst saisonales Obst und Gemüse das ganze Jahr verfügbar.
Als EU-Kommissarin Hadja Lahbib dem Handelsblatt vor wenigen Wochen empfahl, die Europäer sollten alle kleine Prepper werden, war die Aufregung entsprechend groß. Doch tatsächlich möchte Brüssel, dass die Menschen einen Notvorrat für 72 Stunden anlegen. Und auch das deutsche Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, empfiehlt: Jeder Bundesbürger sollte 3,5 Kilo Mehl, Kartoffeln oder Reis, vier Kilo Gemüsekonserven und Hülsenfrüchte, 2,6 Kilo Milchprodukte, 2,5 Kilo Obst und 1,5 Kilo Fleisch, Fisch und Eier zu Hause vorhalten. Das reiche für zehn Tage.
Denn die Behörden glauben: Kurzfristige Lieferausfälle werden wahrscheinlicher. Versorgungskrisen wie die Corona-Pandemie oder wie zu Beginn des Ukraine-Kriegs haben gezeigt, wie schnell globale Lieferketten reißen. Und noch einschneidender als geopolitische Krisen ist der Klimawandel: Wetterextreme und lange Dürrephasen erschweren den Anbau traditioneller Nutzpflanzen und führen immer öfter zu Ernteausfällen in Deutschland und Lieferproblemen bei Importen. Gerade erst haben Überschwemmungen die Tomatenimporte aus Spanien reduziert.
Die Beratung BCG warnt: Die weltweit produzierte Menge von 15 wichtigen Anbaupflanzen, die für 70 Prozent des globalen Kalorieneinnahme stehen, könnte durch den Klimawandel bis 2050 um bis zu 35 Prozent sinken. Gleichzeitig eröffnen sich durch die Klimaerwärmung Chancen: Nutzpflanzen, die bisher importiert werden mussten, gedeihen teilweise auch in unseren Breiten.
Was also wäre, wenn Lebensimporte nach Deutschland nicht nur wenige Tage sondern längerfristig ausfallen? Könnte sich Deutschland wie München im Krisenfall mit Lebensmitteln selbst versorgen? Und wenn nicht, wie könnte das gelingen? Ein Szenario.
„Für Brot, Pommes und Schnitzel ist gesorgt“
Agrarökonom Matin Qaim, Direktor des Zentrums für Entwicklungsforschung der Universität Bonn, rät zunächst zu einer ruhigen Analyse der Lage: „Die meisten Grundnahrungsmittel produziert Deutschland selbst.“ Trotzdem rät er: Im Angesicht der geopolitischen Bedrohungen und des Klimawandels sollte jede Nation ihre Bezugsländer stärker diversifizieren. Es sei keine gute Idee, ein Agrargut nur von ein bis zwei Ländern zu importieren, weil es dort am günstigsten sei.
Und tatsächlich gilt der Satz, die Versorgung ist sicher, vor allem für Grundnahrungsmittel. Die Deutschen müssten ihren Ernährungsplan schon deutlich umstellen, wollten sie sich ausschließlich von Lebensmitteln aus der Heimat ernähren.
Zwar sagt Qaim: „Von zwei Monaten ohne Kaffee werden wir nicht sterben.“ Wer aber die Reaktionen mitkriegt, was los ist, wenn eine Schulmensa mal zwei Tage das Schnitzel streicht, ahnt, welche Debatten Deutschland in einem solchen Fall bevorständen.
Die Rechnung jedenfalls ist zunächst einfach: Ein Landwirt ernährt in Deutschland 147 Menschen. Das ist im Vergleich zu früher enorm, reicht aber nicht aus, um alle Deutschen zu versorgen.
Im Schnitt liegt der Selbstversorgungsgrad von Nahrungsmitteln bei 87 Prozent. Er lag schon deutlich höher.
Deutschland hatte 2024 beim Außenhandel mit Lebensmitteln und Agrarprodukten ein Rekorddefizit von 21,5 Milliarden Euro, 6,5 Prozent mehr als im Vorjahr, zeigen Schätzungen der deutschen Agrarexportorganisation Gefa. „Deutschland verlässt sich immer mehr darauf, dass andere Länder und Weltregionen für uns Lebensmittel produzieren“, konstatiert die Gefa.
„Für Brot, Pommes und Schnitzel ist gesorgt“
Je nach Lebensmittel ist der Grad der Selbstversorgung sehr unterschiedlich: Bei Zucker, Kartoffeln, Fleisch, Trinkmilch, Weizen und Gerste ist Deutschland Selbstversorger - heimische Landwirte produzieren also in normalen Jahren mehr als im Inland verbraucht wird. Anders sieht es bei Eiern, Gemüse, Obst und Fisch aus.
Hier kann die Bevölkerung ohne Einfuhren nur teilweise versorgt werden. „Für Brot, Pommes und Schnitzel ist gesorgt. Für fast alle Gemüse und den Obstsalat zum Nachtisch sind wir hingegen auf Importe angewiesen“, formuliert es das Bundeslandwirtschaftsministerium (BMEL).
Komplette Autarkie bei Lebensmitteln hält Agrarökonom Qaim auch für eine Utopie: „Es macht wenig Sinn, alles im eigenen Lande anzubauen. Zumal dies das Risiko für Engpässe durch wetterbedingte Ernteausfälle stark erhöht.“
Denn auch Anbaupflanzen, bei denen der Selbstversorgungsgrad über 100 Prozent liegt, sind durch den Klimawandel bedroht. Das aktuelle Frühjahr war das wärmste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen 1881. Zugleich war es ein Frühling mit extremer Trockenheit - vor allem im Nordosten. Im Schnitt fiel laut Deutschem Wetterdienst nur die Hälfte der üblichen Regenmenge.
Schädlinge vermehren sich durch Klimawandel
Durch die Klimaveränderungen vermehren sich Schädlinge - auch immer mehr invasive Arten. So führte etwa die Schilf-Glasflügelzikade, die bakterielle Krankheiten überträgt, zu starken Ernteverlusten bei Zuckerrüben. 2025 dürfte ein Drittel der Anbaufläche befallen sein.
„Die Krankheiten betreffen mittlerweile auch weitere Kulturen wie Kartoffeln oder Möhren“, erklärt Georg Vierling, Leiter Zuckerrübenanbau und neue Pflanzen bei Südzucker. Auch Rote Bete, Rhabarber und Sellerie sind befallen, Zwiebeln und Kohl bedroht.
Bei Gemüse und Obst ist Deutschland besonders abhängig von Importen. Lediglich bei Rot- und Weißkohl übertrifft die Erzeugung den Bedarf. Bei Spargel erreicht die Selbstversorgung 75 Prozent, bei Speisezwiebeln 70 Prozent und bei Möhren 79 Prozent.
Die Tomate, das mit Abstand beliebteste Gemüse der Deutschen, stammt nur zu knapp vier Prozent aus heimischem Anbau. Die meisten Tomaten kommen aus den Niederlanden, gefolgt von Spanien, Marokko und Belgien.
Jeder zweite Apfel stammt aus dem Ausland. Bei anderen Obstsorten ist die Selbstversorgungsrate noch niedriger. Bei Erdbeeren liegt sie bei gut 40 Prozent.
Bio-Landwirtschaft senkt Selbstversorgung
Und dann ist da noch die Frage der Anbauart. Ist das Ziel die maximale Selbstversorgung, dann schneidet der bei vielen Deutschen zunehmend beliebte Bioanbau eher schlecht ab. „Bioanbau würde die Selbstversorgungsrate senken, weil für dieselbe Erntemenge mehr Ackerfläche benötigt wird“, erklärt Agrarökonom Qaim.
Deutschland müsste mehr importieren und könnte weniger exportieren. „Wenn nicht in Deutschland, dann wird im Ausland dafür eine Naturfläche in Acker umgewandelt.“
Bisher werden gut elf Prozent der deutschen Anbauflächen ökologisch bewirtschaftet. Steigt der Bio-Anteil, wie je nach Bundesland politisch gewollt, auf 40 Prozent, könnte sich Deutschland mit den wichtigsten Getreidekulturen nicht mehr komplett selbst versorgen. Das ergaben Berechnungen des Industrieverbands Agrar (IVA), der die Düngemittel- und Pflanzenschutzindustrie vertritt.
Denn auf derselben Ackerfläche könnte nur rund die Hälfte an Weizen oder Kartoffeln wie im konventionellen Anbau geerntet werden. Weniger groß sind die Ertragsunterschiede bei Möhren und Zwiebeln.
Anders als Bio könnte flexitarische Ernährung die Selbstversorgung verbessern: „Wenn die Deutschen weniger Fleisch und Milchprodukte essen, könnten auf der Fläche für Futter stattdessen Hülsenfrüchte, Gemüse und Obst angebaut werden“, sagt Qaim. Dies hat auch Zalf für die Region München errechnet: Wird der Verzehr von tierischen Lebensmitteln halbiert und stattdessen doppelt so viel Gemüse, Hülsenfrüchte und Nüsse konsumiert, könnte der Selbstversorgungsgrad deutlich steigen: bei konventionellem Anbau auf 172 Prozent und bei ökologischem Anbau auf 135 Prozent.
Wichtiges Soja wächst heute in Niedersachsen
Ein Pionier in dieser Hinsicht ist Moritz Bleckwenn, Landwirt in 13. Generation. Auf dem väterlichen Hof in Schellerten bei Hildesheim baut er seit vier Jahren auf 40 Hektar im großen Stil Bio-Sojabohnen für Tofu und Sojamilch an. Die wachsen dank der Erwärmung mittlerweile auch in Norddeutschland. Seine Erfahrungen sind durchweg positiv: „Wir ernten mit 4,5 Tonnen je Hektar genauso viel wie Plantagen in Südamerika.“
Soja habe deutliche Vorteile gegenüber heimischen Hülsenfrüchten, die im Bioanbau bei der Fruchtfolge Stickstoff als natürlichen Dünger in den Boden bringen. „Soja benötigt deutlich weniger Wasser als Erbsen oder Ackerbohnen und kann gut mit einem regenarmen Frühling klarkommen wie in diesem Jahr“, sagt Bleckwenn. Zudem gibt es keine Pilzkrankheiten, die heimischen Hülsenfrüchten Probleme bereiten. Allerdings darf die Bodentemperatur nach der Aussaat Ende April nicht unter zehn Grad fallen.
Soja kommt bei der Versorgung mit Protein eine Schlüsselrolle zu – als Schrot im Tierfutter sowie als Alternative zu Fleisch oder Milchprodukten. Allerdings kann Deutschland nur 3,5 Prozent seines Soja-Bedarfs selbst decken. Martin Miersch, Vorsitzender des Deutschen Sojaförderrings, warnt: „Bei Soja handelt es sich um einen Rohstoff mit strategischer Bedeutung und hoher Importabhängigkeit – vergleichbar mit Erdgas, seltenen Erden, Computerchips und Arzneimitteln.“
Dabei ließen sich etwa 60 Prozent der benötigen Sojamenge in Deutschland anbauen, zeigt eine Studie des Förderrings. Möglich sei das durch den Klimawandel und enorme Fortschritte bei der Sortenzüchtung. Bereits 4500 deutsche Landwirte kultivieren Sojabohnen. Sie kommen laut Miersch mit wenig Pflanzenschutzmitteln und ohne Stickstoffdünger aus.
Oliven und Orangen gedeihen bald in Deutschland
Nicht nur Sojabohnen, auch andere Arten gedeihen künftig in unseren Breiten. Agrarexperte Qaim sagt: „Die Anbaugrenzen von OIiven und Obst wie Pfirsiche oder Zitrusfrüchte werden vom Mittelmeer immer weiter nach Norden wandern.“ In den Tropen dagegen werde es für fast alle Kulturpflanzen extrem ungemütlich.
Einen lokalen Anbau von diversen Nutzpflanzen sieht Qaim positiv. „Aber nicht um Autarkie zu fördern, sondern weil es der Biodiversität dient – beispielsweise mehr Insekten und Vögel. Diverse Agrarlandschaften sind besser für die Natur als riesige Monokulturen mit Weizen oder Mais.“ Diese sind besonders anfällig für Schädlinge und Krankheiten.
Alle Pflanzen in Deutschland anzubauen anstatt dort, wo die natürlichen Bedingungen am geeignetsten seien, verschwende knappe Ressourcen wie Land, Wasser und Energie. „Solche Ineffizienzen müssen wir bei mehr Eigenversorgung als ‚Sicherheitsaufschlag‘ in Kauf nehmen - aber nicht bis ins Extrem der absoluten Autarkie“, betont Qaim.
Resiliente Sorten, Zellkulturen und Fermentation
Wie lässt sich die Landwirtschaft in Deutschland zumindest krisenfester machen?
Agrarökonom Qaim fordert: „Wir brauchen schnellere Innovationen.“ Wichtig seien Pflanzensorten, die besser mit Widrigkeiten klarkommen wie Pilzkrankheiten oder Schädlingen, nicht nur mit Hitze oder Trockenheit. Aber nicht nur genetisch verbesserte Sorten helfen, sondern auch mehr Vielfalt etwa durch Agroforst oder Windschutz durch Bäume und Hecken.
Auch innovative Technologien wie Zellkulturen und Fermentation als Alternative zur klassischen Produktion von Fleisch, Milchprodukten und pflanzenähnlichen Nährstoffen sieht der Agrarökonom sehr positiv. Überall auf der Erde - von der Arktis bis zur Wüste - ließen sich in Bioreaktoren aus Stahl Fleisch, Milch und Eiweiß züchten.
Und selbst für tropische Nutzpflanzen wie Kakao oder Kaffee gibt es regionale Alternativen. Planet A Foods aus München etwas produziert kakaofreie Schokolade aus Hafer, Rübenzucker und Sonnenblumenkernen. Und das Start-up Food Brewer vermehrt echte Kakao- und Kaffeezellen im Bioreaktor.
Noch fehlt vielen dieser Technologien die Zulassung in der EU und die Wirtschaftlichkeit. Doch dies ist nur eine Frage der Zeit. Dann könnte Deutschland bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln etwas unabhängiger vom krisenanfälligen Ackerbau und Importen sein. Ganz so wie heute schon München.
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