Mensch Barlach: Warum wir Gestalt in allem wahrnehmen sollten
„Ob man in seiner Kunst immer auf das unermessliche Elend hinweisen muss? Gewiss, wenn man das Müssen fühlt“, fragt Ernst Barlach in einem Brief an Adolf Scheer am 26. Februar 1930. Seine Arbeiten sind unbequeme Mahnbilder zwischen Hoffnung und Scheitern, Anklage und Mitleid. Der „redliche Arbeiter am Wort und am Bild“ (Heinrich Mann) nahm als Künstler „Gestalt in allem“ wahr und zeigte Fliehende, Träumende, Heitere, Tiefsinnige, Wegsucher und Ausweglose sowie Bettler und Flüchtlinge, die auch heute noch unsere Ängste, Verzweiflung und Fragen artikulieren. Ernst Barlach wurde am 2. Januar 1870 in Wedel bei Hamburg als ältester Sohn eines Arztes und seiner Frau geboren. Knöpfe, die ihm zum Spielen gereicht wurden, aß er auf, auch Zigarrenstummel, die sein Vater wegwarf.
Seinen Vater verlor er früh und erlebte, wie seine Mutter unter schweren psychischen Problemen leidet. In seinen Erinnerungen „Ein selbsterzähltes Leben“ (1927) schreibt er später „Meine Mutter malte weder, noch zeichnete, noch schrieb sie, aber sie war herrlich empfänglich für alle Wirklichkeit und wusste aus einem gesegneten Gedächtnis heraus von allen bitteren und heiteren Stücken zu erzählen, in denen die, die vor mir waren, sich bewährten oder versagten.“ In Hamburg besuchte er die Allgemeine Gewerbeschule und in Dresden bis 1895 die Königliche Akademie der Bildenden Künste. Nach Aufenthalten in Paris und Berlin brachte eine Russlandreise im Jahr 1906 die entscheidenden Anstöße für seine bildhauerische Arbeit und seinen eigenen Stil gab. Dass er zeichnen, modellieren, gestalten will, wusste er früh, aber seinen eigentlichen Ausdruck fand er erst, nachdem er 1906 einige Wochen seinen Bruder in Russland besuchte: Schon bei seinen ersten Arbeiten nach diesem künstlerischen Erlebnis, dem sitzenden "Steppenhirten", dem "Sitzenden Weib" oder der "Russischen Bettlerin", wird deutlich, dass er seinen eigenen Stil, seine eigene Form gefunden hat. Neben stillen und ernsten Skulpturen aus Holz und Bronze umfasst sein Werk auch Druckgrafiken, Zeichnungen sowie Romane und Theaterstücke wie "Der blaue Boll", "Die gute Zeit", "Der tote Tag" oder "Der arme Vetter". Die Welt und die Menschen begann er immer, von hinten zu sehen und empfand Linien als das Eigentliche und Wesentliche von Menschen. Er kam immer mit ein paar Zügen aus, „um sie zu erfassen und auszuschöpfen.“
1907 schloss Barlach mit dem Kunsthändler Paul Cassirer einen Vertrag ab, der ihm einige Jahre ein gesichertes Leben ermöglichte.
An Herbert Ihering schreibt Barlach am 13. Juli 1923: „Seit Jahren wünscht Cassirer von mir ein paar arme 100 Seite über die eigene Arbeit oder das eigene Leben, die ich bei wirklich besten Willen nicht bringen kann, nicht, daß ich mich nicht überwinden könnte und Dinge bekenne, die ich im Grunde lieber verschweigen möchte - es will einfach nicht in mir, es formt sich nichts, es soll nicht sein.“ Barlachs „Ein selbsterzähltes Leben“ (1927) ist aktuell, zusammen mit „Güstrower Fragmente“ im Marix Verlag erschienen.
Verleger Lothar Wekel verweist darauf, dass die Barlach-Ausgabe schon seit ungefähr fünfzehn Jahren im Programm ist – „und wie so oft wird ein lieferbarer Titel nicht mehr wahrgenommen, sodass diese Neuausgabe den Anstoß auch in der Presse gab, in diese besondere sprachliche Selbstdarstellung einmal wieder einzutauchen.“ Die Buchreihe marixklassiker, in der der Band jetzt erschienen ist, liegt ihm so sehr am Herzen, weil es eine hochqualitative Ausstattung zu einem extrem niedrigen Preis ist. „Es erinnert nicht nur daran, dass es Leser mit keinem hohen Einkommen gibt, sondern löst jede Menge Spontankäufe aus, bringt sozusagen sein Marketing selbst mit.“ Der Verlag muss sich mit einer geringen Marge zufriedengeben, ist sich aber bewusst, dass er so auch nachhaltig dazu beiträgt, „dass der eigenen Neugier gefolgt werden kann, und ein zweites drittes und viertes Thema gekauft wird.“
Über sein „verflossenes Dasein“, hätte Barlach, wie er später Karl Dehmann mitteilt, noch viel mehr schreiben können, aber er fühlte immer „eine Hemmung allzubreit vor der Öffentlichkeit meinen Privatkram auszupacken" (7.9.1929). 1909 ging Barlach zunächst als Stipendiat des Deutschen Künstlerbundes nach Florenz. Neun Monate lang hielt er sich im dortigen deutschen Künstlerhaus auf. Zu seinen Hauptwerken aus seiner Italien-Zeit gehören "Der Zecher" sowie die "Sternendeuter" I und II (stehend und sitzend).
1910 zog er zu seiner Mutter ins mecklenburgische Güstrow, wo er 28 erfüllte, aber zuletzt auch leidvolle Jahre verbrachte. Hier entstanden Holzarbeiten, darunter "Der Wanderer im Wind", "Lesende Klosterschüler", der "Fries der Lauschenden" und der berühmte "Schwebende Engel" - eine bronzene Skulptur, deren Erstguss verloren ist und von der heute drei Nachgüsse existieren. In seinem Atelierhaus in Güstrow werden seit 1978 in dem als Museum eingerichteten Haus Arbeiten Barlachs gezeigt.
1924 wurde Barlach mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet. 1925 wurde er Ehrenmitglied der Akademie der Bildenden Künste München. Anfang der 30er-Jahre begann für den Künstler eine traurige Zeit: Seine Werke gerieten zunehmend in die Kritik und wurden von Rechten als "entartet", „ostisch“, „kulturbolschewistisch“ und als „jüdisch“ bezeichnet (auch wenn er seine Abstammung belegen kann). 1937 wurden 381 seiner Arbeiten aus Museen und öffentlichen Räumen in Deutschland entfernt, darunter auch der "Schwebende Engel" aus dem Güstrower Dom und der "Geistkämpfer" in Kiel.
Auch seine Bücher wurden im gleichen Jahr verbrannt. Es folgte ein generelles Ausstellungsverbot. Sieben Tage vor Hitlers Machtantritt 1933 hielt er die Rundfunkrede gegen den Faschismus "Künstler zur Zeit". Seit dieser Zeit schrieb er mit innerer Zensur, denn er wusste, dass seine Post geöffnet wurde und wollte niemanden gefährden.
In den letzten Jahren erlebte er Hetze, Misstrauen, aber auch finanzielle Not und körperliche Gebrechen. Fliehen kam für ihn nicht infrage, denn er wusste nicht wohin. Am 24. Oktober 1938 starb er nach einem Herzinfarkt in einer Rostocker Klinik. Die Stadt Güstrow, die sich seit 2007 offiziell Barlachstadt nennt, machte ihn 2010 posthum zum Ehrenbürger. Die Ernst Barlach Stiftung präsentiert in verschiedenen Häusern in Güstrow den künstlerischen Nachlass des Bildhauers, Graphikers und Schriftstellers.
Zum 150. Geburtstag von Ernst Barlach ist eine kommentierte vierbändige Neuausgabe seiner Briefe erschienen.
Von etwa 2200 Briefen aus 90 Archiven, Museen und privaten Sammlungen werden hier mehr als 500 erstmals veröffentlicht. Initiiert wurde sie von der Ernst-Barlach-Stiftung Güstrow und dem Ernst-Barlach-Haus Hamburg, erarbeitet an der Universität Rostock. In den Briefen enthalten sind Gedanken, Zitate, Lesefrüchte, Bemerkungen zum Fortschreiten seiner Arbeit, vor allem aber auch Alltägliches, das uns den Menschen Barlach näherbringt. Barlach war alleinerziehender Vater – die ewige Sorge um den Sohn Klaus ist in allen Bänden spürbar. Mitte März 1913 schreibt er: „Jemand lebt und sorgt für uns, das halte ich so sicher und trostwarm bei mir, wie der Klaus sein unbewusstes, felsenfestes Vertrauen auf mich.“
Seit seinem 150. Geburtstag am 2. Januar 2020 twittere ich täglich bis 2. Januar 2021 ein Zitat aus seinen Briefen unter dem Hashtag #ErnstBarlach. Bedingt durch einen Krankheits- und Todesfall in der Familie, aber auch durch die Corona-Krise erhielt die tägliche Auswahl eine ganz andere Dimension, was auch an den Kommentaren und Retweets abzulesen ist. Jeder hat etwas für sich herausgelesen und auf die eigene Situation übertragen. Es ist mein Wunsch, dass diese 360 Zitate in Buchform erscheinen könnten, denn sie zeigen nicht nur, wie man mit Barlach durch das Jahr kommt, sondern auch durch die Krise.
„Was schwer scheint, muss gewürdigt werden, und die Weltgeschichte darf nicht an seinen Schweißtropfen vorübergehen.“ Ernst Barlach (1913)
Literatur:
Ernst Barlach: Die Briefe. Kritische Ausgabe in vier Bänden. Herausgegeben von Holger Helbig, Karoline Lemke, Paul Onasch und Henri Seel. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
Ernst Barlach: Ein selbsterzähltes Leben - Güstrower Fragmente. Marixverlag, Wiesbaden 2019.