Antje Neubauer war Topmanagerin bei der Deutschen Bahn, heute ist sie Aufsichtsratsvorsitzende bei der Agentur Syzygy - Pascal Bünning
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Kürzer treten – So gelingt „Downshifting“ ohne Gehaltsverlust

Düsseldorf. Viele hätten sie damals für verrückt erklärt, sagt Antje Neubauer. Bis 2019 war sie Top-Managerin bei der Deutschen Bahn, leitete den Marketing- und den PR-Bereich. Und entschied dann für sich: Ich kündige.

Antje Neubauer wurde damit zur „Downshifterin“. Downshifting (Herunterschalten), das heißt, freiwillig aus einer Führungsrolle auszuscheiden oder beruflich kürzerzutreten.

Das Handelsblatt erklärt, warum das Downshifting keinen Karriereknick bedeuten muss und warum Downshifter sich – anders als Aussteiger – nicht vom Leistungsgedanken distanzieren.

Ein Karrierecoach erklärt außerdem, wie der Schritt zurück sogar ohne Status- oder Gehaltseinbußen funktionieren kann.

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Keine Lust mehr, Chef zu sein? Downshifter sind keine Aussteiger

„In der Mitte des Lebens passiert etwas mit einem, das Bewusstsein und die Prioritäten verändern sich. Auch nimmt man Gesundheit und Endlichkeit anders wahr“, erklärt Antje Neubauer ihre Entscheidungsfindung.

Damit ist sie nicht allein, wie der Kölner Karrierecoach Bernd Slaghuis sagt. „Zu mir kommen häufig Führungskräfte mit viel Berufserfahrung in der Lebensmitte, die viel gesehen und viel erlebt haben. Und sich dann die Frage stellen: Was kommt jetzt noch?“

Mit Blick auf die letzten Berufsjahre reflektierten viele Führungskräfte, was ihnen in dieser Zeit noch wichtig sei. Mit der Erkenntnis: Sie möchten lieber wieder thematisch arbeiten „und die administrativen Aufgaben, die Mitarbeiterführung, abgeben“.

Die Sozialwissenschaftlerin Julia Gruhlich forscht zum Phänomen Downshifting. Sie hat mit zwei Dutzend Menschen, die beruflich heruntergeschaltet haben, Interviews geführt und sagt: „Downshifter sehen sich nicht als Aussteiger, sie verweigern sich nicht grundsätzlich einer Leistungsideologie. Tatsächlich wollen die meisten erwerbstätig bleiben, aber ihr Berufsleben anders gestalten.“

Viele hätten ihre Leistungen in allen Bereichen ihres Lebens, wie im Ehrenamt oder im Sport, sogar explizit hervorgehoben. „Aktiv und engagiert zu sein gehört zum Selbstverständnis dazu.“

Neubauer fiel es nach dem Abschied von der Bahn deshalb zunächst schwer, ohne die ständige Auslastung durch die Arbeit zurechtzukommen.

„Ich bin eine Frühaufsteherin, mein Tag war immer sehr durchstrukturiert, und plötzlich waren Struktur und Arbeit weg. Es fiel mir am Anfang richtig schwer, in Ruhe eine Zeitung zu lesen“, sagt Neubauer.

Zudem hätten Freunde und Bekannte wie gewohnt weitergearbeitet: „Da hat nicht jeden Tag jemand Zeit, einen Kaffee trinken zu gehen.“

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Downshifter spüren starken Rechtfertigungsdruck

Bei vielen Downshiftern kommt ein starker Rechtfertigungsdruck hinzu – sich selbst und anderen gegenüber. „Wir leben noch immer in einer Gesellschaft, in der die Vollzeitbeschäftigung die Norm ist und der Ausbruch daraus als ungewöhnlich gilt“, sagt Sozialwissenschaftlerin Gruhlich.

In durchgetakteten Ausbildungswegen sei eine längere Findungsphase nicht vorgesehen. Nach dem Schulabschluss folge meist direkt die Ausbildung oder das Studium, dann der Job.

„Diese kulturell vorgegebenen Rhythmen können bei einigen Menschen zu einem Entfremdungseffekt führen, wenn sie sich in einem Beruf wiederfinden, den sie eigentlich gar nicht machen wollten. Gerade, wenn viel Zeit und Geld in das Erreichen eines beruflichen Ziels investiert wurde, wollen sie sich dafür rechtfertigen, diesen Status für vermeintlich weniger aufzugeben.“

Das liege auch daran, wie Karriere definiert wird, erklärt Coach Slaghuis. „Viele Downshifter sind mit Ü50 heute in einem Alter, in dem sie sehr klassisch karriereorientiert und leistungsgetrieben aufgewachsen sind. Für sie bedeutet Karriere häufig noch: höher, schneller, weiter.“

Mit seinen Klienten bespricht er, wie das Kürzertreten zu einem logischen und richtigen Karriereschritt werden kann. Karriere bedeutet dann, einen Weg zu wählen, der zu den eigenen beruflichen Werten und Zielen passt.

So gelingt das Downshifting ohne Gehaltsverlust

Zumal das Downshifting nicht zwingend mit einem Status- und Gehaltsverlust einhergehen muss – wenn man den Schritt richtig vorbereitet. „Denkbar ist zum Beispiel ein Schritt zur Seite, von der Führungsposition in eine Expertenrolle hinein“, sagt Slaghuis.

„Aus Arbeitgebersicht ist es doch ein Glücksgriff, wenn ein guter Mitarbeiter mit viel Erfahrung sagt: Er möchte im Unternehmen bleiben, aber in einer anderen Rolle.“ Der Arbeitnehmer sollte in dem Fall aber auch Eigenverantwortung zeigen und eine mögliche neue Position für sich im Unternehmen vorschlagen.

Schwieriger ist da schon ein Wechsel zu einem anderen Arbeitgeber. Schließlich sollte der Eindruck vermieden werden, dass der Downshifter in seiner letzten Position überfordert war und deshalb eine Stufe niedriger wieder einsteigen möchte.

„Deshalb bin ich ein Fan von Klarheit im Anschreiben als Ergänzung zum Lebenslauf, in welchem die Motive für den Wechsel ehrlich dargelegt werden“, empfiehlt Coach Slaghuis.

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Das sind die häufigsten Gründe für Downshifting

Die Gründe für ein Downshifting lassen sich nach den Erkenntnissen von Wissenschaftlerin Gruhlich grob in drei Kategorien einteilen: die Fürsorge, die Selbstsorge und die Sinnstiftung.

Bei der Fürsorge steht die Pflege der Kinder und der eigenen Eltern im Vordergrund. Bei der Selbstsorge die Gefahr eines Burn-outs, eine starke körperliche oder psychische Belastung. Und bei der Sinnfrage geht es um den Wunsch nach beruflicher Erfüllung.

Deshalb findet man den freiwilligen Verzicht auf Einkommen und Status auch in allen Berufsgruppen und Einkommensschichten, so Gruhlich. „Damit ist das Downshifting kein reines Privilegierten-Phänomen. Wobei gut ausgebildete Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Schritt in einen anderen Beruf oder zurück in eine Führungsrolle leichter fällt, weil sie mehr Erfahrungen und Ressourcen haben, auf die sie zurückgreifen können.“

Ex-Managerin Neubauer war das Downshifting nur möglich, weil sie sich im Laufe ihrer Karriere ein komfortables finanzielles Polster aufgebaut hatte. „Neben einer großen Portion Mut, die ich besitze, ist mir sehr bewusst, dass ich in einer privilegierten Position bin, mir überhaupt diese Freiheit schenken zu können“, sagt sie.

Gleichzeitig war ihr schon zum Zeitpunkt der Kündigung klar: „Der Businesswelt komplett den Rücken zu kehren war und ist für mich nie eine Option gewesen. Ich möchte mitdenken und mitgestalten, ich brauche Aufgaben.“

Nach ihrem Ausstieg bei der Deutschen Bahn habe sie viele spannende Angebote bekommen. „Auf der einen Seite ist es ein tolles Gefühl, gewollt zu sein und die Option zu haben, erneut das Ruder in die Hand nehmen zu können und zu gestalten. Da kam die alte Antje wieder durch, die Ehrgeizige, die gerne arbeitet. Auf der anderen Seite habe ich mir mein heutiges Leben neu und anders gebaut, und es macht mich auch glücklich“, sagt Neubauer.

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Der Schritt zurück in die Führungsrolle ist machbar

Vom Downshifting zurück in eine Führungsrolle oder aufgestockte Arbeitszeit zu gehen ist für viele Arbeitnehmer eine Möglichkeit, erklärt Karrierecoach Slaghuis. Da das Downshifting an Lebensphasen gekoppelt sei, in der mehr Kraft für anderes gebraucht werde, könnten sich diese Phasen auch wieder ändern.

Auch Wissenschaftlerin Gruhlich sagt: „Das Downshifting ist keine kategorische Lebensentscheidung. Zukünftig wieder mehr zu arbeiten, zurück in eine Führungsrolle zu gehen – und auch aus dieser erneut auszuscheiden – ist für Downshifter durchaus denkbar.“

Antje Neubauer ist wieder in eine verantwortungsvolle Position eingestiegen, sie ist Aufsichtsratsvorsitzende bei der Digitalagentur Syzygy, hat nebenbei Beiratspositionen übernommen.

Statt im operativen Geschäft unter Zeitdruck zu arbeiten, kann sie nun langfristiger denken. „Das ist sehr befriedigend“, sagt sie. Sie fühlt sich vorbereitet, wach, ausgeglichen und fokussiert. „Früher habe ich oft zu wenig geschlafen, kaum Sport gemacht, in der Stadt gelebt. Jetzt sind Wald und Berge meine neue Heimat, ich schlafe genug und bewege mich viel.“

Forscherin Gruhlich sieht das Downshifting weniger als außergewöhnliche individuelle Entscheidung, sondern mehr als eine Reaktion auf gesellschaftliche Strukturen. „Viele Menschen empfinden eine Unzufriedenheit und Überlastung, weil sie ihren Beruf, ihre Familie und ihre Gesundheit nicht gut miteinander vereinbaren können.“

Für Downshifterin Neubauer hat sich durch ihre Entscheidung eine neue Perspektive auf ihre Karriere ergeben. „Würde ich heute noch einmal in mein Berufsleben starten, mit den Erfahrungen von heute, würde ich mir persönlich auf jeden Fall mehr Zeit schenken. Damit meine ich nicht die Vier-Tage-Woche. Aber nicht zu lange an etwas festzuhalten, was mehr nimmt als gibt. Sich einfach mehr Zeit für Dinge nehmen, die einem Energie schenken.“

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