Macht und Grenzen der Rationalität
Fake News, Verschwörungstheorien, Geschwurbel und Wundergeschichten bezeichnet der Harvard-Psychologe, Kognitionswissenschaftler und Linguist Steven Pinker als die größten Gefahren freier Gesellschaften.
„Wie kann ein rationales Tier nur so viel Blödsinn von sich geben?“, fragt er in seinem aktuellen Buch „Mehr Rationalität“, das eine Anleitung zum bessern Gebrauch des Verstandes sein soll. Der Schlüssel ist für ihn eine Geisteshaltung, die er „aktive Offenheit“ nennt. Das bedeutet, die eigenen Vorstellungen immer wieder nach faktischen Gegebenheiten neu auszurichten und nach Zahlen und Formeln zu fassen.
Es steht außer Frage, dass verlässliche Daten Debatten versachlichen können und eine wichtige Entscheidungsgrundlage sind. Dennoch sollten Wissenschaftler wie er nicht gegen alles sein, was gegen die Vernunft ist und wofür es keine Beweise gibt. Wenn eine Kultur nur noch Daten vertraut, ist sie zwar noch funktionsfähig, aber nicht mehr vertrauens- und leidensfähig. Sie wird inhuman. Auch vermischt Pinker die Begriffe Vernunft und Rationalität – das ist für ihn Logik. Er lässt nur Einwände gelten, die rational sind und seiner eigenen Meinung entsprechen: „Rationalität sollte der Leitstern all unseres Tuns und Denkens sein.“
Die Romantik als gefährliches Denken stellte er in seinen früheren Publikationen an den Pranger, weil sie den links- und rechtspolitischen Populismus befördere und Aufklärung und Rationalität im gesellschaftlichen Leben unterbinde. Er sieht sich als Mann der Aufklärung, die allgemein jegliche weltanschauliche Transformation von der Dunkelheit zum Licht oder vom Mythos zum Logos bezeichnet. Als transhistorischer Universalbegriff ist Aufklärung ein Synonym für Entmythisierung und bezeichnet als Übersetzung von lateinisch „serenitas“ das „Durchbrechen der Sonne bei bedecktem Himmel“. Die heute damit assoziierte Bedeutung von „aufhellen“, „klarmachen“ und „aufdecken“ eines bestimmten Sachverhalts verbindet sich damit seit 1720.
Der menschliche Körper wurde im Prozess der Aufklärung allerdings nur zugelassen, soweit er im Einklang mit der Vernunft steht. Er erschien in diesem Kontext als eine rational steuerbare Maschine! (Das bemerkt Pinker nicht.) Diese Entwicklung führte seit dem 18. Jahrhundert nicht zuletzt zu einer Aufspaltung der Sinne, der eine Vereinseitigung und Einschränkung des Wahrnehmungsfelds auf die sichtbare Welt folgte. Dass wir heute Aufklärung im Sinne transparenter Informationen benötigen und befähigt werden müssen, aktuelle Entwicklungen mitzugestalten, ist selbstverständlich. Das schließt Romantik jedoch nicht aus, denn auch Dunkles enthält Wahrheit. Eine gut und richtig funktionierende Gesellschaft braucht Aufklärung und Romantik. Es gibt nicht nur ein Menschenrecht auf Licht, sondern auch auf Schatten.
Am Anfang steht für ihn – wie für Daniel Kahneman in „Schnelles Denken, langsames Denken“ – die Analyse. Doch sind seine Ausführungen auch im aktuellen Buch teilweise so kompliziert und aufgeladen mit Fachbegriffen, dass sie die dringend benötigten Schübe an Sachlichkeit kaum anzustoßen vermögen. Es werden zahlreiche Vernunftgründe für die Vernunft geliefert, aber nicht berücksichtigt, dass sich Situationen rein rationaler Entscheidungen fast nur in Lehrbüchern finden und Problemlösungen nie ganz aufgehen. Vielmehr brauchen wir ein Denken, das auch mit Instabilitäten rechnet und Abweichungen als Anlässe für Umorientierungen ansieht, das Komplexität berücksichtigt und versteht. Richtig denken heißt auch, richtig zu leben und zu handeln.
Doch darüber geben Wissenschaftler wie er kaum Auskunft, weil sie nur das beschreiben und erklären, was ist oder wie sich etwas verhält und nicht, wie es sich besser verhalten sollte. Die Welt besteht aus vielen Einzelfällen, „und da bewähren sich spontane, nicht weiter begründbare und ja, manchmal auch unlogische Entscheidungen erstaunlich gut.“ (Thomas Ribi) Verbindet sich das Bauchgefühl mit Vernunft und gründlichem Nachdenken, und wird es immer wieder rückgekoppelt mit den Ergebnissen rationaler Analyse, sind wir durchaus in der Lage, richtige Entscheidungen zu treffen. Gewiss sind Bauchentscheidungen dem rechnenden Urteil unterlegen, aber absolute Gewissheit gibt es nicht.
Es geht um ein ausgewogenes Zusammenspiel aus der Klugheit der Vernunft und der Klugheit der Gefühle, auf die auch der Psychologe Gerd Giegerenzer in seinen Publikationen („Bauchentscheidungen“, „Risiko“) verweist. Sind die Variablen eines Problems bekannt, ist es besser, rational zu entscheiden. Bei einem Problem mit vielen Unbekannten, ist es häufig richtig, sich vom Bauchgefühl leiten zu lassen.
Natürliche Intelligenz: Der Schlüssel zu einer aufgeklärten Gesellschaft
Steven Pinker: Mehr Rationalität. Eine Anleitung zum bessern Gebrauch des Verstandes. Aus dem Englischen von Martina Wiese S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021.
Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller: Vorwort. In: Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.
Daniel Kahneman: Schnelles Denken, Langsames Denken. Aus dem amerikanischen Englisch von Thorsten Schmidt. Siedler Verlag, München 2012.
Werner Neumüller: Die Grenzen der Rationalität. In: Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.