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Medizintechnik, Innovation und Gemeinwohlökonomie: Die fühlende Prothese

Viele Medizintechnik-Unternehmen stecken heute in der Krise, weil sie zu lange an uralten Produkten festhalten, nicht auf richtiges Management setzten, für ihre Probleme vor allem externe Gründe (Währungsverluste, weltweit politische Turbulenzen und Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen) anführen und nicht erkennen, dass die wahren Probleme innen liegen (internes Bürokratentum und eine veraltete Führungskultur). Qualität wird zunehmend durch Quantität ersetzt. Statt um Forschung und Lehre geht es häufig um das Einwerben von Drittmitteln, oder es wird auf Forschung und Entwicklung verzichtet. Werden dann die Preise angezogen, geht das auf Kosten der Patienten – und unserer Zukunft.

Es bedarf deshalb einer ständigen Bereitschaft zu lernen, Wissen für alle bedarfsgerecht verfügbar zu machen, Hierarchiegrenzen aufzubrechen und vernetztes Denken zu ermöglichen. Wie Medizin, Chirurgie, Orthopädie- und Konstruktionstechnik sowie Elektronik, Programmierung und Design nachhaltig zusammenarbeiten, zeigt das das folgende Beispiel.

Nach der Entwicklung der weltweit ersten gedankengesteuerten Armprothese ist Prof. DI Dr. Hubert Egger eine weitere Sensation gelungen: Es steht nun die Markteinführung der „fühlenden“ Beinprothese bevor. Realisiert wurde die Marktfähigkeit von dem österreichischen Startup Unternehmen Saphenus Medical Technology, unter Mitwirkung von Co-Founder Toni Innauer. Etwa 50 Prozent der Prothesenträger leiden an Phantomschmerzen. Häufig können bisher nur schwere Schmerzmittel (z.B. Opiate, Morphin) vorübergehende Linderung bewirken. Langfristige nachhaltige Therapieformen haben sich bisher nicht durchgesetzt.

Als er vor vier Jahren erstmalig von der fühlenden Beinprothese berichtete (gezeigt wurde ein erstes Funktionsmuster), ging diese Nachricht um die Welt: Gezeigt wurde damals ein Testanwender mit dem ersten Funktionsmuster, das an chirurgisch umgeleitete und reaktivierte sensorische Nerven ansetzt. Nach vierjähriger Entwicklungsarbeit hat das österreichische Unternehmen Saphenus das Bionik-Konzept übernommen und das darauf basierenden Prothesen Add-on „Suralis“ zur Serienreife entwickelt: Damit kann jede bestehende Prothese (unabhängig vom Hersteller) nachgerüstet werden. Olympiasieger Mag. Toni Innauer - Saphenus-Mitgründer der ersten Stunde - freut sich, dass die Markteinführung in wenigen Wochen starten kann, denn: der „bionische Ansatz verbessert die Lebensqualität enorm.“

Nach der ersten klinischen Fallstudie von Prof. Dr. Hubert Egger sowie OA Dr. Eva Maria Baur mit ihrem Team vom Universitätsklinikum Innsbruck wurde das Ärzteteam um Doz. Dr. Alexander Gardetto von der Südtiroler Klinik Brixsana ergänzt und um Studien erweitert. Das Tiroler Ärzteteam leistet Pionierarbeit und hat die sensorische Nervenumleitung für das neue Medizinprodukt weltweit das erste Mal bei einem Menschen mit Oberschenkelamputation durchgeführt: „Die Berücksichtigung des technischen Fortschritts in der Prothetik ist in jeder Phase der prothetischen Versorgung und gerade bei chirurgischen Amputationen wichtig. Ziel ist es, dass Betroffene rasch davon profitieren und chronische Schmerzen möglichst zu keinem Zeitpunkt im Leben auftreten“, so Alexander Gardetto.

Viele Menschen mit Amputationen leiden unter sogenannten Phantomschmerzen: Weil das Gehirn vergeblich versucht, Informationen vom nicht mehr vorhandenen Fuß abzurufen, verstärken sich diese Schmerzen. Bis dato hat sich zur nachhaltigen Behandlung von Phantomschmerzen keine Therapie durchgesetzt. Mit der Erfindung der fühlenden Prothese erhält das Gehirn wieder sensorische Informationen. Hubert Egger hat mit einem Team an Ärzten eine Methode entwickelt, bei der Betroffene ihren durch Amputation verlorenen Fuß wieder spüren. Eva-Maria Baur (Univ. Klinik Innsbruck bzw. Garmisch-Partenkirchen, Deutschland) und Alexander Gardetto in der Südtiroler Klinik Brixsana waren an jahrelangen klinischen beteiligt, die den Erfolg der TSR-Methodik dokumentieren.

Das Prothesen Add-on Suralis ist ein patentiertes Feedbacksystem, mit dem jede bestehende Prothese (unabhängig vom Hersteller) nachgerüstet werden kann. Es wurde vom renommierten Industriedesigner und Professor der Bauhaus Uni Weimar, Andreas Mühlenberend, gestaltet. Die Prothese mit dem Zusatzteil Suralis bekommt „Fühleigenschaften“. Suralis besteht aus einem Sensor-Innenschuh, der die Abrollbewegungen beim Gehen aufnimmt und einer Funkübertragung (überträgt die Abrollbewegung an den Amputationsstumpf). Die Aktoren-Einheit gibt die Informationen der Abrollbewegung an die Nerven jenes Hautareals weiter, das zuvor zur Aufnahme der Abrollinformation chirurgisch vorbereitet wurde. Diese nicht-invasive Informationsübertragung wird vom Gehirn als Information des verlorengegangenen Fußes wahrgenommen. Das Ergebnis: Der Phantomschmerz geht zurück oder kann vollständig eliminiert werden.

Ein weiterer Vorteil: durch das authentische Fühlen wird die unterschiedliche Beschaffenheit des Bodens erkannt. Das verbessert die Gangstabilität und macht Gehen sicherer. Das Prothesen Add-on Suralis wird von einem zertifizierten Orthopädietechniker angepasst und kann auch in Kombination mit einer weiteren Wechselprothese verwendet werden.

Ab sofort können sich Betroffene unter saphenus.com melden und nähere Informationen abrufen. Jeder Versorgung geht eine ausführliche ärztliche Prüfung sowie eine orthopädietechnische Beratung an mehreren Standorten voraus.

• Universitätsklinik Innsbruck

• Privatklinik Brixsana (Brixen/Südtirol)

• Praxisgemeinschaft Garmisch-Partenkirchen

„Wir wollen nicht nur im D-A-CH-Raum präsent sein, die Zusammenarbeit mit Kliniken und Orthopädietechnikern in weiteren europäischen Ländern wird im nächsten Schritt angestrebt. Wir wollen die Kooperationen mit Kliniken und wissenschaftlichen Einrichtungen noch weiter intensivieren und die Prothesenhersteller als Partner gewinnen“, betont Rainer Schultheis, Geschäftsführer von Saphenus Medical Technology. Ein weiterer Meilenstein für die Expansion ist die FDA-Zulassung (Food and Drug Administration, USA), um auch im nordamerikanischen und australischen Markt präsent zu sein. Saphenus arbeitet mit führenden Wissenschaftern im In- und Ausland zusammen und kooperiert unter anderem auch mit der AUVA (Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt) im Bereich Sensorik in der Exoprothetik.

Die österreichische Saphenus Medical Technology GmbH wurde 2016 gegründet und ist ein Medizintechnikunternehmen, das auf innovative Technologien im Bereich der Sensorik und Aktuatorik fokussiert ist. Das Unternehmen ist bestrebt, mit nationalen und internationalen wissenschaftlichen Institutionen und Forschungseinrichtungen zusammenzuarbeiten, um weitere Innovationen in der Medizintechnik voranzutreiben. Die intelligenten Sensorsysteme für das Produkt Suralis wurden von IEE, einem der weltweit führenden Automobilzulieferer mitentwickelt. Die Entwicklung von Suralis (einem Prothesen Add-on) wurde gefördert von Accent, AWS, FFG und dem EU-Förderinstrument „Horizon 2020“.

Saphenus ist Mitglied der Gemeinwohlökonomie GWÖ) www.ecogood.org, Die weltweit wachsende Bewegung entstand 2010 auf Basis des gleichnamigen Buches von Christian Felber. Er entwickelte das Konzept der Gemeinwohl-Ökonomie und ist einer der bekanntesten Vertreter der alternativen Wirtschaftsszene. Der Österreicher setzt sich dafür ein, gemeinsame Ideen in der Praxis umzusetzen und Vertrauen, Verantwortung, Mitgefühl, Teilen und Solidarität zu fördern. Felber gehört zu jenen, die gesellschaftlichen Wandel als ihr primäres Ziel deklarieren und nicht darauf warten, bis andere handeln.

In der „Gemeinwohl-Bilanz“, dem Herzstück der Gemeinwohl-Ökonomie, werden Werte wie Transparenz, soziale Verantwortung, ökologisch nachhaltiges Wirtschaften und gesamtgesellschaftliche Solidarität gemessen. Es werden Punkte auf einer Skala von -2.850 bis +1.000 vergeben. Kern ist die Analysematrix mit 17 Indikatoren, die auf einer DIN A4-Seite Platz finden. Sie verbindet Werte wie ökologische Verantwortung, Gerechtigkeit, Transparenz und Mitbestimmung mit den Berührungsgruppen eines Unternehmens, das mit Hilfe der „Matrix“ dokumentiert, wie es humanistische Werte gegenüber Mitarbeitern, Lieferanten, Kunden, Investoren und der Gesellschaft lebt. Ergänzt wird die Analysematrix von einem dazugehörigen Handbuch, das Anregungen und Best-Practice-Beispiele enthält. Beide sind kostenlos erhältlich.

Das Punktesystem ermöglicht die Einordnung des eigenen Engagements und damit die Grundlage für eine konsequente Nachhaltigkeitsstrategie. Je höher die Punktezahl, umso mehr Vorteile können dem Unternehmen gewährt werden: günstigerer Mehrwertsteuersatz, niedrigerer Zoll-Tarif, günstigerer Kredit bei der „Gemeinwohl-Bank“ oder Vorrang im öffentlichen Einkauf.

Die „Gemeinwohl-Bilanz“ ist ein Strategie- und Steuerungsinstrument der Unternehmensführung – unabhängig von der Größe der Organisation. Auch wenn Unternehmen verschiedene Wege und Orientierungsrahmen im Nachhaltigkeitsmanagement zur Verfügung stehen wie EMAS Plus, UNGC, OECD-Leitsätze, Deutscher Nachhaltigkeitskodex, ISO 26000 und Global Reporting Initiative (GRI), so überfordern viele Standards gerade kleine Unternehmen: Die Auditierungs- und Lizenzierungskosten sind hoch, und der Schwerpunkt dieser Standards liegt vor allem auf einer Berichterstattung als auf einer gezielten nachhaltigen Entwicklung. Die GWÖ-Bilanz wird im ersten Schritt als Selbsteinschätzung in Form eines ausführlichen GWÖ-Berichts erstellt. Anschließend prüft und bewertet ein externer GWÖ-Auditor die Angaben.

Mit Hilfe eines Punktesystems ergibt sich ein direkter Vergleich zwischen der Selbsteinschätzung und der Einschätzung des externen GWÖ-Auditors. Resultate werden im Audit-Bericht veröffentlicht. Das dazugehörige Testat gibt die Bilanzsumme (die erreichte Gesamtpunktzahl) bekannt. Daran lässt sich der Beitrag, den das Unternehmen für das Gemeinwohl leistet, messen und vergleichen. Ein Gewinninteresse ist mit der Zertifizierung nicht verbunden, auch fallen keine Lizenzkosten an. Veränderungen im Bewertungsrahmen werden öffentlich diskutiert und dokumentiert.

Weltweit engagieren sich immer mehr Menschen, die Korrekturen in der Wirtschaft für notwendig halten und sich für den GWÖ-Ansatz aussprechen. Ökonomischer Erfolg wird hier nicht nur in Geld, sondern mit nicht-monetären Nutzwert-Indikatoren gemessen – auf der Ebene des Unternehmens als auch der Volkswirtschaft. Die Bewegung versteht sich als partizipativer, lokal wachsender Prozess mit globaler Ausstrahlung.

Weiterführende Informationen:

Sensor-Schuh lässt Prothesenträger Untergrund spüren

Eine Beinprothese, die der Betroffene spürt

Beinprothese: Endlich kein Phantomschmerz mehr

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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