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Lufthunger: Was wir draußen finden

Viele Menschen haben heute das Gefühl, aufbrechen zu müssen, um sich selbst zu spüren fernab von riesigen Datenmengen, von denen sie im Internet nur ein kleiner Teil sind. „Digital ist gut in allem, was Masse, was riesige Datenmengen angeht. Die Grenzen von Digital sind qualitativ." Es sind Dinge wie physische Orte und Haptik, die Digital nicht kann. "Umwerfend Neues kommt selten aus einem linearen Planungsprozess. Es braucht einen Raum für Unordnung und Imperfektes", sagt der Autor Andre Wilkens. Denn viele Menschen empfinden ihr Leben heute als überfrachtet, durchorganisiert und fremdbestimmt. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Rückbesinnung auf eine „heile Welt" inzwischen zu einem Massenphänomen geworden ist, von dem auch die Outdoorbranche profitiert. Sie steht für das Image einer intakten Natur und stellt neben Produkten auch Sinnangebote zur Verfügung, die diese Sehnsucht stillen.

Dass Outdoor heute boomt, hat sicher auch damit zu tun, dass Menschen „draußen" das Gefühl haben, wieder Kontrolle über die eigenen Lebensbedingungen zu bekommen und selbstbestimmt zu entscheiden. Wer das kann, empfindet auch weniger Stress und ist gesünder. Eine intakte Landschaft steht für Stabilität in einer sich immer schneller bewegenden Welt. „Draußen" lernen alle, die Zeitnot als das größte Übel zu empfinden und was es heißt, im eigenen und konzentrierten Handeln aufzugehen und sich selbst zu finden - ohne auf die Uhr zu sehen.

Für die Erstellung der eigenen (Lebens-)Route genügen nicht nur Apps für Natur- und Wanderfreunde, die Entfernungen oder Kalorienverbrauch errechnen oder auch fehlende Höhendaten nachladen können, sondern auch die richtigen Gedanken, die es braucht, um entsprechend zu handeln. Es verwundert deshalb nicht, dass immer mehr Menschen das Wandern und das humane Tempo für sich entdecken. Sie wollen wieder den Boden unter den Füßen spüren und ihre Umgebung mit allen Sinnen bewusst wahrnehmen. Sie ziehen das eigene Erleben medial vermittelten Bildern vor.

Auch innovative Unternehmen setzen verstärkt darauf, wenn es darum geht, neue Ideen zu finden. Als Arianna Huffington, Gründerin der Huffington Post, noch in Los Angeles lebte, machte sie beispielsweise die Erfahrung, dass ihr viele ihrer besten Ideen beim Wandern (das zugleich auch eine Lichttherapie ist) kamen. Wann immer es ihr möglich war, verabredete sie sich zu Wanderungen statt sich mit ihren Freunden oder auch mit den Redaktionsmitgliedern der HuffPost um einen Tisch zu setzen. In ihrem Buch „Die Neuerfindung des Erfolgs" finden sich auch viele Zeugnisse aus der Geschichte über die Vorteile des Gehens: So war Spazierengehen für Ernest Hemingway die beste Methode, um Ideen zu entwickeln: „Ich spazierte oft an den Kais entlang, wenn ich mit der Arbeit fertig war oder über etwas nachzudenken versuchte", schrieb er in „Ein Fest fürs Leben". Der Maler Paul Klee meinte sogar, dass man zu Fuß „besser schauen“ könne. Und Friedrich Nietzsche sagte, dass nur Gedanken, die im Gehen kommen, irgendeinen Wert hätten.

Der amerikanische Dichter, Philosoph, Landvermesser und Lehrer Henry David Thoreau (1817-1862), der als Sohn eines Bleistiftfabrikanten in Harvard studierte und die antiken Klassiker im Original las, erklärte Wanderungen zum Wagnis und Abenteuer eines jeden Tages. Als Gegner der Sklaverei und der Prügelstrafe an den Schulen plädierte er für ein Leben im Einklang mit der Natur. In seinem Werk „Walden oder Leben in den Wäldern“ beschrieb er sein zweijähriges einfaches und unabhängiges Leben in der Natur. Man könnte das Buch als das erste Aussteigerbuch der Moderne bezeichnen. Es reiht sich in eine lange Tradition selbstaufklärerischen Denkens ein. Für den Freigeist und Begründer des zivilen Ungehorsams war das Gehen kein Mittel, sondern der Zweck selbst. Auch dem bewegungshungrigen Philosophen Montaigne schliefen die Gedanken ein, wenn er saß. Sein Geist ging nur voran, wenn er seine Beine in Bewegung setzte.

Denken und Sehen sind beim Wandern aufs schönste miteinander verbunden. „Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt", urteilte schon der sächsische Dichter und passionierte Wanderer Johann Gottfried Seume nach seinem berühmten Spaziergang nach Syrakus 1802. Er war für ihn auch ein Akt des zivilen Ungehorsams: „Loslaufen, mit wenig Geld, ohne Gefolge, ohne Anweisungen. Und einfach immer weiter; zuerst mit Freunden, später allein."

Hermann Hesse neigte „sehr dazu, aus dem Rucksack zu leben und Fransen an den Hosen zu haben“. Das schreibt er in seinem Bändchen „Wanderung“, das 1920, mitten in der wirtschaftlichen Depression, in Berlin erschien. Die Erzählung beruht auf Wanderungen, die er zwischen 1916 und 1918 von Bern aus übernommen hat. Rucksackwanderungen, die damals zum Lebensstil gehörten, dienten Hesse allerdings nicht der beschaulichen Erholung, sondern gehörten vielmehr zu seiner „Überlebenskunst“ (Ulrich Grober), die von Nietzsche geprägt war: „Sei du selbst“. Hesse war davon überzeugt, dass Menschen wie er durch die „Überwindung der Seßhaftigkeit“ und die Verachtung von Grenzen zu „Wegweisern der Zukunft“ werden. Das ist er geblieben, denn sein Werk hat bis heute alle Krisen überlebt und findet noch immer neue Leser.

Seit 1998 wanderte der US-amerikanische Sänger und Art Garfunkel, der mit Paul Simon als Duo Simon & Garfunkel bekannt wurde, durch Europa. Seine Route führte ihn u.a. von Dublin über Paris und Rom nach Istanbul. Was er beim Wandern gelernt hat, ist einfach und nachhaltig zugleich: „Wege, die wie Abkürzungen aussehen, sind oft Sackgassen. Bäume sind wunderschön. Menschen in Kleinstädten sind frustriert, weil ihre Städte sterben." Zu seinen Wanderregeln gehörte es, nie irgendwo stehenzubleiben - egal, wie interessant es auch schien: „Weil eine solche Wanderung sonst kein Ende findet. Weil es ums Vorankommen geht. Um den Rhythmus."

Wandern hat für den Künstler immer auch etwas mit Abgrenzung zu tun - auch zu seinem früheren Freund und Kollegen Paul Simon. Wenn Menschen so unterschiedlich sind wie die beiden, „dann kann man nur zusammenbleiben, wenn es einen höheren Grund gibt." Sie sind beide inzwischen über 70 Jahre alt - der Drang nach Distanz und Abgrenzung ist geblieben. Seine Wanderung ist auch ein Symbol für Freundschaft. Sie ist zu Ende, wenn es „einfach keinen Spaß mehr macht" und man sich fragt, „ob man wirklich weitermachen will. Oder ob es nicht auch gut ist, zurückzublicken und zu erkennen, dass das, was hinter einem liegt, an Schönheit nicht mehr überboten werden muss." (ZEITmagazin 10/2015)

Spätestens seit Hape Kerkelings Bestseller „Ich bin dann mal weg: Meine Reise auf dem Jakobsweg" (2006) ist das Thema Wandern auch medial ein beliebter Schwerpunkt der Berichterstattung. Seither wurde vor allem über die Hintergründe dieser großen Bewegung diskutiert. Eine Kernfrage ist, wie die Pilgerfahrten zum Grab des Apostels in Santiago de Compostela im Nordwesten Spaniens trotz der weiten Entfernung zu einer Massenbewegung werden konnten. Die Beschäftigung mit dem Jakobsweg hat Menschen immer in unterschiedliche Welten geführt: in eine eigene Welt des Geschehens und Nachdenkens, aber auch in die Welten der Vergangenheit und Gegenwart. Alles, was es über das Leben und uns selbst zu wissen gibt (Er-fahrung), liegt auf dem Weg, der uns zu be-wanderten Menschen macht.

Weiterführende Literatur:

Alexandra Hildebrandt: Urlaub. Das Gute in der Nähe finden. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.

Andre Wilkens: Analog ist das neue Bio. Metrolit Verlag. Berlin 2015.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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