Maximalismus: Was die neue Überflußgesellschaft mit Nachhaltigkeit verbindet
Nachhaltigkeit wird in der gesellschaftlichen Entwicklung häufig mit Verzicht in Verbindung gebracht, und auch die Lust am Überfluss ist in Verruf geraten. Minimalismus wurde in den vergangenen Jahren für viele zur Lebensphilosophie: Das Leben sollte entrümpelt und von Überflüssigem befreit werden. „Immer mehr Menschen haben in den vergangenen Jahren ihre Konsumgewohnheiten überdacht und wollten ein bewussteres Leben führen. Für die einen war weniger mehr. Die anderen achteten gezielter auf das, was sie kauften, wie und wo es hergestellt wurde und welche Folgen der tägliche Gebrauch hat“, sagt die Nachhaltigkeitsexpertin Claudia Silber, die bei der memo AG die Unternehmenskommunikation leitet. Aktuelle Einrichtungskataloge zeigen, dass Wohn- und Arbeitsräume inzwischen auch viel Platz für Dekoration, Fülle und Buntes lassen. Das deckt sich mit dem Trend zum maximalistischen Einrichtens: Es lebe der Überfluss!
In Blogs, Magazinen und in Schaufenstern wird die neue Opulenz gefeiert: Möbel mit üppigen Kurven, dicken Polstern und bauschigen Kissen. Impulse gehen vor allem von England aus: „Die Briten bevorzugen seit jeher die detailverliebte Inneneinrichtung, anders als die kühle Funktionalität der Skandinavier. Von den Salonhöhlen der viktorianischen Ära zu den pompös ausstaffierten Tea Rooms, etwa bei Fortnum & Mason in London: Samtsessel und Silberkannen wärmen das Gemüt, wenn die politische Großwetterlage durchwachsen ist“, schreibt Anne Goebel in der Süddeutschen Zeitung, wo sie auch auf die Unternehmerin Tania James verweist, die den maximalistischen Wohnstil für ein „linderndes Rezept gegen Trübsal in traurigen Zeiten“ hält.
Der neue Überfluss ist kein Übel, denn es geht heute nicht darum, „weniger schlecht“, sondern „mehr gut“ zu sein. Maximalismus hat mit intelligenter Verschwendung zu tun und ist deshalb auch ein wichtiger Aspekt der Nachhaltigkeit, der nicht ausgeblendet werden sollte. Die Welt verarmt keineswegs, wenn Menschen Überfluss genießen und sich mit Vielfalt in produktiver Weise beschäftigen. Der Chemiker, Verfahrenstechniker und visionäre Problemlöser Prof. Michael Braungart, der das Cradle to Cradle-Denken („von der Wiege bis zur Wiege“) als Bezugssystem benutzt, hat maßgeblich dazu beigetragen, die Fülle wieder wertzuschätzen. Der üppig blühende Kirschbaum mit seinem Überfluss an Schönheit und schneller Vergänglichkeit steht für ihn zugleich für das, was er ist und tut. Ein Baum produziert ununterbrochen positive Emissionen. Da er wachsen will, gibt er nicht nur Sauerstoff ab - er möchte auch größer werden, will mehr CO2 verbrauchen und Sauerstoff abgeben.
Natürliches Wachstum lässt sich nicht aufhalten. Der österreichische Chocolatier Josef Zotter fragte sogar: Warum sollte man das tun? Natürliches Wachstum künstlich zu verhindern – auf so eine Idee würde er nie kommen. Er ist sich allerdings auch bewusst, dass der Tag kommen wird, an dem der Prozess abbricht. Bis dahin sollten wir es mit Goethe halten:
Stürze dich kühn
in die Fülle des Lebens.
Weitere Informationen:
Michael Braungart und William McDonough: Intelligente Verschwendung. Auf dem Weg in eine neue Überflussgesellschaft. München 2013.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Wohnen 21.0: Grundzüge des Seins von A bis Z: global – lokal – nachhaltig. Amazon Media EU S.à r.l. 2018.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Von Lebensdingen: Eine verantwortungsvolle Auswahl. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.
Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.