© Dr. Alexandra Hildebrandt

Kreativität als Lebensstil

Kreativität ist zu einem Schlagwort der öffentlichen Debatte geworden. Was ist eigentlich „Kreativität“? Etwas geheimnisvoll Mystisches? Nur etwas für Genies und Exzentriker? Oder eine erlernbare Fähigkeit, durch die wir mehr im Leben erreichen können?

Populäre Bücher dazu füllen die Regale in den Buchhandlungen, und in fast jeder Volkshochschule werden Kurse zur Kreativitätsförderung angeboten. Die Wirtschaft verspricht sich von kreativen Mitarbeitenden den dringend erforderlichen Innovationsschub. Hinter dem Begriff sind sehr verschiedene Auffassungen verborgen: Einerseits sind noch die Nachwirkungen des romantischen Geniekults spürbar, andererseits wird gesagt, dass jeder Mensch kreativ begabt ist und Geistesblitze haben kann. Allerdings ist es auch wichtig, die eigenen Potenziale nutzen zu wollen. Ob Gartenarbeit, malen oder schreiben – jeder schöpferische Prozess ist kreativ und trainiert das eigene Kreativitätspotenzial. Es braucht Fleiß, Anstrengung und Beharrlichkeit im Verfolgen eingeschlagener Wege sowie Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen.

Der Ursprung des Wortes kreativ geht auf das lateinische „creare“ (etwas neu schöpfen, erfinden, auswählen) zurück. Der Begriff Kreativität kommt aus dem Französischen „creature“ und aus dem Lateinischen „creatura“ und heißt kreieren, erschaffen, schöpfen. In der biblischen Schöpfungstheologie ist die Kreation, das Erschaffen, etwas, das nur Gott vermag. Häufig wird unter diesem Begriff etwas anderes verstanden. In der Persönlichkeitspsychologie wird von einer Sensitivität (Empfindsamkeit) gegenüber Problemen, von einer Flüssigkeit des Denkens bis hin zu einer Originalität und Flexibilität des Denkens gesprochen.

In seinem Buch „Kleines Kreativitätskompendium“ fasst der Psychologe und Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Norbert Groeben, der Professor für Allgemeine Psychologie und Psycholinguistik an der Universität Heidelberg sowie Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Psychologie und Kulturpsychologie der Universität zu Köln war, den aktuellen Forschungsstand zusammen. Zudem zeigt er anhand historischer Persönlichkeiten, dass Kreativität ein Lebensstil ist, dessen Glück in der Selbstverwirklichung als Überwindung unfruchtbarer gesellschaftlicher Gegensätze besteht.

Bei der Betrachtung von Kreativität reicht seiner Meinung nach die Frage nach der „Idee“ nicht aus. Das in vielen Sprachen beheimatete Wort „Idee“ ist seit dem 17. Jahrhundert in der eingedeutschten Form nachzuweisen (z. B. bei Leibnitz). Die Denkfigur von Idee hat bis heute die Geschichte der Philosophie geprägt. Daneben wandelt sich in der allgemeinen Vorstellung unter dem Einfluss von idéé (franz.) die Bedeutung im 17.Jahrundert zu „geistige, gedankliche Vorstellung“, Gedanke, Begriff – in Anlehnung an Descartes – dann auch zu „Meinung, die man von etwas hat“ (nach Herder), sowie „Grundgedanke einer wissenschaftlichen Arbeit, eines Kunstwerkes, dichterischen Stoff, Plan“ (Goethe). Über diese Entwicklung wird Idee auch ein Wort der Alltagssprache mit der Bedeutung von „Einfall haben, plötzlicher Eingebung“.

Für die Idee selbst werden zwei Kriterien angesetzt: die Neuheit (auch wenn eine Idee nicht völlig neu sein muss) und die Brauchbarkeit. Bereits Poincaré unterteilte im Jahr 1913 den kreativen Prozess in vier Phasen: die Präparation (Vorbereitungsphase), die Inkubation (die Zeit, die gebraucht wird, um zu einer kreativen Idee bzw. Lösung zu kommen), die Illumination (das Aha-Erlebnis), die Elaboration (Ausarbeitung der Lösung). Etwa die Hälfte der Literatur zum Thema Kreativität geht davon aus, dass sie lern- und trainierbar ist. Groeben vertritt allerdings eine andere Position, denn Kreativitätstechniken wie etwa Brainstorming, Brainwriting oder die Technik des Mind Mapping – dies dient lediglich der Flexibilisierung der Inkubationsphase. Kreativitätstechniken helfen, Denkhemmungen zu überwinden und neue Ideen zu entwickeln. Das bedeutet jedoch noch lange nicht, dass man bereit ist, zum Beispiel die Unsicherheit, die mit Kreativität verbunden ist, zu ertragen, oder dass man „paradoxale Eigenschaften“ entwickelt. Kreativität substanziell weiterzuentwickeln ist für Norbert Groeben eher eine Frage der Veränderung des Lebensstils.

  • Kreative verfügen über eine existenzielle Offenheit und eine hohe Ambiguitätstoleranz.

  • Sie führen Dialoge mit der Welt und den Dingen.

  • Sie zeichnen sich durch zweifelnde Selbstsicherheit und sind in der Regel selbst ihre stärksten Kritiker - zugleich aber auch so selbstsicher, dass sie von ihrer Lösung nicht ablassen.

  • Sie haben ein gutes Konzentrationsvermögen und ein richtiges Augenmaß für das Wesentliche.

  • Sie sind in der Lage, unübersichtliche Situationen zu ertragen, ohne ängstlich zu werden.

  • Sie lassen sich von anderen Kulturen und gesellschaftlichen Erscheinungen inspirieren.

  • Sie misstrauen der erstbesten Lösung misstrauen.

  • Ihre Bewegungsfreudigkeit ist auch Ausdruck ihrer geistigen Mobilität.

  • Stille ist für viele von ihnen eine Ressource für kreative Denk- und Lernprozesse.

Frank X. Barron, dessen Werk die Kreativitätspsychologie stark beeinflusst hat, fand zudem heraus, dass besonders kreative Personen zwar hohe psychopathologische Ängste haben, aber auch eine große Ich-Stärke. Menschen, die starke Ängste haben, haben keine große Ich-Stärke, und Menschen mit großer Ich-Stärke haben nur wenig Ängste. Kreative vereinen die beiden gegensätzlichen Eigenschaften in sich: Sie verfügen wegen ihrer Ängste über eine hohe Sensibilität und können diese dank ihrer Ich-Stärke konstruktiv verarbeiten. Barrons Ergebnisse öffneten, so Groeben, den Blick für die paradoxalen Verbindungen, für die Kombination gegensätzlicher Eigenschaften, die das Zentrum der kreativen Persönlichkeitsstruktur bilden.

  • Auf Grundlage der Kreativitätstheorien von Joy Paul Guilford wird zwischen konvergentem und divergentem Denken unterschieden:

  • Konvergentes Denken beschreibt lineares, streng rational-logisches Denken hin zu der einen richtigen Lösung.

Natürlich liegt es nach Groeben nahe anzunehmen, dass Kreativität mit divergentem Denken zusammenhängt bzw. mit diesem identisch ist. Für das Finden neuer Ideen in der Inkubationsphase ist dies auch richtig. Werden jedoch die Brauchbarkeitsaspekte mit einbezogen (die Phasen der Präparation und der Elaboration), wird deutlich, dass auch konvergentes Denken notwendig ist. Entsprechend ist es notwendig, konvergent zu denken und alle notwendigen Informationen zu sammeln. Ebenso in der Ausarbeitung ist konvergentes, zielgerichtetes Denken erforderlich: Die Ideen müssen so ausgearbeitet werden, dass sie verständlich wird. Der kreative Prozess benötigt eine Verbindung der beiden gegensätzlichen Denkstile.

Damit ist dieses Buch ein wichtiger Impulsgeber für die aktuelle Debatte zum Thema Bauchgefühl. Viele Autor:innen des Herausgeberbandes „Bauchgefühl im Management“ betonen, dass sie erst einmal eine Nacht darüber schlafen, bevor sie eine wichtige Entscheidung fällen. Das ist für Norbert Groeben ein „Prinzip des Lebens“: Ohne Dunkelheit gibt es keine Geistesblitze. Wer nachdenkt und in sich hineinhorcht, verschließt auch häufig unbewusst die Augen, „damit aus der Dunkelheit neue Ideen aufsteigen.“ Bekanntermaßen tappten auch viele Erfinder zuerst im Dunkeln, bevor ihnen das berühmte Licht aufging. Auch spielt das im Herausgeberband zum Bauchgefühl erwähnte magische Dreieck von Denken, Fühlen, Handeln eine wichtige Rolle bei Groeben, der bemerkt, dass nur über die Verbindung von Gefühl und Verstand, von Emotion und Kognition die substanzielle Motivation zum Handeln entsteht.

Für Kreativität sorgen meistens die Mutigen mit Anfängergeist, die es wagen, einfach zu „machen“. Es gibt keinen Nachweis, dass dieses angebliche Goethe-Zitat wirklich von Goethe ist. Ihm liegen allerdings Aussagen des schottischen Bergsteigers und Schriftstellers William Hutchison Murray (1913 – 1996) zugrunde, die für alle Kreativen gilt:

Was immer du kannst oder Dir vorstellst,

dass Du es kannst,

beginne es.

Kühnheit trägt Genie,

Macht und Magie in sich.

Beginne jetzt!

Kreativität ist der Motor allen Fortschritts, und deshalb ist die Wirtschaft auf kreative Köpfe angewiesen. Die schöpferische Kraft ist dabei nicht allein die Domäne der Kreativbranche. Sie kann – und sollte auch von Mitarbeitenden ausgehen. Bekanntlich entwickelt sie sich dort am besten, wo Menschen Freiräume haben und ohne Angst vor Fehlschlägen experimentieren können. Und sie gedeiht am leichtesten, wenn Führungskräfte den Mut haben, Lösungen sich entwickeln zu lassen. Die Innovationskraft von Unternehmen ist die entscheidende Kompetenz der Zukunft. Doch sie sind auch in sich geschlossenes Systeme, die sich dadurch auszeichnen, dass sie eigene Strukturen, Abläufe und Rhythmen haben. Kreativ sein innerhalb eines Systems bedeutet, den Mut und die Lust zu spüren, anders zu denken und zu handeln – nur auf diese Weise können unsichtbare Systemgrenzen überwunden oder durchlässiger werden.

Hierarchien, mehrstufige Managementstrukturen und Genehmigungsschritte führen allerdings häufig dazu, dass neue Ideen bereits im Keim erstickt werden – mit der Folge, dass durch den eingeschränkten Blick falsche Entscheidungen getroffen werden. Um kreative Potenziale hier richtig nutzen zu können, ist es wichtig, sie in ein planvolles Vorgehen einzubinden – beispielsweise durch Innovationsmanagement als systematische Planung, Steuerung und Kontrolle von Innovationen in Organisationen. Innovation entsteht vor allem an den Bruch- und Leerstellen unserer Arbeits- und Lebensvorstellungen. Denn das Zwischen ist gerade dort verortet, wo es nicht mehr nur um das Einzelne geht, sondern um die Wechselbeziehung, die Übergänge zwischen dem Einen und dem Anderen. Es beschreibt jenen meist unsichtbaren Ort, an dem Bedeutung, Interpretation und Beurteilung entstehen.

  • Norbert Groeben: Kleines Kreativitätskompendium. Wbg academic, Darmstadt 2022. (Es handelt sich um die gekürzte, aktualisierte und erweiterte Auflage des Bandes „Kreativität. Originalität diesseits des Genialen“, erschienen 2013 im Primus Verlag.)

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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