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Lost in Transformation

Change Management - Agiles Arbeiten gilt als neues heißes Thema im Management. Doch in manchen Unternehmen knallt es beim Wandel gewaltig. Weil die Mitarbeiter nicht gut genug vorbereitet waren. Und das Modell nicht zu jeder Organisation passt.

Von Michael Leitl

In den britischen Kohleminen ging es nach dem Zweiten Weltkrieg zu wie am Fließband. Ein Mann, ein immer gleicher Handgriff – alles streng überwacht vom Management. Diese Folgen der Industrialisierung waren verheerend. Wer konnte, suchte sich einen besseren Job in den neuen Fabriken über Tage. Bei denen, die blieben, pendelte sich der Absentismus bei 20 Prozent ein. Zwar entwickelte sich die Technik des Bergbaus immer weiter – allein die Produktivität stieg nicht wie erhofft. Anders in Haighmoor, einer neuen Lagerstätte in South Yorkshire. Dort organisierten autonome Gruppen Aufgaben und Schichten so, dass sie optimal zu den Bedingungen vor Ort passten. Ein Team aus Psychologen und Soziologen des britischen Tavistock-Instituts untersuchte das Phänomen. Die Wissenschaftler stellten fest, dass Kompetenz, Verantwortung und Aufgabenverteilung in der Hand der einzelnen Arbeiter lagen. Und sie notierten überrascht, dass dies die Kosten, Unfallzahlen und Fluktuation senkte, während es die Qualität und Motivation steigerte.

Noch überraschender als diese spontane Entwicklung zu autonomer Arbeitsorganisation, die es immer wieder in Europa und auch den USA gab, war jedoch deren ebenso plötzlicher Zusammenbruch, den die Forscher untersuchen konnten. Einflüsse von außen, etwa ein Disput wegen unterschiedlicher Gehälter, und Neid auf die vermeintlichen Privilegien der autonomen Gruppen – die sich bemerkenswerterweise auch noch auf gleiche Gehälter verständigt hatten – führten immer wieder zum Rückfall in das konventionelle System aus Befehl und Gehorsam. Der Philosoph Donald Alan Schön prägte für diesen Organisationseffekt den Begriff "dynamischer Konservatismus". Die Mitbestimmung der Belegschaft gehörte damals nicht zu den wichtigsten Aspekten von Führung.

Das ist heute, im 21. Jahrhundert, nicht viel anders. Studie um Studie belegt, dass sich die nachwachsende Generation einen neuen Führungsstil wünscht und dass sich das Management auf diesen einlassen will. Etwa ein Drittel der Führungskräfte in Deutschland empfiehlt solche Methoden, zu denen selbst organisierte Netzwerke ebenso gehören wie das schrittweise Vortasten zur Lösung eines Problems. Die klassische Linienhierarchie lehnen sie ab; Kooperationsfähigkeit ist ihnen wichtig, und Coaching sehen sie als unverzichtbares Werkzeug an.

Entsprechend wird bereits in vielen, vor allem kleineren Unternehmen mit allen möglichen Formen agilen Arbeitens experimentiert: Wo Menschen Computer programmieren, heißt die Methode Scrum; werden Geschäftsmodelle oder Produkte entwickelt, sind Lean Start-up und Design Thinking populär; und Unternehmer, die ihren ganzen Betrieb umkrempeln, finden gefallen an Modellen wie Holokratie oder der sogenannten Teal Organisation.

Sie alle werden jedoch zuweilen mit Widerstand konfrontiert, wie es die Forscher des Tavistock-Instituts beschrieben. So musste Hermann Arnold 2015 auf der Arbeitgeberbewertungsplattform Kununu lesen, in seinem Unternehmen Haufe-Umantis herrsche "Management by Fear". Ausgerechnet bei ihm, der nach allen Regeln der Kunst die Selbstorganisation fördert, bei dem die Mitarbeiter den Chef wählen dürfen, eigenverantwortlich arbeiten und sich eigentlich wie Könige fühlen müssten. Ähnliches wiederfuhr dem Chef des amerikanischen Onlineschuhversenders Zappos, Tony Hsieh. Um den Übergang zur Holokratie zu forcieren, einem auf autonomen Gruppen basierenden Organisationsmodell, stellte er seine Mitarbeiter vor die Wahl: Holokratie oder ein Kündigungsbonus von ein paar Monatsgehältern. 14 Prozent der Mitarbeiter verließen das Unternehmen. Das Medien-Start-up Medium.com verabschiedete sich im März 2016 sogar vom Konzept Holokratie und entwickelt seine Organisation weiter.

Offenbar ist nicht jeder Mensch bereit für die neue Freiheit im Job. Zwar begreifen viele die Notwendigkeit für Veränderungen. Doch agiles Arbeiten auch gut zu praktizieren erfordert mehr als nur Verständnis. So zu arbeiten verlangt persönliche Reife. Das betrifft sowohl die Führungskräfte als auch die Mitarbeiter. Warum fällt es so vielen schwer, eigenverantwortlich zu arbeiten? Warum kommt es immer wieder zu Missverständnissen, zu Streit und schlechten Ergebnissen? Die Gründe liegen oft in Faktoren, die aus Untersuchungen zur Unternehmenskultur und zum Change-Management bekannt sind. Sie machen sich beim Übergang zu agilem Arbeiten nur besonders deutlich bemerkbar.

Die Umstellung vom Angestellten mit Chef zu einer Existenz als Gleicher unter Gleichen ist geprägt von Emotionen. Diese Widersprüchlichkeit ist typisch für die neue Welt. Sie gibt die Freiheit, nach eigenen Vorstellungen zu arbeiten. Gleichzeitig fordert sie jeden Einzelnen, und verlangt von jedem in hohem Maß Engagement, Verantwortlichkeit, Kritikfähigkeit und Reflexionsvermögen. Dass das nicht jedem Mitarbeiter liegt, der in einer bürokratischen Kultur groß geworden ist, liegt auf der Hand.

So wünschen sich auf dem Papier viele Mitarbeiter diese Freiheit. In der Praxis verfallen sie jedoch schnell wieder in das hierarchische Muster – das ist die Schizophrenie des Wandels.

Die große Herausforderung für Arbeitnehmer, vor allem in wissensbasierten Berufen, ist, zu denken und zu handeln wie ein Unternehmer. Das hat fundamentale Konsequenzen in zwei Richtungen: Manager geben Macht und Verantwortung ab; Mitarbeiter müssen lernen, Verantwortung zu übernehmen.

Rational ist dieser Trend ein Selbstläufer. Emotional eher eine Bergetappe. Eine Untersuchung des Roman-Herzog-Instituts kommt zu dem Ergebnis, dass zwar die Führungsliteratur, die Gesellschaft und explizit die Mitarbeiter selbst ein kontinuierliches Anpassen der Führung an sich wandelnde externe Rahmenbedingungen fordern. Doch weniger als die Hälfte der europäischen Beschäftigten gaben 2010 an, dass in ihrem Unternehmen innerhalb der vergangenen drei Jahre tatsächlich ein Wandel stattgefunden habe. "Obwohl die Mitarbeiter viele Erwartungen aussprechen, sind sie es oftmals selbst, die bei der Umsetzung Widerstand leisten", schreiben die Autoren. Sie gehen davon aus, dass mehr als die Hälfte der Wandelinitiativen am Widerstand der Mitarbeiter scheitert. Neuere Untersuchungen bestätigen dieses Muster.

Die Gründe sind gut erforscht:

Unsicherheit. Neuem und Unbekanntem begegnen Menschen zögerlich, weil sie die Entwicklung nicht vorhersehen können.

Angst, etwas zu verlieren. Die Mitarbeiter können neue Prozesse anfangs nicht einschätzen und ihre eigenen Lebensverhältnisse nicht mehr kontrollieren. Deshalb reagieren sie mit Hilflosigkeit und letztlich auch mit Widerstand.

Angst, zu versagen. Wer etwas Neues lernen muss, hat zunächst mehr Arbeit als bisher, außerdem gibt es keine Garantie für ein gutes Gelingen. Das kann zu Frustration und existenziellen Sorgen führen.

Der Soziologe und Organisationsberater Stefan Kühl verweist außerdem auf einen ganzen Strauß an Paradoxien, der beim Übergang von hierarchischer zu selbstbestimmter Organisation zu erwarten ist – etwa wenn ein Manager die Belegschaft auffordert, jetzt selbstorganisiert zu handeln. Das führt zu ähnlicher Irritation wie die unmöglich zu erfüllende Aufforderung: "Sei spontan!" Aus diesem Dilemma können sich die organisierenden Manager nur schwer befreien.

Die Sorgen betreffen allerdings bei Weitem nicht nur Mitarbeiter, die mit neuen Organisationsformen konfrontiert werden. "Management ist ein Auslaufmodell", behauptet Lutz Becker, Studiendekan für nachhaltiges Marketing und Führung an der Hochschule Fresenius. Er begründet seine These mit immer leistungsfähigeren Computerprogrammen, die mithilfe von intelligenten, selbst lernenden Systemen zunehmend autonom agieren würden. "Klassische Managementfunktionen wie Planung, Maschinen- und vielleicht noch Personaleinsatz sowie Kontrolle werden derzeit vom menschlichen Entscheider unabhängig", sagt Becker.

Die Fliehkräfte durch die technische Entwicklung treiben das mittlere Management auseinander. Das spüren die Manager schon heute, wie der Kienbaum-Coach Achim Mollbach es in seiner Beratungspraxis erlebt. Dort klagen die Manager über den Verlust von Bedeutung und Gestaltungsspielraum (siehe auch Achim Mollbach: "Die Entmachtung der Manager" im HBM-Archiv.)

Werden Organisationen umgebaut, müssen sich auch Führungskräfte unter Umständen neue Jobs suchen. Wie sich das anfühlt, hat Haufe-Umantis-Mitgründer Hermann Arnold selbst erlebt. Nachdem er seinen Geschäftsführerposten abgegeben hatte, ignorierten ihn Kunden in Verkaufsgesprächen – trotz jahrelanger guter Zusammenarbeit. Ein hässliches Erwachen, willkommen im Team. Ein anderer Manager, der von den Mitarbeitern bei Haufe-Umantis abgewählt wurde, trat unter Tränen in die zweite Reihe zurück. Dieser Wechsel sei oft der größte Hemmschuh für Manager, sagt Arnold, "weil ihre Rollen neu definiert werden müssen".

Das gilt nicht nur für Managementfunktionen. Schon die Übernahme einer anderen Aufgabe empfinden Mitarbeiter nicht zwingend als Aufbruch. Für einen Programmierer in einem mittelständischen Betrieb war seine Umwidmung zum Mitglied im Scrum-Team ein Karriererückschritt. Statt wie bisher koordinierend und perspektivisch zu arbeiten, sollte er nach Aufgabenlage Programmbausteine schreiben.

ILLUSTRATION: DARIUS JAN WAKILZADEH
ILLUSTRATION: DARIUS JAN WAKILZADEH

In solchen Fällen ziehen sich Menschen gern auf ihre gewohnten Verhaltensmuster zurück, erklärt der Hamburger Psychotherapeut und Ökonom Thorsten Kienast, der sich auf die Arbeit mit Topmanagern spezialisiert hat. Es gelte die Daumenregel, dass das Ausmaß an Neuem, mit dem Mitarbeiter konfrontiert werden, 40 Prozent nicht übersteigen dürfe. Ansonsten könnten Überforderung und beruflicher Identitätsverlust bis zur Depression folgen. Droht dazu noch der soziale Status zu schwinden, reagieren die Betroffenen mit Verweigerungshaltung oder Frustration.

Aus all dem folgt: Stabilität ist wichtig bei der Einführung agilen Arbeitens. Wie sehr, illustrieren wissenschaftliche Aufzeichnungen des Berliner Arztes Ernst Horn aus dem Jahr 1818 an der Berliner Charité. Vor seiner Zeit dort wurden psychisch Kranke lediglich verwahrt. Als die Ärzte ihnen eine strikte Tagesstruktur nach preußischem Modell verordneten, mit Vorlesestunden, Exerzierübungen und praktischen Arbeiten, gesundete ein großer Teil der psychisch Erkrankten. Das Prinzip der Tagesstruktur wird heute noch angewandt.

So wird verständlich, warum ein Scrum-Team, bei dem die neuen Rollen und Aufgaben nicht klar vermittelt wurden, "agiles Arbeiten wie eine Behörde organisiert", wie es ein Vorgesetzter formuliert.

Menschliche Sorgen und Ängste treten beim Übergang zu einer neuen Organisationsform regelmäßig auf – aber natürlich nicht immer und auch nicht bei allen. Es hängt nach Einschätzung der Praktiker und Wissenschaftler vor allem davon ab, aus welcher Unternehmenskultur die Mitarbeiter kommen. Um einschätzen zu können, was auf Unternehmen beim agilen Arbeiten zukommt, lohnt sich ein Blick auf die neun persönlichen Fähigkeiten, die agile Teams benötigen. Zusammengetragen haben sie die Wissenschaftler Isabel Reichel und Lutz Becker von der Hochschule Fresenius, indem sie 2014 die vorhandene Literatur auswerteten und eine quantitative Umfrage bei Mitarbeitern in agilen Unternehmen durchführten.

Eine wichtige Basis für eine gut funktionierende agile Organisation ist Vertrauen. Wie schwierig das im Berufsleben sein kann, zeigen Legionen von Coaches, Bestsellerautoren, die über die Hölle Arbeitsplatz schreiben, und Berichte auf Arbeitgeberbewertungsportalen. Sie belegen: Vertraute Zusammenarbeit ist nicht die Regel. Die Organisationspsychologin Sonja Sackmann, die seit Jahrzehnten die Mechanismen der Unternehmenskultur erforscht, unterstreicht dies mit folgendem Beispiel: Ein Manager kehrte von seinem Auslandsaufenthalt in Asien zurück. Er war es gewohnt, abends lange zu arbeiten. Die Mitarbeiter taten nun alles, um zu kaschieren, wenn sie bereits früher gegangen waren. Scheinbar zufällig blieb in ihren Büros das Licht an – oder eine Jacke hing noch über dem Stuhl. Auf dieses Verhalten angesprochen, reagierte der Manager überrascht. Ihm war es nicht aufgefallen.

Die Übernahme einer anderen Aufgabe empfinden Mitarbeiter nicht zwingend als Aufbruch, sondern womöglich als Karriererückschritt.

In agilen Teams, in denen schnell sozialer Druck entstehen kann, kann so ein Verhalten zum Sprengstoff werden. Das Vertrauen, dass die Kollegen ihren Teil der Arbeit leisten werden, ist die Basis für eine gute Zusammenarbeit. Dazu gehört auch, so die Fresenius-Forscher Reichel und Becker in ihrer Analyse, dass sie sich ihrer gegenseitigen Schwächen bewusst sind, sie akzeptieren und die Aufgabenverteilung entsprechend anpassen.

Wie fragil das Vertrauensgefüge ist, zeigt das Beispiel Haufe-Umantis. Das Unternehmen stellte Mitarbeiter vor die Wahl, sich entsprechend der neuen Organisation weiterzuentwickeln oder zu gehen. Das führte zu einem Schock im Unternehmen, obwohl Mitarbeiter diesem Vorgehen demokratisch zugestimmt hatten. Manch einer glaubte, er könnte jetzt gefeuert werden, nur weil er etwas kritisiert hatte. Das Misstrauen kehrte zurück. "Wir haben daraufhin unter anderem anonymes Feedback eingeführt, um das Vertrauen wiederzuerlangen", sagt Mitgründer Arnold.

Aufgaben so zu lösen, wie man selbst es für richtig hält, klingt zunächst verlockend. Viele Untersuchungen belegen: Wenn jedes Teammitglied die nötige Freiheit für autonomes Handeln bekommt, ergänzen sich die Stärken aller, um das gemeinsame Ziel zu erreichen. Die Arbeit wird effizienter.

Allerdings passiert es am Anfang häufig, dass Teams überfordert sind. Freiheit zum Handeln bedeutet eben auch, den Kollegen zu sagen, wenn etwas schlecht läuft – und selbst Kritik anzunehmen, wenn die eigenen Lösungsvorschläge hinter den Erwartungen zurückbleiben. Klare Regeln für die Zusammenarbeit sind in diesem Zusammenhang unabdingbar. Das betrifft Urlaub und Gehälter genauso wie Arbeitszeiten. Sonst steigert sich das ganze Team schnell in einen vermeintlichen Arbeitsrausch – der nur aus sozialem Druck entsteht.

Hinzu kommt noch ein weitverbreiteter Fehler beim Aufbau selbstorganisierter Teams, so Coach Jutta Eckstein. Sie müssen fachlich in der Lage sein, ein Produkt selbstständig und komplett abzuschließen. Deshalb dürfen nicht, wie normalerweise üblich, alle Datenbankexperten in ein Team, sondern dieses sollte aus möglichst unterschiedlichen Fachleuten bestehen.

Zusammenarbeiten heißt, Verantwortung, Ressourcen und Belohnungen auf alle Schultern zu verteilen. Außerdem gehören dazu Beziehungen auf Gegenseitigkeit, gemeinsame Ziele, persönliche Autorität und Verantwortungsbewusstsein. Das haben Wissenschaftler um Paul W. Mattessich vom Wilder Research Center herausgefunden. Ist dieses Set an Eigenschaften vorhanden, wird daraus eine Quelle der Innovation.

Das ist nötig, weil die einzelnen Teammitglieder bereit sein müssen, ihr Wissen zu teilen – und vor allem das Know-how der Kollegen auf anderen Fachgebieten ernst zu nehmen. Die Mitarbeiter, so Coach Eckstein, dürfen sich in solchen Gruppen nicht nur am eigenen Leistungs- und Qualitätsanspruch orientieren – sondern müssen sich an dem des Gesamtprodukts ausrichten. Da sei unternehmerisches Denken gefragt.

Da dieses Zusammenspiel nicht selbstverständlich ist, werden in vielen der Unternehmen, die mit selbstorganisierten Teams arbeiten, bevorzugt Hochschulabsolventen eingestellt. Denn ihnen fehlt die Vorgeschichte der klassischen Hierarchie. Nicht nur beim Softwarehersteller Adobe in Hamburg achten die Personaler bei Einstellungen nur noch zum Teil auf die fachlichen Fähigkeiten. Vor allem sollen die neuen Mitarbeiter in der Lage sein, zu kooperieren, Verantwortung zu übernehmen und die Ziele der Gruppe in den Vordergrund zu stellen.

Ähnlich wie beim Design Thinking Produkte in immer neuen Überarbeitungsrunden reifen, entwickeln sich auch agile Unternehmen immer weiter. Dafür brauchen Mitarbeiter die Fähigkeit, die eigenen Vorstellungen und Vorgehensweisen immer wieder zu hinterfragen und im Zweifel zu verändern. Feedback von außen ist dafür unverzichtbar, weil Schwächen den Einzelnen nur selten bewusst sind.

In einem mittelständischen Unternehmen reagierte ein Geschäftsführer zum Beispiel höchst überrascht, als die Mitarbeiter ihm ihren Wunsch nach einem anonymen Meckerkasten mitteilten. In der Diskussion stellte sich heraus: Ihm war gar nicht klar, dass im Unternehmen Kritik von Untergebenen unterdrückt wurde. Sonja Sackmann kennt diese Reaktion: Vielen Managern sei die Wirkung ihres nonverbalen Verhaltens auf ihre Umgebung überhaupt nicht bewusst.

Sobald Menschen, die plötzlich mehr Verantwortung bekommen haben, in Stress geraten, verfallen Sie wieder in alte Routinen.

Der Mechanismus gilt auch für Mitarbeiter, die plötzlich mehr Verantwortung bekommen und auf Kooperation angewiesen sind. Sobald sie in Stress geraten, verfallen Menschen in alte Routinen. Um sich zu verbessern und das Arbeiten in der Gruppe zu lernen, müssen sie überlegen, wodurch ihr Verhalten ausgelöst wurde, sagt Sackmann.

Die Rückmeldung aus dem Team kann hart werden. Denn in solchen Teams entstehe hoher sozialer Druck, weiß Psychotherapeut Kienast. Zwar fühle sich so ein Team zu Beginn schnell an wie eine Familie. Aber genau das Durchmischen einer privat-vertraulich anmutenden mit einer professionellen Ebene führe bei offenen Worten und Kritik untereinander oft zu größeren Zerwürfnissen, als wenn diese von einer Führungskraft stammten. Denn diese sei von Amts wegen weisungs- und kritikbefugt.

Dazu kommt, so der Psychotherapeut, dass die Kollegen die Last der Verantwortung spüren und deshalb empfindlicher auf Schwächen anderer reagieren. Der Ton wird nach vielleicht anfänglicher Offenheit entweder rauer, die Mitarbeiter verstummen aus Resignation oder beginnen Einzelne sozial auszugrenzen.

Der Brandschutzspezialist HHP Berlin zum Beispiel hat seine Experten zu Gruppen aus diversen Fachkräften zusammengestellt. Diese nehmen sich eigenständig ihre nächsten Aufgaben. Damit sie wissen, was wichtig ist, müssen sie jedoch eine gemeinsame Vorstellung von den Zielen des Unternehmens haben. In agilen Organisationen gibt es deshalb Personen, die als Botschafter den tiefer liegenden Sinn eines Projekts erklären und den Zusammenhang für das Unternehmen verdeutlichen. Andere Kollegen übernehmen als Coaches die Aufgabe, dem Team zu eigenverantwortlichem Handeln zu verhelfen. Eine Beraterin für agiles Management in der Softwarebranche, Jutta Eckstein, sieht die Selbstverpflichtung auf eine gemeinsame Vision als Weg, um sicherzustellen, dass sich die einzelnen Teammitglieder in der Pflicht fühlen. In hierarchischen Strukturen ist das anders. Da trägt der Vorgesetzte die Verantwortung.

Damit agile Gruppen effektiv arbeiten können, ist es zwingend notwendig, effektiv miteinander zu kommunizieren. Alle Kollegen müssen wissen, welche Aufgaben anstehen, woran andere arbeiten, welcher Wissensstand zu einem aktuellen Problem existiert und welche übergeordneten Ziele die Gruppe verfolgt. Zur Kommunikation gehört also auch Transparenz.

Für agile Teams, die sich in hierarchischen Unternehmen bilden, ist das jedoch eine beträchtliche Hürde. Denn die zahlreichen Studien, in denen nach dem Führungsverhalten in deutschen Unternehmen gefragt wird, zeigen eindrucksvoll: Es gibt ein riesiges Kommunikationsdefizit. Zum Beispiel ergab eine von Haufe bei TNS Infratest in Auftrag gegebene Studie: 70 Prozent der Führungskräfte glauben, dass die Strukturen und Führungsmodelle im Unternehmen bereits ausreichend agil sind. Das sieht aber nur ein Drittel der Mitarbeiter so.

ILLUSTRATION: DARIUS JAN WAKILZADEH
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Eine mögliche Erklärung liefert die Arbeit des Soziologen Niklas Luhmann. Aus dem Austausch von Informationen wird in seinen Augen erst dann echte Kommunikation, wenn der Sprecher nicht nur die Botschaft übermittelt, sondern von den Adressaten auch die Information zurückbekommt, dass sie verstanden wurde. Wenn zum Beispiel der CIO seinem Team sein Konzept erklärt, dann ist das noch keine Kommunikation. Diese entsteht erst, wenn er durch die Antworten seiner Mitarbeiter merkt, dass sie es verstanden haben. Diese Form der Kommunikation ist essenziell und besteht aus zuhören, verstehen und reden.

Moderne Technik kann das unterstützen – muss es aber nicht. Dass zeigt eine Untersuchung des Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung in München. In 14 Fallstudien in Unternehmen haben die Wissenschaftler mehr als 150 Tiefeninterviews auf allen Hierarchieebenen geführt. Dabei stellten sie fest, dass viele Unternehmen mit den technischen Möglichkeiten der Datenauswertung rigide auf das Prinzip "Steuern nach Zahlen" setzen – was selbst bei einer flacheren Hierarchie zu mehr Entscheidungsmacht an der Spitze führt. Von echter Kommunikation keine Spur.

Sogar Führungskräfte auf der mittleren Ebene geben an, sich als zahlengetriebene Exekutoren von Sachzwängen zu sehen, so die Wissenschaftler. Von mehr Kontrolle seien auch Arbeitsfelder nicht ausgenommen, die eigentlich als prädestiniert für kollaboratives und eigenverantwortliches Arbeiten gelten wie etwa die Wissensarbeit.

Eine der wichtigsten Voraussetzungen für agiles Arbeiten ist die Bereitschaft, sich spontan und schnell auf neue Situationen einzustellen. Das können neue Aufträge sein, die besonders dringend sind, eine Veränderung der Märkte oder auch Erkenntnisse aus dem Feedback der Kollegen: So geht es mit unserer Arbeit nicht weiter, wir müssen etwas verändern. Agile Unternehmen bleiben nur dann funktionsfähig, wenn sie die eigene Organisation kontinuierlich weiterentwickeln und anpassen.

Die menschliche Psyche ist zur Veränderung jedoch nur bedingt bereit. Agil können Menschen lediglich in Teilbereichen ihres Schaffens sein, sagt Psychotherapeut Thorsten Kienast. Nämlich dort, wo ihre Talente, Interessen und Fähigkeiten liegen. Außerdem hänge die Bereitschaft stark von der persönlichen Lebensphase ab: Vor allem in jüngeren Jahren sind Tempo und Wandel reizvoll; später lässt das nach, wenn die Verantwortung für die eigene Familie das Leben mitbestimmt. Die Initiatoren in modernen Unternehmen erleben folglich häufig eine besonders hohes Tempo zu Beginn der Veränderung. "50 Prozent unserer Belegschaft waren aufgrund unseres starken Wachstums und einer gewissen Fluktuation vor eineinhalb Jahren noch nicht in unserem Haus", sagt Hermann Arnold von Haufe-Umantis. Dort haben Mitarbeiter etwa auch bewusst entschieden, sich nicht weiterentwickeln zu wollen.

Zu wissen, was gerade wichtig ist, gehört zur großen Kunst des eigenverantwortlichen Arbeitens. Nach Auffassung der Fresenius-Forscher Reichel und Becker geht es darum, zu tun, was absolut notwendig ist. Das ist wichtig, weil von agilen Teams auch erwartet wird, neuen Aufgaben und Veränderungen positiv zu begegnen. Dieser Anspruch lässt sich umso schwerer aufrechterhalten, je mehr Arbeit auf einer Gruppe lastet. Ein Mittel, um dem hohen Tempo gerecht zu werden, sind einfache Lösungen, die sich schnell umsetzen lassen. Dann können Mitarbeiter immer noch nachbessern, wenn eine komplexere Lösung gefragt ist. Um der drohenden Überforderung zu begegnen, begrenzen agile Teams auch die Anzahl der Aufgaben, die sie parallel abarbeiten dürfen.

Für hoch spezialisierte Experten, die gern fundierte, tief durchdachte Konzepte erarbeiten, ist dieser Ansatz problematisch. Das zeigt auch die Kritik in der Entwicklerszene vor allem am Softwareentwicklungsprozess Scrum.

Dies ist die wohl einfachste Voraussetzung. Es ist eines der Kernprinzipien agiler Teams, Kunden genau zu beobachten, um diesen qualitativ hochwertige und funktionierende Produkte zu bieten.

Eines der größten Missverständnisse beim Wandel zum agilen Unternehmen ist die Annahme, dass Führung und Regeln verschwinden werden. Was tatsächlich verschwindet, sind Posten und starre Positionen. Doch gerade weil sich die Struktur und Sicherheit gebende Organisation auflöst, sind klare Regeln der Zusammenarbeit essenziell. Egal, ob Scrum, Design Thinking oder Holokratie – keines der Modelle funktioniert, wenn Unternehmen nur Teile davon umsetzen.

Weil sich die vielen Elemente der Führung auf so viele Schultern verteilen, muss letztlich jeder Einzelne in seiner persönlichen Entwicklung Führungseigenschaften übernehmen. Das geht nicht ohne Training, lohnt sich aber langfristig. Untersuchungen zufolge wollen diejenigen, die sich im agilen Prozess zurechtgefunden haben, nicht mehr zurück. Richard Straub, ehemaliger IBM-Topmanager und Präsident der Peter-Drucker-Society Europe, bezeichnet diese Reifung als Übergang zur unternehmerischen Gesellschaft.

Autor

Michael Leitl ist Redakteur des Harvard Business Managers.

Service

Literatur

Jutta Eckstein: Retrospektives for Organizational Change, e-Book 2015: leanpub.com/retrospectivesfororganizational change

Hess, Volker: Die Alte Charité, die moderne Irrenabteilung und die Klinik, 1790 – 1820. In: Johanna Bleker, Volker Hess (Hrsg.): Die Charité. Geschichte(n) eines Krankenhauses, Akademie Verlag, Berlin 2010.

HBM Online

Achim Mollbach: Die Entmachtung der Manager, in: Harvard Business Manager, Sonderheft 2016, Seite 110, Nachdrucknummer 201650110.

Keith Ferrazzi: Schritt für Schritt zum Ziel, in: Harvard Business Manager, November 2014, Seite 12, Nachdrucknummer 201411012.

Internet

Studie des Roman Herzog Instituts: Führungsstile und gesellschaftliche Megatrends im 21. Jahrhundert: bit.ly/1WCJeTa

Diskussion über Sinn und Unsinn von Scrum: bit.ly/1XHwlrc

Über Zappos und die Schwierigkeiten der Mitarbeiter mit Holacracy: read.bi/1UfDNML

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