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Marken im Wertedilemma

Klimasünden beklagen, aber dicke SUVs bauen? Regenbogenflaggen zeigen, aber nicht in totalitären Ländern? Kunden strafen Marken ab, die ihre Werte nur halbherzig vertreten.

Von Nina Rieke und Hans-Christian Schwingen

Die vergangenen beiden Jahre haben uns vor Augen geführt, wie verwundbar wir Menschen sind und in welchen Situationen wir besser zuhören sollten – anderen Menschen wie uns selbst. Im besten Fall haben uns die Erfahrungen der Pandemiezeit geholfen, zur Besinnung zu kommen und uns mit einem verantwortungsvolleren Konsum zu beschäftigen, bei unseren Kaufentscheidungen auch den Blick in die Zukunft zu berücksichtigen. Das gilt nicht minder für den zwischenmensch-lichen Umgang, den wir miteinander pflegen möchten.

Damit stellt sich aber auch die Frage nach der Relevanz und Glaubwürdigkeit von Unternehmen und Marken: Welche Rolle wollen sie in der Gesellschaft künftig spielen? Welche Werte sind ihnen wichtig?

Nehmen wir beispielsweise BMW. Dessen Vorstandsvorsitzender Oliver Zipse teilte im September 2021 in einem Interview mit dem "Handelsblatt" die Erkenntnis, dass die Menschheit dem Planeten jährlich 100 Milliarden Tonnen Rohstoffe entnehme, weshalb man sich fragen solle, ob ein Auto in Zukunft noch bis zu 70 bis 80 Prozent aus Primärrohstoffen bestehen müsse. Gute Frage. Gleichzeitig kündigt der Automobilhersteller ein Monster-SUV mit Plug-in-Hybrid-Antrieb an, das mit mehr als 5 Metern Länge, 2,20 Metern Breite, 750 PS und 2,6 Tonnen Leergewicht gerade mal 80 Kilometer elektrische Reichweite bietet. Innovation? Verantwortung? Nachhaltigkeit?

Oder die "Bild"-Zeitung, die ihren Leserinnen und Lesern regelmäßig zuruft: "Bild Dir Deine Meinung!" Und dann mit tendenziösen Schlagzeilen wie "Experten-Trio schenkt uns Frust zum Fest" unabhängige Wissenschaftler an den Pranger stellt, die der Politik mit Szenarienmodellen lediglich Optionen im Umgang mit der Corona-Pandemie aufgezeigt haben. In Wirklichkeit müsste der Claim wohl eher heißen: "Bild Dir unsere Meinung." Wahrheit? Anstand? Fairness?

Cisco und Lenovo sind nur zwei von vielen Unternehmen, die während der Fußball-Europameisterschaft im Sommer 2021 aus Solidarität mit der LGBTQ+-Bewegung ihre Markenlogos in Regenbogenfarben geschmückt und auf ihre Websites gestellt haben – jedoch nicht im Einflussbereich totalitär regierter Länder (genauer gesagt: Märkte). Vielfalt? Ehrlichkeit? Solidarität?

Wie passt das zusammen?

Nach Angaben der Unternehmensberatung McKinsey werden 65 Prozent der Kundinnen und Kunden in ihrer Kaufentscheidung von den Werten eines Unternehmens und den Aussagen der Mitarbeitenden beeinflusst. Ja, Menschen wünschen sich mehr Sinnhaftigkeit und Werteorientierung und trauen Marken dies generell auch durchaus zu. Allerdings finden sie sie häufig nicht verwirklicht. So bleiben Marken in einem Wertedilemma hängen: Sie spüren eine hohe Erwartung an die strategische Markenführung, die durch die globale Pandemie, wirtschaftliche Instabilität und anhaltende soziale Ungleichheit noch verstärkt wird. Doch sie sind nicht in der Lage, diese Erwartungen konsequent und konsistent zu erfüllen.

Die gesellschaftlichen Entwicklungen setzen Marken vermehrt unter Rechtfertigungsdruck, sich klar zu positionieren und ethische Grundsätze zu postulieren, die im Unternehmenszweck verankert sind. Inzwischen lassen sich Geschäftsauftrag und gesellschaftliche Verantwortung nicht mehr trennen. Wo es den Menschen einst noch primär um Selbstverwirklichung und individuelle Freiheit ging, finden heute andere Werte rege Zustimmung.

Gerade in gesättigten Wohlstandsgesellschaften zeigt sich schon länger, dass die materielle Befriedigung von Kundenbedürfnissen nur eine, aber nicht die bestimmende Komponente gesellschaftlichen Wohlstands ist – und dass viele nicht materielle Dimensionen an Bedeutung gewinnen. Ichbezogene Werte wie Macht, Status, Dominanz, Autorität sind uncool und werden gesellschaftlich zunehmend geächtet. Gleichzeitig entwickelt sich eine Sehnsucht nach wirbezogenen Werten wie Gemeinsinn, Solidarität, Empathie, Kooperation.

Marken – und die Menschen, die sie erschaffen haben, mitgestalten, leben und weitertreiben – sind gut beraten, sich intensiv mit Werten zu befassen. Diese sind ein wesentliches Mittel, um die Verbindung zu Menschen authentisch und nachvollziehbar zu definieren. Werte sind aus unserem Erleben im Alltag das, was Menschen und Marken verbindet. Sie haben individuelle Relevanz und sind gleichzeitig ein gesellschaftlicher Kitt. Sie sind fest in uns verankert und steuern, wie und warum wir ein bestimmtes Verhalten zeigen – auch beim Konsum. Und sie halten eine Gemeinschaft oder Gesellschaft auf soziokultureller, politischer und wirtschaftlicher Ebene überhaupt erst zusammen.

Zeigt eine Marke ein hohes Maß an Überschneidungen zwischen ihren eigenen Werten und denen, die Menschen und Gesellschaft umtreiben, kann sie sich aus eigener Kraft nach vorn bewegen. Dabei dreht sich die zentrale Aussage um die Frage: "Wofür will sich unsere Marke starkmachen?" Authentische Kundenbeziehungen herzustellen ist eine große Herausforderung, und nur wenige Marken kommen tatsächlich über das pure Messaging hinaus. Warum? Weil der Wille zu echten Beziehungen fest in der Unternehmenskultur verankert sein muss. Wie etwa bei Viessmann, einem Anbieter von Heiztechnik und Klimalösungen. Dort gehören ein enger Austausch und eine konstruktive Rückkopplung mit Handwerkern ebenso wie mit Endkunden zum festen Co-Creation-Prinzip. Neue Produkt- und Serviceideen werden auf diese Weise gemeinsam entwickelt – zum Beispiel das "Heating as a service"-Abomodell, bei dem die Heizung gemietet oder geleast und nicht gekauft wird. Das hat den Vorteil, dass Kunden immer die neueste, effizienteste Technik bei bis zu 30 Prozent weniger Heizkosten bekommen, Wartung und Reparatur inklusive.

Es ist harte Arbeit, ein Unternehmen dazu zu bewegen, offenere und vertrauensvollere Beziehungen in der täglichen Kundenerfahrung zu schaffen. Dafür muss das Management organisatorische Werte und (Selbst-)Verpflichtungen etablieren, die wirklich kundenorientiert sind, und sie in die tägliche Entscheidungsfindung der Führungskräfte einbeziehen sowie im Verhalten der Mitarbeitenden verankern.

Nie war es für Unternehmen und Marken wichtiger, den eigenen Wertekompass unter die Lupe zu nehmen und womöglich neu zu justieren. Das Marktforschungsunternehmen Kantar wird nicht müde, die Bedeutung einer klaren Markenausrichtung hervorzuheben. Im Rahmen der jährlichen globalen BrandZ-Markenerhebung hat Kantar festgestellt, dass Marken mit einer spezifischen Unverwechselbarkeit einen bis zu 70 Prozent höheren Impact auf den Umsatz haben als Marken, bei denen dies nicht der Fall ist.

Prüfen Sie daher gewissenhaft, ob Ihre Organisation tatsächlich liefern kann, wofür sich Ihre Marke starkmachen will: Will sie das Thema Werteorientierung ernsthaft angehen und sich auf den Weg begeben, diese langfristig bereichsübergreifend einzuführen? Und ist sie bereit, die notwendigen Schritte einzuleiten, damit es nicht nur bei der Ankündigung oder einem bloßen Versprechen bleibt? Denn die Wahrhaftigkeit werteorientierter Marken messen Kunden an ihren Taten. Nicht an ihren Worten. © HBm 2022

Die Autoren

Nina Rieke ist Gründerin und Geschäftsführerin von Whatsnextnow, einem Netzwerk von Strategieberaterinnen und -beratern. Sie ist Expertin für Marken- und Kommunikationsstrategie, systemischer Business Coach und Facilitator für Transformationsprozesse.

Hans-Christian Schwingen ist Experte für Markenstrategie und Markenführung. Er war bis 2020 Chief Brand Officer bei der Deutschen Telekom und davor unter anderem bei Springer & Jacoby und Audi. Schwingen erhielt eine Reihe von Auszeichnungen, darunter 2016 als "CMO of the Year".

Dieser Artikel erschien erstmals in der Mai-Ausgabe 2022 des Harvard Business managers.

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