Minimalismus: Liegt der einzige Halt heute im Loslassen?
Minimalismus****ist heute untrennbar mit Themen wie Nachhaltigkeit, Klimaschutz und Solidarität mit Benachteiligten verbunden. Dass Menschen zu viele Dinge besitzen, wird in Berichten und Dokumentationen über das Messie-Syndrom sowie in der Netflix-Serie „Aufräumen mit Marie Kondo“ seit vielen Jahren kommuniziert.
Leihen statt Kaufen
Wer sein Leben minimalistisch gestaltet, lebt mit so wenig Konsum wie möglich und setzt auf Secondhand, Reparieren sowie Leihen statt Kaufen. Ein weiterer Grund dafür ist auch, dass die meisten heute so mobil, flexibel und beweglich wie möglich sein möchten. Die Amerikaner Joshua Fields Millburn und Ryan Nicodemus haben sich von fast all ihrem Besitz getrennt, um ein einfacheres Leben zu führen. Ihre Erfahrungen dokumentierten sie in ihrem Film „Minimalism“, der 2016 als bester Indiefilm ausgezeichnet wurde. Auch der Spielfilm „100 Dinge“ (2018) vom Regisseur und Schauspieler Florian David Fitz widmet sich dieser Thematik: Matthias Schweighöfer und er spielen zwei Berliner Start-Up-Unternehmer und Freunde, die sich auf eine Geldwette mit ihren Angestellten einlassen: Sie wollen 100 Tage ohne ihren „ganzen Kram“ aushalten. Ihre Wohnungen werden von den Kolleg:innen ausgeräumt, und ihr Besitz wird in einen Self-Storage-Raum gebracht. Täglich dürfen sie sich einen Gegenstand zurückholen. Sie beginnen, sich und ihre Beziehung zu ihren Dingen und zum Konsum zu hinterfragen: „Wenn ich Sachen kaufe, um glücklich zu werden, was heißt das dann im Umkehrschluss?“ – „Dass du nicht glücklich bist. Sonst würdest du einfach aufhören.“ Der Film basiert auf dem finnischen Dokumentarfilm „My Stuff. Was brauchst Du wirklich?“ (2015), in dem das Experiment über ein Jahr lang durchgeführt wurde. Auch hier geht es darum herausfinden, was wirklich wichtig ist. Für viele Menschen ist Minimalismus heute eine Chance, das eigene Leben wieder in den Griff zu bekommen sowie Überblick und Kontrolle darüber zu gewinnen.
Kein neues Phänomen
Für jüngere Generationen erscheint Minimalismus als neues Phänomen, das die Kultur in Deutschland verändert. Allerdings hat die Diskussion über Wohlstand, Besitz und menschliche Grundbedürfnisse eine lange Tradition, die im populären Diskurs nicht sichtbar ist. Der „Minimalismus-Reader“ eröffnet deshalb erstmals die Vielschichtigkeit des Phänomens durch verschiedene wissenschaftliche Perspektiven aus der Kulturanthropologie, Soziologie, Ethnologie, Kulturpsychologie, Katholischen Theologie, Ostasiatischen Kunstgeschichte und Designgeschichte. Er zeigt auch, dass religiöse Texte und Texte der griechischen Philosophie beeindruckende historische Quellen sind, die das Maßhalten diskutieren. In christlicher Tradition ist der Minimalismus abgeleitet von der Nachfolge Jesu, der nach dem Bericht des Lukasevangeliums 2,1–8 in Armut geboren wurde. Anschlussfähig an die christliche Tradition ist das Bemühen um einen einfachen und nachhaltigen Lebensstil. Die Vermeidung von falschen Abhängigkeiten und Bindungen an materielle Güter ist auch Gegenstand der Bergpredigt (Matthäusevangelium 6,19–20). Im Lukasevangelium wird dies mit der Frage nach der rechten Sorge verknüpft (Lukasevangelium 12,22–23.30b–33a).
Leider wird in aktuellen Debatten kaum darauf verwiesen, dass ärmere Menschen stärker auf Techniken wie Tauschen, Teilen und Reparieren angewiesen sind als wohlhabende. Für die Kriegs- und Nachkriegsgeneration – aber auch für viele Menschen, die heute in armen Verhältnissen leben – waren und sind das keine „Lifestyle-Entscheidungen“, sondern notwendige Überlebensstrategien. Herausgeberin Heike Derwanz ist Juniorprofessorin für die Vermittlung Materieller Kultur an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Seit 2018 erforscht sie in dem DFG-geförderten Projekt „Textilminimalismus. Pioniere nachhaltiger Praxis?“ die Alltagspraktiken deutschsprachiger Minimalist:innen. Als Produkt eines Workshops zu interdisziplinären Perspektiven auf Minimalismus ist der Band Teil des Forschungsprojektes „Textil-Minimalist:innen – Pioniere nachhaltiger Praxis?“ (2018–2021).
Weniger Haben – mehr Sein: Wie Menschen das Glück in ihr Leben lassen
Heike Derwanz (Hg.): Minimalismus. Ein Reader. transcript Verlag. Bielefeld 2022.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Nachhaltigkeit begreifen: Was wir gegen die dummen Dinge im Zeitalter der Digitalisierung tun können. In: CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. SpringerGabler Verlag. 2. Auflage. Berlin Heidelberg 2021.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Von Lebensdingen: Eine verantwortungsvolle Auswahl. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.