Ludwig II. in Bayreuth - Pixabay

Macht, Missgunst, Hass und Intrigen: Aus der Geschichte lernen

Macht zu haben verbinden viele Menschen heute mit hohen Positionen in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Gesellschaft. Mit Macht können andere geschützt und gefördert (Einflussnahme), aber auch angriffen, benachteiligt und verletzt werden (Machtausübung). Oft wird Machtpotenzial auch gegen die legitimen Interessen anderer eingesetzt. Macht als Einwirkungspotenzial verführt offensichtlich zu rücksichtsloser Durchsetzung eigener Interessen. Mächtige, die ihr Machtpotenzial gegen die legitimen Interessen anderer einsetzen, verlieren häufig den Kontakt zur Realität und treffen Entscheidungen, die sie ins Verderben stürzen. Durch diese Selbstüberschätzung und Abwertung anderer schneiden sie sich von Kritik und Lernmöglichkeiten ab. Im Umfeld gibt es dann bald nur noch Jasager oder Konkurrenten, die konstruktive Auseinandersetzung mit abweichenden Informationen und Meinungen unterbleibt. Es gibt aber auch Fälle, in denen Menschen, die anders sind und nicht dem Moralkodex ihrer Zeit entsprechen, in eine bestimmte Machtposition hineinwachsen müssen und schließlich in einem Geflecht aus Missgunst, Hass und Intrigen um Leben kommen. In seinem aktuellen Buch „Der Ludwig-II.-Prozess“ widmet sich der Autor Alfons Schweiggert den Schuldigen an der Königskatastrophe und nennt sämtliche Personen und Institutionen, die für das Ende Ludwigs II. verantwortlich waren. Im Interview erläutert er, was wir heute aus seinem Schicksal lernen können.

Man ignoriert ihn, was meist wenig nützt. Besser ist, man schädigt seinen Ruf. Aber noch besser, man erklärt ihn für geisteskrank und lässt ihn in der Psychiatrie verschwinden. Bei König Ludwig II. von Bayern wurde das exerziert. Mit Hilfe der Psychiatrie gelang es der bayerischen Regierung, die um ihre Macht fürchtete, einen lästigen König loszuwerden. Aber auch Ludwigs Onkel Prinz Luitpold und dessen Familie, die höllische Angst hatte, den privaten Schuldenberg Ludwigs zu erben, kam Dr. Bernhard von Guddens psychiatrisches Urteil „geisteskrank“ gerade recht. Und somit ging Psychiatrie mit Politik und staatlicher Macht im Fall Ludwig II. eine geradezu bilderbuchhafte Verbindung ein.

Nein, natürlich nicht. Er kam bis zu seiner Entmündigung seinen administrativen Pflichten nach und war ein verlässlicher Bearbeiter der ihm aufgetragenen Verwaltungsangelegenheiten. Er hat die Bayerische Musikakademie und die Technische Universität München gegründet, er war ein Förderer moderner Technologie und vieler kultureller Bereiche und ein Baumeister utopischer Schlösser. Er hat sich auch noch situationsgerecht und angemessen verhalten, als man ihn entmachtete, sodass selbst Dr. Gudden gestaunt hat. Aber einen großen Fehler hatte Ludwig II. Er entsprach nicht der Norm seiner Zeit und galt deshalb als anormal.

Doch schon. Um aber zu verstehen, was der Psychiater mit seinem Urteil „geisteskrank“ in Wahrheit meinte, muss man sich in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückversetzen, in der Dr. Gudden lebte, und registrieren, was damals als „normal“ und „anormal“, als „geistig gesund“ und „geistig krank“ angesehen wurde. Gesund war damals, was dem bürgerlichen Moralkodex entsprach. Je nachdem, wie sehr man davon abwich, wurde man entweder als „geistig verwirrt“ oder „geistig krank“ beurteilt. Des Königs Verhalten war außerhalb jeglicher Konventionen, die für ein bürgerliches Leben in Bayern des 19. Jahrhunderts galten, auch außerhalb des Vorstellbaren für einen Arzt wie Dr. Gudden. Was nicht den Konventionen entsprach, das musste verrückt sein.

Ludwigs ehemalige Braut, Herzogin Sophie, wurde 1887, also ein Jahr nach Ludwigs Tod, beispielsweise nur deshalb in die Irrenanstalt Mariagrün bei Graz eingeliefert, weil sie nach ihrer Heirat mit Herzog Ferdinand von Alençon ein Verhältnis mit ihrem Arzt begonnen hatte. Ehebruch galt 1887 nämlich noch als Zeichen geistiger Verwirrtheit, als „moralisches Irresein“.

Da gab es vieles, was in den Augen seiner Zeitgenossen keinesfalls der „Normalität seiner Zeit“ entsprach. Der König mied Kontakte zu seinem Ministerium und zum Landtag, hatte eigenartige Vorlieben, verkroch sich in den Bergen, verhielt sich zur Mitwelt mitunter sonderbar, war, anstatt dem Deutschtum zu huldigen, frankophil, also undeutsch, kam seinen Repräsentationsverpflichtungen und angeblich sogar seinen „beruflichen“ Aufgaben als König nicht nach, verschwendete Geld für anachronistische Schlossbauten, negierte die vorgesehenen Rollenkonzepte betonter Männlichkeit und Weiblichkeit und entsprach damit auch in sexualmoralischer Hinsicht nicht den Vorstellungen und dem Geist seiner Zeit. Es war also nicht nur eine „Anormalität“, sondern ein ganzes Bündel von negativen Verhaltensweisen, die dem König vorgeworfen wurden und die damals als „anormal“ galten, und das auch nach der Ansicht Dr. Guddens.

Ganz einfach all das, was der sogenannten „Normalität seiner Zeit“ entsprach und in der damaligen Gesellschaft als „normal“ angesehen wurde. Nicht nur für ihn, der ein strebsamer Arzt, ein pflichtbewusster Beamter und ehrenhafter Bürger mit deutsch-nationaler Gesinnung war, der eine ordentliche Familie – mit neun Kindern! – hatte, der sich als Christ – Gudden war katholisch – hinsichtlich der Beurteilung von Sitte und Anstand für kompetent hielt, war der König eine Person, die all dem widersprach, was „normal“ war, was sich tatsächlich „mit der Wirklichkeit in vollem Widerspruche“ befand. Auch nach dem Urteil der Öffentlichkeit – und diesem stimmte auch Gudden zu – fiel Ludwig II. aus dem Rahmen der Normalität. Infolgedessen glaubte sich Gudden im Recht, seine Auffassung von „Normalität“, die der seiner Zeit entsprach, bei der Beurteilung des Königs zum Maßstab nehmen zu dürfen. Und diese ließ er – was erst aus heutiger Sicht für problematisch erachtet wird – in seine psychiatrische Diagnose einfließen.

Ja, so heißt es, was aber völlig falsch ist. Bei Dr. Guddens Beurteilung des Königs handelte es sich keinesfalls um einen spontanen Einfall, um eine Entscheidung von einer zur anderen Minute. Sein Urteil hatte sich vielmehr im Lauf von zwölf Jahren (!) nach und nach gebildet, also spätestens seit 1874, als er der Arzt des geisteskranken Prinzen Otto war und auch Gelegenheit hatte, alle öffentlich diskutierten Verhaltensauffälligkeiten Ludwigs II. zu reflektieren. Dazu kam, dass die bei Ludwigs Bruder Otto ausgebrochene Geisteskrankheit bereits weit fortgeschritten und die Möglichkeit einer familiären Belastung durch Vererbung nach dem damaligen Verständnis auch bei Ludwig als sehr wahrscheinlich angenommen wurde und so war auch er überzeugt, dass beim König Vererbungsfaktoren eine durchaus bedeutsame Rolle spielten. Als er dann am 23. März 1886 – also nicht erst im Juni! – in einem Gespräch mit dem Ministerratsvorsitzenden Johann von Lutz äußerte, er halte den König für „originär geisteskrank“, lag diesem Urteil eine zwölfjährige Materialsammlung zu den anormalen Verhaltensweise Ludwigs II. zugrunde.

Ja natürlich, auch wenn Dr. Gudden in seinem Gutachten verschämt mit keinem Wort darauf einging. Doch hinter vorgehaltener Hand äußerte er, es sei „besser für den König, für geisteskrank erklärt zu werden, da man ihn sonst für einen der perversesten Menschen halten müsse.“ Nur die sofortige Entmündigung, so betonte Dr. Gudden, könne „den Monarchen vor der Verantwortlichkeit für seine Ausschreitungen freisprechen, die vom ethischen Standpunkte schrecklicher nicht gedacht werden können.“ Und damit meinte Gudden natürlich die Homosexualität des Königs, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach dem Gesetz als strafbares Delikt geächtet und von der Kirche als Todsünde gebrandmarkt war, in den Augen eines jeden sogenannten anständigen und pflichtbewussten Bürgers als anormal galt und nach Guddens Überzeugung nur ein Zeichen geistiger Zerrüttung sein konnte. Und mit dieser Ansicht stand er nicht allein, denn darin bestätigten ihn seit Jahren auch entsprechende Anschuldigungen in der Presse, vonseiten der Regierung und die öffentliche Meinung, die den König mit ähnlichen Vorwürfen überhäuften.

Das ist ja das groteske, sogar Ludwig II. zerfleischte sich ständig in bitteren Selbstvorwürfen. Er fühlte sich schuldig, litt unter seinen Trieben und suchte sie immer wieder zu unterdrücken. Es war also die vierfache Verurteilung seiner Sexualität durch Kirche, Gesetz, Öffentlichkeit und nicht zuletzt – vielleicht sogar vorrangig! – durch sich selbst, die ihm zunehmend zu schaffen machte. Erst durch die Entmündigung und Internierung in Schloss Berg und noch mehr durch seinen tragischen Tod wurde Ludwig II. wieder in die Normalität zurückgeholt. Alle seine vorher oft heftig verurteilten Verhaltensauffälligkeiten wurden in der Folge in einem neuem Licht gesehen und mit den Jahren gleichsam von allen Schlacken gereinigt und sogar veredelt.

Nein, das tat Dr. Gudden natürlich nicht. Er tat es allein aus tiefster Überzeugung, weil er für sich keine andere Möglichkeit sah, als Ludwig II. „Anormalität“ und in der Folge „seelisch-geistige Krankheit“, ja „Verrücktheit“ zu bescheinigen. Das Tragische dabei ist, dass Gudden seine „zeitbedingte Auffassung von Normalität“ mit seinem ärztlichen Auftrag vermischte, ein objektives Gutachten zu erstellen, und daraus für den König die Diagnose „Paranoia“ (primäre Verrücktheit) ableitete, womit er aber eigentlich das meinte, was man und was auch er zeitbedingt unter „Anormalität“ verstand.

Ja, doch das tat er in erster Linie als exponierter Staatsbürger, der sich in der Pflicht sah, seinen Beitrag dazu zu leisten, dass Schaden vom Staat abgewendet wurde, der nicht nur ihm von Ludwig II. auszugehen schien. Beim König handelte es sich nämlich nicht um irgendeinen Bürger des Königreichs Bayern, sondern um den höchsten Repräsentanten des Staates, von dem mehr als von jedem anderen Vorbildcharakter gefordert wurde. Doch die dem König vorgeworfene Verschwendungs- und Bausucht, seine Weigerung, die von ihm geforderten Repräsentationspflichten wahrzunehmen, seine Ablehnung der Vorherrschaft Preußens, seine Affinität zu Frankreich und sein so bezeichneter amoralischer Lebenswandel, so die damalige weit verbreitete Ansicht, der auch Dr. Gudden zustimmte, drohten dem Staat einen nicht wieder gutzumachenden Schaden zuzufügen.

Ein König, der gegen die „Normalität“ verstieß, davon war Dr. Gudden überzeugt, förderte die Dekadenz und schädigte damit die Nation. Das konnte man einem Monarchen keinesfalls erlauben. Dagegen galt es einzuschreiten. Entweder war ein solcher Monarch ein Staatsfeind, oder aber er war „verrückt“. In jedem Fall musste er seines Amtes enthoben und entmündigt werden.

Natürlich, aber man darf nicht vergessen, dass die Verbindung der Psychiatrie mit Politik und staatlicher Macht, wie sie im Entmündigungsprozess Ludwigs II. zum Tragen kam, auch für den noch jungen Fachbereich Psychiatrie erhebliche Vorteile brachte. Dr. Guddens Begutachtung Ludwig II., die ungeheures Aufsehen erregte, verhalf der Psychiatrie nicht nur in Bayern zu breitem öffentlichen Interesse und in der Folge zu wachsendem Ansehen und zunehmender Bedeutung. Die Legitimierung der Psychiatrie als Instrument zur Lösung konkreter politischer Probleme schuf nämlich die Basis für ihren Aufstieg zur staatstragenden und staatlich geförderten Wissenschaft, wovon die Professionalisierung und Institutionalisierung dieser jungen medizinischen Disziplin erheblich profitierte.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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