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Der französische Reifenhersteller Michelin erlaubt seinen Werksarbeitern, ihre Arbeit selbst zu organisieren – mit großem Erfolg. Das Management gewinnt dadurch neue Freiheiten.

Von Gary Hamel, Michele Zanini

Bis heute ist in Unternehmen die Annahme weitverbreitet, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor nur über minimale Fähigkeiten verfügen – ein Vorurteil, das Millionen Menschen die Chance verwehrt, ihre Fähigkeiten zu verbessern und ihren Verstand zu schulen.

Die Auffassung, dass Angestellte mehr oder minder programmierbaren Maschinen gleichen, geht auf die ersten Jahrzehnte der Industriellen Revolution zurück, als die meisten Arbeiter schlecht ausgebildet waren. Bestärkt wurde sie 1911 durch Frederick Taylor, als dieser "Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung" veröffentlichte. In dem Buch schrieb er über den typischen Arbeiter, dieser sei "so dumm, dass er den Begriff 'Prozent' nicht versteht". Die Lösung, so Taylor, bestehe darin, die einfachen Arbeiter jeglichen Urteils zu entheben. "Nur die zwangsweise Standardisierung von Methoden, der zwangsweise Einsatz der besten Geräte und Arbeitsbedingungen und eine zwangsweise Zusammenarbeit stellen sicher, dass ... die Arbeit schneller erledigt wird." Und wem oblag es, all das durchzusetzen? Natürlich professionell ausgebildeten Managern.

Taylors Modell einer industriellen Bürokratie schuf ein Kastensystem mit Denkern und Machern, das bis heute fortbesteht. Zwar haben sowohl die Idee des Total-Quality-Managements als auch die Kaizen-Bewegung (ein Ansatz zur kontinuierlichen Verbesserung) das "Empowerment" der Arbeitnehmer betont. Das Management überträgt den Mitarbeitern mehr Selbstbestimmung und Verantwortung. Dennoch dominiert nach wie vor der simple bürokratische Ansatz.

So ergab eine Umfrage des US-Meinungsforschungsinstituts Gallup 2019, dass nur ein Fünftel der amerikanischen Angestellten der Aussage "Meine Meinung scheint bei der Arbeit zu zählen" stark zustimmte – und weniger als ein Zehntel der Aussage "Ich gehe bei meiner Arbeit Risiken ein, die zu neuen Produkten oder Lösungen führen könnten". Im American Working Conditions Survey des Jahres 2015 (einer Untersuchung der amerikanischen Arbeitswelt durch die kalifornische Denkfabrik Rand Corporation – Anm. d. Red.) sagten nur 11 Prozent der Befragten, dass sie durchweg in der Lage seien, auf Entscheidungen Einfluss zu nehmen, die ihre Arbeit betrafen.

Obgleich die Angestellten von heute weit besser ausgebildet sind als ihre Vorgänger zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ist die Unterscheidung zwischen Managern und Angestellten – den Cleveren und den Folgsamen – noch immer tief verwurzelt. Infolgedessen bleibt ein riesiges Reservoir menschlichen Einfallsreichtums ungenutzt. Das schadet nicht nur der Leistung einzelner Unternehmen, sondern der Wirtschaft insgesamt.

Allerdings gibt es auf der ganzen Welt immer mehr Organisationen, die ihre Mitarbeiter vom Joch der bürokratischen Kontrolle befreit haben. Diese Unternehmen sind deutlich erfolgreicher als ihre Konkurrenten. Zu ihnen gehören Nucor, Amerikas führender Stahlproduzent, Buurtzorg, ein ambulanter Pflegedienst aus den Niederlanden, sowie Svenska Handelsbanken, eine Bank in Schweden. Sie sind, was das Empowerment der Arbeitnehmer betrifft, Vorbilder und zahlen überdurchschnittlich hohe Gehälter – jedoch nicht, weil sie außergewöhnlich großzügig sind, sondern weil ihre Mitarbeiter außergewöhnliche Werte schaffen.

Die Führungskräfte und Angestellten dieser Organisationen sind fest davon überzeugt: Auch "gewöhnliche" Arbeitnehmer sind zu außergewöhnlichen Leistungen fähig, wenn sie die Chance erhalten, zu lernen, sich weiterzuentwickeln und einen Beitrag zu leisten. Wenn Unternehmen konsequent nach dieser Überzeugung handeln, erhalten sie eine Belegschaft, die extrem kompetent, unermüdlich erfinderisch und leidenschaftlich auf den Kunden ausgerichtet ist.

Die Frage ist: Warum sind nicht mehr Unternehmen dem Beispiel dieser Vorbilder gefolgt? Selbst CEOs mit den besten Absichten haben hilflos dabei zusehen müssen, wie die hierarchischen Managementstrukturen ihrer Unternehmen den Enthusiasmus und die Originalität der Angestellten unterdrücken. So entdeckte zum Beispiel Jim Hagemann Snabe gegen Ende seiner Amtszeit als Co-CEO von SAP, dass der deutsche Softwareriese für jeden Job im Konzern mehr als 50.000 Kennzahlen angesammelt hatte. Er war entsetzt. "Wir versuchten, das Unternehmen mit der Fernbedienung zu führen", erinnert er sich. "Wir verfügten über all diese hervorragenden Mitarbeiter, doch wir hatten ihnen gesagt, dass sie ihre Gehirne ausschalten sollten."

In diesem Artikel zeigen wir einen Ausweg aus der Bürokratiefalle. Als Beispiel dient uns dabei der französische Reifenhersteller Michelin. Dieses Unternehmen hat viele der unausgesprochenen Normen infrage gestellt, die Frankreichs notorisch hierarchische Konzerne kennzeichnen. Deren Fabriken sind eher für militante Proteste als für einen konstruktiven Dialog mit dem Management bekannt. Unter dem Schlagwort der Responsabilisation – dem französischen Wort für "Empowerment" – hat Michelin seit 2012 die Selbstbestimmung und Verantwortung seiner Beschäftigten radikal gestärkt. Damit hat der Konzern die Zentralisierung rückgängig gemacht, die den Automobilsektor fünf Jahrzehnte lang geprägt hatte. Anfang 2020 war das Programm der Responsabilisation auf dem besten Weg, Verbesserungen in der Produktion im Wert von mehr als 500 Millionen Dollar zu erreichen. Das veranlasste Jean-Dominique Senard, Michelins CEO von 2012 bis 2019, dazu, es als einen seiner "herausragendsten Erfolge" zu bezeichnen.

Die Idee für Responsabilisation entstand aus Frustration. Mitte der 2000er Jahre hatte der Reifenhersteller ein konzernweites Programm namens Michelin Manufacturing Way (MMW) ins Leben gerufen. Ziel war, die Produktivität durch standardisierte Prozesse, Werkzeuge, Berichtssysteme und Leistungsprüfungen zu erhöhen. Damit stand das Unternehmen nicht allein da: Weltweit waren die zunehmend auf Kontrolle bedachten Autohersteller und ihre Zulieferer dabei, Arbeitsabläufe zu standardisieren. Doch als MMW eingeführt wurde, meldeten Fabrikleiter Bedenken an, dass es die Initiative und die Kreativität der Leute vor Ort verdrängen könnte. Zudem schien es im Widerspruch zu einem Unternehmenswert zu stehen, den einst der Mitbegründer Édouard Michelin formuliert hatte: "Zu unseren Prinzipien gehört, der Person, die eine bestimmte Aufgabe ausführt, auch die Verantwortung dafür zu übertragen, denn sie kennt sich damit aus." Jean-Michel Guillon, der Personalchef von Michelin, fragte daher damals einen Kollegen: "Laufen wir Gefahr, unsere Seele zu verlieren?"

Um das Jahr 2010 herum war klar, dass die Standardisierungsbemühungen immer weniger Erträge brachten. Zugleich setzten kürzere Produktzyklen, neue Wettbewerber und die wachsende Bedeutung von Dienstleistungen Michelin unter Druck, kreativer und flexibler zu werden. Auf der Suche nach einem Ausweg veranstaltete Guillon Anfang 2012 einen Workshop. Zwar gelang es den Teilnehmern nicht, einen neuen Plan auszuarbeiten. Doch sie kamen zu dem Schluss, dass die Teams in den Fabriken größerer Autonomie bedurften, um ihre eigenen Ziele zu verfolgen und die Arbeitsabläufe vor Ort zu verbessern.

Einer der lautstärksten Teilnehmer des Workshops war Bertrand Ballarin, Manager von Michelins Werk in Shanghai. In einem Unternehmen, das für seine langen Beschäftigungsverhältnisse bekannt war, war er eine Ausnahme, denn er hatte drei Jahrzehnte als Offizier in der französischen Armee verbracht und war erst 2003 zu Michelin gestoßen. Trotzdem hatte er sich schnell den Ruf erworben, Fabriken zu retten, die nicht die erwartete Leistung brachten. In jeder dieser Fabriken hatte Ballarin einen Geist gemeinsamer Ziele geschaffen, die Fähigkeiten der Arbeiter verbessert und den Teams in der Produktion mehr Freiheiten gegeben. Viele seiner hart gesottenen Kollegen betrachteten seine Vorgehensweise mit Skepsis. Sie hielten diese, wie Ballarin später scherzte, für "so nützlich wie Poesie".

Einige Wochen nach dem Workshop bot Guillon Ballarin an, als Verantwortlicher für die Beziehungen zu den Arbeitnehmern in die Personalabteilung zu wechseln. Angetrieben von dem Wunsch, mehr bewirken zu können, sagte Ballarin rasch zu. Er hatte das Gefühl, dass Michelin, ähnlich wie andere Unternehmen, "die Arbeit auf eine Weise organisiert hatte, der eine sehr engstirnige Sicht des Menschen zugrunde lag. Wir unterstellten, dass Menschen sich nur dann anstrengen, wenn sie überwacht oder finanziell motiviert werden. Infolgedessen nutzten die Mitarbeiter in unseren Fabriken nur einen Bruchteil ihrer Fähigkeiten." Die Lösung, glaubte er, war Responsabilisation. Bis zum Sommer 2012 hatte Ballarin eine entsprechende Initiative ausgearbeitet, die auf dem Engagement der Arbeitnehmer beruhte. Er nannte sie MAPP, nach der französischen Abkürzung für "Autonomes Management von Leistung und Fortschritt". Im ersten Schritt würde es darum gehen, Freiwillige zu gewinnen: Führungskräfte und Teams, die bereit waren, es auszuprobieren.

Ballarin tourte durch die Fabriken und stellte seine Pläne den lokalen Managern und Teams vor. Unter den Ersten, die sich anschlossen, war ein Montageteam im Werk von Le Puy, wo Traktorreifen hergestellt werden. "Als ich im Unternehmen anfing, merkte ich, dass in der Fabrikhalle viel Fachwissen verschwendet wurde", erklärte Olivier Duplain, der dort Teamleiter war. "Ich sah in dem Projekt eine große Chance, und als ich dem Team vorschlug, sich zu beteiligen, stimmten alle zu." Bis Oktober 2012 hatte Ballarin 38 Teams in 17 Werken für seine Pläne gewonnen. Insgesamt nahmen damit 1500 Personen teil, das entsprach etwa einem Prozent der Konzernbelegschaft.

Die folgenden Monate verliefen hektisch. In jeder der 17 Fabriken hielt Ballarin ein Kick-off-Meeting ab. Er erinnerte die Werksleiter an den Sinn der Übung: Die Teams sollten selbst Lösungen finden. "Die einzige Hilfe, die sie von Ihnen benötigen", warnte er, "besteht darin, sie zu bestärken, mutiger und kreativer zu sein."

Ballarin erläuterte jedem Team die Mission, die hinter Responsabilisation stand. Der Fokus lag auf dem "Was", nicht auf dem "Wie". Ballarin sagte den Teamleitern, sie sollten ihre Rolle vom Entscheiden zum Ermöglichen verlagern. Um die Entwicklung anzustoßen, könnten sie ihren Teams etwa zwei Fragen stellen: "Welche Entscheidungen könntet ihr ohne meine Hilfe treffen?" und "Welche Probleme könntet ihr ohne die Hilfe der Kollegen lösen, die sonst für Instandhaltung, Qualitätssicherung oder Produktionstechnik zuständig sind?"

Die Arbeiter sollten sich zunächst darauf konzentrieren, ihre Autonomie in nur ein oder zwei Schlüsselbereichen zu erweitern. Die Teams erhielten elf Bereiche zur Auswahl und wurden gebeten, ihre Fortschritte schriftlich und auf Videos zu dokumentieren. Zu Beginn ging es nur schleppend voran. Doch im März 2013 nahmen die Experimente Fahrt auf. Der Wendepunkt, sagt Ballarin, sei gekommen, als den Teams klar geworden sei, dass sie niemand aufhalten würde. Typisch waren die Erfahrungen zweier Teams, eines in Le Puy und eines im saarländischen Homburg.

Vor seinem 40-köpfigen Team stehend, stellte Duplain Responsabilisation mithilfe einer Frage vor: "Was von dem, was ich heute mache, könntet ihr euch vorstellen, morgen zu übernehmen?" Die Antwort überraschte ihn: Die Arbeiter hatten keine Ahnung, was er tagsüber tat, nachdem er jeden Morgen vorbeigeschaut hatte, um die Technik zu überprüfen und die Lage zu besprechen. Einige vermuteten sogar, dass er einfach nur im Café herumhing. Ihm wurde klar, dass er mit den Besonderheiten ihrer Arbeit ebenfalls nicht vertraut war. Also traf er mit seinen Mitarbeitern eine Abmachung: Er würde zunächst einige Schichten Seite an Seite mit ihnen arbeiten. Anschließend würden dann drei von ihnen – einer aus jeder Schicht – ihn eine Woche lang begleiten, um herauszufinden, an welchen Stellen sie mehr Verantwortung übernehmen könnten.

Die Schichtplanung war die erste Aufgabe, die die Arbeiter übernahmen. Duplain gab ihnen ein paar grundlegende Einschränkungen mit auf den Weg: Sie mussten etwa sicherstellen, dass jede Schicht Kollegen mit dem nötigen Mix an Fähigkeiten umfasste. Ansonsten hielt er sich aus dem Prozess heraus. Eine der ersten Entscheidungen des Teams bestand darin, altgediente Kollegen von Nachtschichten in Tagesschichten zu versetzen. Eine andere war, Kollegen mehr Flexibilität einzuräumen, wenn sie Schichten tauschen wollten. Nachdem es an der Autonomie Gefallen gefunden hatte, machte sich das Team daran, die Planung der Produktion zu übernehmen. Binnen weniger Wochen versah es diese Aufgabe höchst effektiv – sehr zur Überraschung der Planungsingenieure von Le Puy.

Das Pilotteam in Homburg stellte Komponenten wie Stahlcord oder Wulstkerne her. Weil es mit Problemen in den Arbeitsabläufen zu kämpfen hatte, entschied es sich dafür, sich am Anfang auf die Verbesserung der internen Abstimmung zu konzentrieren. In der Vergangenheit waren die täglichen Produktionsziele des Teams von den Ingenieuren des Werks festgelegt worden. Seit einiger Zeit allerdings erschwerte der Einsatz einer neuen Montagemaschine die Bemühungen, alle Anforderungen der internen Kunden zu erfüllen. An manchen Tagen produzierte das Team zu viel Material und an anderen zu wenig. Die Planungsingenieure arbeiteten seit Monaten daran, die Dinge in den Griff zu bekommen – hatten dabei aber nur geringen Erfolg.

Nachdem das Team das Problem über mehrere Wochen genau untersucht hatte, richtete es einen direkten Kommunikationskanal mit dem nachgelagerten Montageteam ein. Zu Beginn und am Ende jeder Schicht trafen sich Vertreter der beiden Teams für 15 Minuten, um technische Probleme zu besprechen und die Planung der Produktion zu koordinieren. Diese einfache Maßnahme allein reduzierte die Ausfallzeiten schon von zwei Stunden am Tag auf null.

Die Erfahrung von Homburg war Ballarin zufolge eine eindrucksvolle Lektion über die Grenzen der zentralen Planung. "Das Ingenieursteam kann nicht alle Fragen vorhersehen. Wenn Sie den Leuten erlauben, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln, und sie mit den nötigen Fähigkeiten dazu ausstatten, lassen sich Probleme deutlich effizienter lösen."

Wie ihre Kollegen in Le Puy suchten die Mitglieder des Homburger Teams nach anderen Bereichen, in denen sie selbst die Steuerung übernehmen konnten. Nach und nach übernahmen sie die Personaleinsatzplanung. Sie richteten sogar eine Gruppe auf WhatsApp ein, um in Echtzeit entscheiden zu können, wer wann anwesend sein sollte.

In der ersten Hälfte des Jahres 2013 arbeiteten die Teams des Projekts Responsabilisation noch unabhängig voneinander. Doch im Sommer begann Ballarin damit, sie untereinander zu vernetzen. Hilfe erhielt er dabei von Olivier Marsal, einem geschäftstüchtigen Manager aus der Produktion von Michelin. Die zwei begannen, monatliche Telefonkonferenzen abzuhalten. Zudem richteten sie online einen Raum ein, MAPPEDIA, wo Teams ihre Erkenntnisse austauschen und gemeinsame Probleme angehen konnten. Ballarin führte darüber hinaus eine Reihe von dreitägigen Workshops durch. Bei diesen Veranstaltungen teilten die Teams Videos von ihren Experimenten mit den anderen und arbeiteten dann gemeinsam daran, die Methoden zu definieren, die aus ihrer Sicht ein autonomes Team ausmachten. Dabei füllten die Mitglieder jedes Team zu Beginn eine Karte aus, auf der sie vier Fragen zu ihren Erfahrungen mit responsabilisation beantworteten:

  • Was hat sich konkret verändert?

  • Wie unterscheidet sich das von der bestehenden Praxis?

  • Warum war diese Veränderung wichtig?

  • Was waren die entscheidenden Faktoren, die sie möglich gemacht haben (zum Beispiel neue Fähigkeiten oder Informationen)?

Die Erkenntnisse aus diesen Workshops ließen sich in sechs Kategorien zusammenfassen: Entwicklung einer gemeinsamen Mission und gemeinsamer Ziele; Arbeitsorganisation; Entwicklung von Kompetenzen; Förderung von Innovation; Abstimmung mit anderen; Leistungssteuerung. Diese Kategorien bildeten die Basis eines Rahmenwerks für Teams, die sich dem Projekt der responsabilisation neu anschlossen. Entscheidend daran war, dass es sich nicht um ein theoretisches Konstrukt handelte, das Leute aus der Personalabteilung oder Berater erstellt hatten. Es handelte sich um ein detailliertes Konzept dessen, was sich in der Praxis vor Ort bewährt hatte.

Die Folgen für Produktivität und Engagement, die sich bis Ende 2013 beobachten ließen, waren bemerkenswert. Das Homburger Team etwa verzeichnete einen Rückgang der Mängel an einigen gängigen Reifentypen von 7 Prozent aller produzierten Einheiten auf 1,5 Prozent. Zugleich legte die Produktivität um 10 Prozent zu, Fehlzeiten sanken von 5 Prozent auf nahezu null. Teams aus anderen Werken vermeldeten ähnliche Erfolge.

Nachdem die ersten Pilotteams ermutigende Ergebnisse geliefert hatten, setzten sich Ballarin und Marsal höhere Ziele. Sie bahnten sich ihren Weg auf die Tagesordnung eines Treffens des Topmanagements im Dezember 2013. Ballarin zeigte eine Auswahl der Teamvideos, fasste die Leistungssteigerungen zusammen und wies auf die gestiegenen Kennzahlen für Engagement hin. Dann kam er auf sein großes Anliegen zu sprechen: Er wollte die Idee der Responsabilisation auf Ebene ganzer Werke testen – was die Werksleiter sowie eine Reihe von Abteilungen vor die Herausforderung stellen würde, ihre Rolle neu zu definieren. Und noch gewagter: Die Zentrale sollte einige Entscheidungsrechte an die beteiligten Werke abtreten.

Die Führungskräfte reagierten enthusiastisch. Sie wollten mehr über die Pilotprojekte erfahren. Florent Menegaux, der 2019 die Nachfolge von Senard als CEO antreten sollte, rief: "Wir haben die Chance, das Unternehmen zu sein, das wir immer sein wollten." Ballarin, der vor dem Treffen auf die Erlaubnis gehofft hatte, Responsabilisation in zwei Fabriken zu testen, verließ es mit dem Auftrag, das Konzept gleich in sechs Werken auszurollen. Guillon und Terry Gettys, Leiter Forschung und Entwicklung bei Michelin, meldeten sich freiwillig als Berater für die nächste Stufe der Experimente.

Einmal mehr begab sich Ballarin auf die Suche nach Freiwilligen. 18 Werksleiter hoben ihre Hände. Sechs Fabriken wurden ausgewählt, die sich geografisch und in ihren Geschäftsfeldern möglichst stark unterschieden. Sie lagen in Irland, Kanada, den USA, Deutschland, Polen und Frankreich.

Im Frühjahr 2014 fanden sich Vertreter jedes Werks zu einer dreitägigen Orientierung in der Zentrale ein. Sie wurden über die Arbeit der Pilotteams informiert und besprachen die Methoden, die in MAPPEDIA katalogisiert waren. Die Fabriken sollten die Lösungen übernehmen, die für den eigenen Kontext sinnvoll erschienen. Abweichend von anderen Konzerninitiativen sollte es keine Richtlinien von oben oder monatlichen Überprüfungen geben. Die Werke konnten jedoch auf die Unterstützung eines neuen Teams zurückgreifen, das aus ehemaligen Werksleitern und Spezialisten bestand, die die Lehren aus den Pilotprojekten kodifiziert hatten.

Im Verlauf des Sommers und Herbstes 2014 konkretisierten die Teststandorte ihre Pläne. Le Puy lud Mitarbeiter zu einem ganztägigen Brainstorming darüber ein, wie sich die Fabrik in ein Vorbild für Empowerment verwandeln ließe. Das Treffen brachte mehr als 900 Ideen hervor, die anschließend in 13 Schwerpunkten gruppiert wurden. Dazu gehörten teamübergreifende Abstimmung, vielseitige Fähigkeiten, kollegiale Entscheidungsfindung und die Übernahme einer Führungsrolle bei Qualität und Sicherheit. Zu jedem Schwerpunkt bildete sich ein kleines Team, bestehend aus Werksarbeitern, Managern und Mitarbeitern unterstützender Funktionen, um die vielversprechendsten Ideen in praktische Experimente umzusetzen.

Das Werk im polnischen Olsztyn veranstaltete zum Start ein Event mit 200 Teammitgliedern. Binnen zwei Tagen entwarf die Gruppe eine Reihe von Zielen für Responsabilisation, zum Beispiel das Delegieren der täglichen Produktionsplanung, die Einbeziehung der Arbeiter bei Einstellungen sowie eine Änderung der Vergütungskriterien. Wie in Le Puy bildeten sich für jedes dieser Ziele funktionsübergreifende Teams, um konkrete Ideen zu entwickeln und zu testen. Ein wichtiger Fortschritt gelang dem Team, das das Projekt startete, als es "Vertrauen" als Schlüsselbegriff für seine Experimente identifizierte. Werksleiter Jaroslaw Michalak erklärte: "Früher gingen wir von der impliziten Annahme aus, dass die Arbeiter an den Maschinen nicht vertrauenswürdig seien und Vertrauen verdient werden müsse. Nun bringen wir zunächst einmal jedem vollkommenes Vertrauen entgegen, und es liegt am Einzelnen und seinen Handlungen, ob er dieses Vertrauen verliert. Das mag nach einem trivialen Wechsel der Perspektive klingen, hat aber große Auswirkungen gehabt."

In den Testfabriken begannen die Produktionsmitarbeiter eine größere Rolle zu spielen, ob in der Sicherheit oder Qualität. Sie nahmen an hochrangigen Planungstreffen teil. Zum ersten Mal kamen sie bei Entscheidungen über das Anlagendesign, Investitionsprogramme, die personelle Ausstattung und die Jahresziele zu Wort.

Weil ihre Verantwortung zunahm, baten die Fabrikarbeiter um mehr Informationen. "Wir können nicht erwarten, dass die Menschen an den Maschinen die richtigen Entscheidungen treffen und ein gutes Urteilsvermögen in Geschäftsfragen besitzen, wenn sie nicht die dazu nötigen Informationen haben", bemerkte Manager Michalak. "Früher hatten die Arbeiter keine Ahnung davon, wohin die Reifen, die sie produzierten, gingen, und was der gesamte Herstellungsprozess kostete. Heute verfügen sie über die gleichen Informationen wie wir."

Die Standorte investierten auch in Weiterbildung. In Homburg entwickelten die Abteilungen für Instandhaltung, Qualitätssicherung und Technik Schulungen für die Mitarbeiter an den Maschinen. Die Instandhaltung zum Beispiel richtete einen Raum mit Geräten und Ersatzteilen ein, in dem Mitarbeiter üben konnten, Maschinen zu reparieren. Andere Werke wie Olsztyn und Greenville in US-amerikanischen Bundesstaat South Carolina führten Kurse ein, mit denen die Arbeiter an den Maschinen ihren Geschäftssinn schärfen konnten.

Während die Teams in der Produktion begannen, autonomer zu arbeiten, kümmerten sich die Manager der Teststandorte darum, ihre Rollen neu zu definieren. Jedes Werk entwickelte Trainingsprogramme zu Themen wie emotionale Intelligenz und "Leading from Behind" (auf Deutsch so viel wie: "Führen aus dem Hintergrund" – Anm. d. Red.) . In Greenville und Le Puy trafen sich die Manager alle paar Wochen zum Erfahrungsaustausch. Was hatten sie ausprobiert? Was funktionierte und was nicht? Die Unterstützung ihrer Kollegen half ihnen dabei, sich vom Chef zum Mentor zu wandeln.

Einige Werksmanager übertrugen wichtige Zuständigkeiten auf Mitarbeiter. In Olsztyn ging die Entscheidung, Produkte für den Versand freizugeben, vom Abteilungsleiter auf einen Teamleiter über. In Le Puy übergab Werksleiter Laurent Carpentier die Budgetierung, die Planung der Produktion, die Auswahl der Ausrüstung und die Pflege der Kundenbeziehungen an andere. "Ich bin direkt für Sicherheit und zentrale Personalfragen zuständig. Aber bei allem anderen ist es Sache der Teams, Lösungen vorzuschlagen und umzusetzen", erklärte er. "Jeder", sagte Teamleiter Duplain, "ist eine Ebene aufgestiegen."

Alle Seiten profitierten. Mehr Eigenverantwortung für die Arbeitnehmer bedeutete für die Manager mehr Freiheit, sich auf lohnendere Aufgaben zu konzentrieren, wie zum Beispiel den Ausbau der Fähigkeiten im Team und die Planung der Ressourcen. Ein Teamleiter fasste zusammen, wie sich seine Rolle dadurch verändert hatte: "Statt dass ich ihre Probleme löse, und das wahrscheinlich nicht auf die beste Art und Weise, lösen heute die Experten die Probleme – vor Ort und auf der Stelle."

Die Werke bei Michelin waren traditionell darauf ausgerichtet, dass die Abteilungen in der Zentrale Standards festlegten, Prozesse definierten und Produktionsquoten verteilten. Ballarin war klar, dass Responsabilisation ins Stocken geraten würde, sollten die Fabriken diese Aufgaben nicht langsam selbst übernehmen können. Den Zentralabteilungen die Zuständigkeit zu entreißen war eine Herausforderung, doch mehrere Werke machten dabei Fortschritte – und keines mehr als Olsztyn. Der Schlüssel dafür, so erkannten die lokalen Manager, lag darin, die Erlaubnis für ein gezieltes Experiment zu bekommen und dann die Resultate dafür zu nutzen, auf mehr Autonomie zu drängen.

Ihr erstes Experiment betraf die monatlichen Produktionsziele. Olsztyn lud Vertreter der zentralen Planungsabteilung zu einem eintägigen Workshop ein. Die Mitglieder des lokalen Teams erklärten, warum sie besser in der Lage seien, die Ziele festzulegen: Ihre Beziehungen zu den Kunden seien enger, und sie würden als Erste davon erfahren, wenn sich die Nachfrage verschieben würde.

Die Mitarbeiter aus der Zentrale stimmten einem einmonatigen Test zu. Dieser war ein klarer Erfolg, und mit der Zeit übertrug es die Zentrale allen Werken, ihre Ziele selbst festzulegen. Aufgrund ähnlicher Experimente übernahm das Werk Olsztyn nach und nach auch die Qualitätskontrollen sowie Entscheidungen über größere Ausgaben im Einkauf, zum Beispiel für die Gießformen für Reifen. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten ging die Kontrolle durch die Zentrale zurück, statt zu wachsen.

Ende 2016 besuchte Ballarin zusammen mit dem Leiter der Fertigung sowie Mitgliedern des MAPP-Teams jedes Testwerk. Ziel war es, die Fortschritte zu beurteilen. Natürlich fielen die Ergebnisse unterschiedlich aus. Doch in Homburg hatte Responsabilisation nicht nur die Produktivität um 10 Prozent gesteigert, sondern es dem Werk auch ermöglicht, die Belegschaft um ein Drittel zu erhöhen, ohne zusätzliche Manager einzustellen. Le Puy und Olsztyn vermeldeten vergleichbare Verbesserungen. Schon bald bemühten sich weitere Standorte darum, es den Vorreitern nachmachen zu dürfen.

Die Wellen, die MAPP geschlagen hat, reichen weit über die Fertigung hinaus. Eine Umstrukturierung, die von 70 bereichsübergreifenden Teams mit geringer Beteiligung der Geschäftsleitung entwickelt wurde, hat die Entscheidungsstrukturen weiter dezentralisiert. Es war ein Zeichen dafür, dass Responsabilisation von Dauer war, als Menegaux das Empowerment zum neuen Markenzeichen des Unternehmens erklärte. "Wir sind zu groß und zu global", sagte er, "um uns nicht auf die Fähigkeiten all derer zu stützen, die bei uns arbeiten."

Im Gegensatz zu den meisten Initiativen, die von der Spitze angestoßen werden, hielt Responsabilisation zu Anfang die Ziele allgemein und die Mittel absichtlich vage. Es war wichtiger, Engagement aufzubauen, als die Umsetzung spezifischer Verfahren zu forcieren. Ballarin und sein Team verstanden, dass Wandel nur durch Überzeugung und Beharrlichkeit eintritt, nicht durch Aufträge und Kennzahlen. Sie erkannten, dass sie nicht über die nötige Erfahrung vor Ort verfügten, um all das zu erkennen, was sie in der täglichen Arbeit verändern mussten. Stattdessen verließen sie sich auf Pilotteams, um die vielen Dimensionen der Responsabilisation zu entdecken und festzuhalten.

Viele Arbeitsplätze sind vor allem deshalb unattraktiv, weil die Mitarbeiter dort keine Möglichkeiten sehen, sich persönlich weiterentwickeln und etwas zum Erfolg des Unternehmens beitragen zu können. Der Reifenhersteller Michelin zeigt, was eine Organisation erreichen kann, die an das Potenzial ihrer Mitarbeiter glaubt. Dazu muss sie in die Fähigkeiten der Menschen investieren und sie für ihren Einsatz belohnen. Diese Alchemie des Arbeitsplatzes – die Jobs ohne Zukunft in Jobs mit Perspektive verwandelt – erfordert keine neuen Gesetze oder Milliarden an öffentlichen Ausgaben. Es braucht lediglich den festen Willen dazu, bessere Unternehmen zu erschaffen – und zwar solche, in denen alle Mitarbeiter ihr geistiges Potenzial voll ausschöpfen können. 

© HBP 2020

Autoren

Gary Hamel ist Gastprofessor für Strategie und Entrepreneurship an der London Business School sowie Gründer des Management Lab, einer Forschungseinrichtung mit Schwerpunkt Managementinnovationen. Hamel gilt als einer der weltweit führenden Experten für Open Innovation und flache Hierarchien in Unternehmen. Michele Zanini ist Geschäftsführer des Management Lab. Er und Hamel sind Autoren des Buchs "Humanocracy: Creating Organizations as Amazing as the People Inside Them" (Harvard Business Review Press 2020).

Dieser Artikel erschien in der September-Ausgabe 2020 des Harvard Business Managers

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