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Mind-Wandering: Wohin uns der schweifende Geist führt

Wandern, Flanieren und Fahrradfahren sind mit dem Gefühl verbunden, sich aus der Dauererreichbarkeit auszuklinken und sich dem Schweifen des Geistes zu überlassen. Neurologen nennen dies „Mind-Wandering“.

Wenn der Geist auf Wanderschaft geht, wendet sich unsere Konzentration offensichtlich von gerade anstehenden Aufgaben ab. Das „behindert“ nach Ansicht von Arbeitsmedizinern und Psychologen insbesondere bei kognitiv anspruchsvollen Tätigkeiten die menschliche Leistungsfähigkeit. Die amerikanische Studie „A wandering mind is an unhappy mind“ aus dem Jahre 2010 bestätigte, dass die Teilnehmenden 47 Prozent der Wachzeit abgeschweift waren – bei der Arbeit am meisten. Ergebnisse wie diese unterstützen das oft unausgesprochene Vorurteil, dass konzentrierte und zielgerichtete Aufmerksamkeit einen höheren Wert habe als offene und spontane Wahrnehmung, der häufig das Stigma des Nutzlosen anhaftet. In Michael Endes phantastischem Roman „Momo“ werden „aschgraue Herren“ in grauen Anzügen mit bleigrauen Aktentaschen beschrieben, die Menschen einreden, nur noch Nützliches zu tun, um Zeit zu sparen.

Die einseitige Annahme, dass Aufmerksamkeit nur im Dienste von Problemlösungen oder zum Erreichen von Zielen notwendig sei, ist irrig, denn damit werde „die fruchtbare Neigung des menschlichen Geistes“ heruntergespielt, die Gedanken umherschweifen zu lassen. Konzentration und Abschweifen gehören für den Psychologe Daniel Goleman zusammen und führen zur Stabilisierung, Kultivierung und Beweglichkeit des Geistes. Wir sollten uns deshalb öfter gestatten, unseren Geist umherschweifen zu lassen: „Wir haben viel stärkere Flügel, als wir glauben. Wir wagen nur nicht, sie zu entfalten. Wir wagen nicht zu fliegen.“ (Luise Rinser)

Goleman verweist auf positive Auswirkungen wie kreative Ideen und Erfindungen. Zudem wird den Schaltkreisen im Gehirn für intensivere Konzentration eine Pause gegönnt. Tagträume sind also nicht „nutzlos“, sondern eine wichtige Unterstützung unserer Hirnareale. Wie der amerikanische Neurologe Jonathan Schooler ist auch Goleman der Meinung, dass der „wandernde Geist“ nicht immer vom Wesentlichen wegwandern und „abhängen“ will. Er kann sich auch auf etwas Wertvolles zubewegen.

Der schweifende Geist ist auch im Kontext der Nachhaltigkeit von Bedeutung, weil er „Szenarien für die Zukunft“ schafft sowie Selbstreflexion und die „Orientierung in einem komplexen sozialen Umfeld“ ermöglicht. Dazu braucht es eine offene Aufmerksamkeit, die uns veranlasst, Informationen aufzunehmen, die uns sonst im besten Wortsinn „entgehen“ würden. Der schweifende Blick geht haltlos über die Landschaft, er ist dezentriert, und alles wird zu Zwischenräumen, die wir heute umso mehr brauchen, weil sie uns Gelegenheit zur erfüllten Ruhe geben, in der wir uns als Gestalter unseres eigenen Lebens spüren. Der schweifende Geist kann allerdings nur wirksam werden, wenn sein Wert für das eigene Denken und Tun erkannt wird.

Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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